Der untere Lehmhof – Ein Familienbesitztum über zehn Generationen

Quelle: Jahrbuch der Stadt Wädenswil 1991 von Christian Renfer

Auf der ersten Hangterrasse unmittelbar oberhalb des Dorfes liegt der Lehmhof oder, wie er heute heisst, der Untere Lehmhof. Die Präzisierung Unterer Lehmhof ist so zu verstehen, dass die beiden markanten Wohnhäuser des Lehmhofes im unteren Teil des ehemals geschlossenen Hofareals liegen, während das restliche Gelände sich bis auf die nächste Geländeterrasse (Rötiboden) hinauf erstreckt und heute in Verbindung mit den dort im 19. Jahrhundert entstandenen Gebäulichkeiten als Oberer Lehmhof bezeichnet wird. Es ist also hier nicht so, dass die Flurbezeichnung «unter» und «ober» auf eine ältere Gutsteilung zurückgeht, aus der ein unterer und ein oberer Hof entstanden wäre. Die einzige Teilung des Lehmhofes im 17. Jahrhundert hat vielmehr die beiden Wohnhäuser im unteren Lehmhof selbst betroffen, als das zuvor ebenfalls der Familie Rellstab gehörende untere Haus (Vers.-Nr. 514) mit einem Teil des Hofareals an die Familie Blattmann überging. Somit existieren seit 1679 im Unteren Lehmhof ein oberer Hof Rellstab und ein unterer Hof Blattmann, deren Sässhäuser (Vers.-Nr. 514 und 515) heute noch eng beieinander liegen und zusammen mit den Nebengebäuden eine markante geschlossene Hofgruppe bilden, die bis nach der Jahrhundertwende ausschliesslich von Reben umgeben war und damals noch eindrücklicher als heute vom alten Einzelhof über dem Dorf zeugte.

DER ALTHOF BIS ZUM ÜBERGANG AN DIE RELLSTAB IM JAHRE 1615

Der Hof «uff Iein» oder «am leime» lässt sich bis ins Hochmittelalter zurückverfolgen. Am 14. Februar 1357 tauschte das Kloster Kappel seinen Lehmhof mit Weingarten und Reben « ... die man nemmet der Iein»1 um ein Gut im Herrlisberg. Als Tauschpartner und somit als neuer Erblehenbesitzer des Lehmhofes erscheint Peter Meier, Sohn des Burkhard Meier von Horgen, der zuvor den genannten Herdisberghof besessen hatte. Ohne dass man aus den Erwägungen von weiteren Gütern oder Gutsbesitzern des 14. und 15. Jahrhunderts auf einen abgrenzbaren Hof mit der Bezeichnung Lehmhof schliessen könnte, lässt sich die Spur der alten bäuerlichen Besiedlung auf der ersten Terrasse über dem Dorfe bis hinauf zum Furthof an der Flurbezeichnung verfolgen: 1391 «Iein»2, 1408 «uf Iein»3. Lein, Leim, Lei, Lett sind gleichlautende Mundartbezeichnungen für die lehmige, tonhaltige Beschaffenheit des Bodens. Sowohl Letten wie Lehmhof (oder Leihof wie er im Dialekt heisst) sind alte Wädenswiler Hofnamen. Noch vor 1400 scheint der Lehenhof «Uff Iein» in den Besitz der Johanniterkomturei Wädenswil übergegangen zu sein.
Hof «auff Ley». Ausschnitt aus der Karte des Kantons Zürich von Hans Conrad Gyger, 1667.
Aus dem 15. Jahrhundert sind einzelne Namen von Lehenbauern überliefert, so 1417 Cuoni Strub4 1454 Claus Kamb5 und 1487 Heini Buwmann. Mit dem Erblehensbrief vom 30. November 1487 für Heini Buwman fällt erstmals ein wenig Licht auf den Lehmhof6. Das Johanniterhaus verlieh dem Erblehenbewerber Buwmann, der den Hof bereits zuvor innegehabt hatte, das Bauerngut mit diesem Brief neuerdings für einen Grundzins von 5 Mütt und 3 Viertel Kernen, 7 ½ Schilling Zürcher Währung und zwei Zinshühner, also um eine jährliche Abgabe in Naturalien und Geld. Dieser Zins war verbunden mit der für die Nutzung von Weingütern typischen Halbpacht. Der Bewerber hatte den halben Weinertrag sowie die Hälfte des Weinzehnten abzuliefern. Dafür leistete die Komturei dem Bauern die Hälfte an die nötige Düngung (Mist) und die Erderneuerung in den Rehbergen (die Hälfte vom Bau, Gruben und wilder Erde, wie es im Brief heisst) sowie jedes dritte Jahr, sofern erforderlich, ein Fuder Schindelholz auf den Hof. Die Halbpacht, eine Aufteilung von Ertrag und Lasten auf Lehengeber und Lehennehmer, ist im spätmittelalterlichen Weinbau auch in anderen Landesgegenden üblich gewesen7. Wie in dieser Zeit nicht anders zu erwarten, geht aus dem Rechtsdokument noch kaum etwas über die eigentliche Beschaffenheit oder die Grösse des Hofes hervor. Mit floskelhafter Aufzählung von Haus, Hofstatt, Weinreben, Holz, Feld, Wunn und Weid wird ein Bauerngut umschrieben, welches wohl in dieser Zeit sowohl über Ackerboden, Viehweiden und Wiesen wie auch über Rehgelände verfügte. Ob das Gutsareal in sich geschlossen war, wie dies bei den alten Höfen am Wädenswiler Berg über Jahrhunderte die Regel war, oder ob hier im untersten Teil des Hanges verschiedene Besitzungen in einander verschachtelt waren – zumindest für die kleinformatigen Rehparzellen ist dies anzunehmen – geht aus dem Hofbrief von 1487 nicht hervor. Noch tappen wir also hinsichtlich des späteren Lehmhofes im dunkeln. Auch die Ortsbezeichnung «auf Lein gelegen, genannt im Geeren und Hassenbüchel» hilft für die effektive Lokalisierung des Hofes im 15. Jahrhundert nicht weiter. Dies gilt, genau genommen, auch für einen weiteren Erblehenbrief für einen Hof «Uff Iein». Als der für das Schloss tätige Küfer Wernli Blattmann, Bauer auf Unter Eichen (Zollingerhäuser oberhalb des Schlossgutes), welcher mit Elsi Widmer verheiratet war, 1559 auf den Lehenhof «uff Iein» zog, erhielt er 1564 von der Landvogtei (der Staat Zürich war seit 1550 in der Herrschaft Wädenswil Rechtsnachfolger der Johanniterkomturei geworden) einen neuen Erblehenvertrag, der auf den Hof ob dem Dorf «by Rutenen, von Altem har gnempt uff Iein» lautete8. Dieser Hof umfasste, soweit angegeben, zehn Tagwen Reben und ein Hofgelände für drei Kühe Sommer- und zwei Kühe Winterfutter sowie die Weide im Geeren und Reben im Letten. Während die Reben in einem alten Flächenmass (Tagwen) angegeben sind, welches ungefähr mit der jüngeren Jucharte (36 Aren) gleichgesetzt werden kann, lässt der Bezug auf das Ertragsmass von Viehfutter (Sömmerung/Winterung) kaum mehr als einen allgemeinen Vergleich mit anderen Höfen der Gegend zu. Ein Hinweis auf die Arealgrösse des Gutes ist daraus nicht abzuleiten. Ähnlich steht es mit der Lokalisierung. Noch sind keine topographisch oder iuristisch verbindlich fassbaren Grenzen des Hofes angegeben. Als Anstösser erscheinen in knappster Andeutung die Nachbarhöfe der Helbling (auf Lein), der Hauser (Mülibach) und die Reben des Richters Eschmann.
Doch mit Wernli Blattmann ist erstmals auch ein Lebensbild angedeutet: sein Umzug von Unter Eichen nach Lein in seiner Lebensmitte war bestimmt die gewichtigste Wegmarke, doch dürfte seine spätere Verarmung, welche sich vielleicht bereits in der Geldaufnahme von 1591 abzuzeichnen beginnt9. sicher aber anlässlich seines Todes im Jahre 1605 mit der amtlichen Feststellung «was nüzit verhanndem» aktenkundig wird10, sein Leben ungleich schwerer belastet haben. Mit dem Lehenbrief von 1564 / 68 setzen die amtlichen Akten für die folgenden hundert Jahre der Hofgeschichte aus, also ausgerechnet im Zeitraum, als die Besitzertradition der Rellstab auf dem Lehmhof beginnt. Einige private Dokumente, die sich in der Familie Rellstab erhalten haben, füllen jedoch die Lücke11. Im Jahre 1600 verkaufte Caspar Bachmann den Hof «auf Lei» an Bartli Boller12. Doch schon fünfzehn Jahre später gelangte der von Rüschlikon stammende Heinrich Rellstab in dessen Besitz13.

DER LEHMHOF ALS BESITZ DER FAMILIE RELLSTAB (SEIT 1615)

Die Familie Rellstab besass von 1615 bis 1679 den ganzen Lehmhof. Nach dem Verkauf der einen Hofhälfte an die Blattmann blieben sie bis auf den heutigen Tag Eigentümer des restlichen Gutes mit dem oberen Wohnhaus Vers.-Nr. 515, dem heutigen Haus Rellstab. Auf der Wädenswiler Karte von 1748 fehlt die Lokalität «Leihof», dagegen erscheint als Synonym dazu die Bezeichnung «Rellstaben Häusser»14.
«Rellstaben Häusser». Ausschnitt aus der Karte des Wädenswiler Quartiers von Johann Felix Vogler, Pfarrer in Richterswil, 1748.
 
So dürfte noch im 18. Jahrhundert die Erinnerung wach gewesen sein, dass die Rellstab einstmals den ganzen Hof besessen hatten und somit dieses Geschlecht damals den Lehmhof bestimmt hatte. In der Tat zeigen die Bevölkerungsverzeichnisse von 1643 bis 1723 ganz deutlich, dass sich die Rellstab im Dorf auf den Lehmhof konzentriert haben. Während eines Zeitraumes über zehn Generationen waren sie ausschliesslich im Lehmhof sesshaft, und zwar oft mit mehreren Generationen und Sohnesfamilien gleichzeitig15. Dagegen sind uns keine anderweitigen Hofübernahmen bzw. -gründungen durch diese Familie in der engeren oder weiteren Umgebung am See begegnet. Die Rellstab haben ihren Hofbesitz auch nie durch Erbteilungen zersplittert. Der Hof scheint sich seit dem 17. Jahrhundert ungeschmälert in der Hand des jeweiligen Inhabers erhalten zu haben. Vorübergehende Teilungen unter den Söhnen sind jeweils nach einigen Jahren durch Auskäufe und Abtretungen wieder aufgehoben worden. Ein solches Erbverhalten ist für ein selbstbewusstes Hofbauertum charakteristisch. Der ökonomische Zwang zur geschlechtererhaltenden Konzentration des liegenden Gutes hat denn auch das generative Verhalten der Einzelhofbauern über Jahrhunderte massgebend bestimmt.
Heinrich Rellstab, der Stammvater der Lehmhoffamilie, kaufte 1615 für 6050 Pfund das ganze Gehöft «auf Lei», bestehend in Haus, Öltrotten, zwei Schüren, Matten, Weid und Acker samt den Reben16. Der offensichtlich rasch zu Wohlstand gelangte Lehmhofbauer erwarb 1632 zu seinem Besitztum hinzu noch ein Haus im Löchli, welches später in seinem Nachlass neben dem eigentlichen Rellstab-Haus als Zweitliegenschaft erscheint17. 1646 verwickelte sich Heinrich Rellstab in die politischen Wirren des Wädenswiler Handels, jenes ungestümen, jedoch rasch unterdrückten Emanzipationsversuches der Landschaft zur Zeit des Schweizerischen Bauernkrieges18. Als einer der danach mit einer hohen Geldbusse Belegten gehörte Rellstab offensichtlich zur einflussreichen Führungsschicht dieses kurzlebigen politisch-sozialen Ringens zwischen Obrigkeit und Untertanenschaft in der Mitte des 17. Jahrhunderts. Noch 1652 war die Geldbusse Heinrich Rellstabs nicht beglichen19.
Nach der Überlieferung ist Heinrich Rellstab, der erste Lehmhofbauer seines Geschlechts, im Jahre 1660 gestorben20. Sein Nachlass bestand aus zwei Häusern, Öltrotte, Wiesen, drei Scheunen, Hanfland, Matten und Acker in der Grössenordnung von acht Kühen Sömmerung, vier Jucharten Reben und einem Stück Wald. Während der Hof an die Söhne Hans Heinrich, Rudolf und Hans ging, wurden die Töchter ausgekauft. Nach Hinweisen in Notariatsregistern des 19. Jahrhunderts muss 1665 eine Teilung zwischen Hans (geb. 1625) und Hans Rudolf (geb. 1638) stattgefunden haben, die jedoch aus irgendwelchen unersichtlichen Gründen wieder aufgehoben worden ist21. Zwei Jahre später, 1667, scheint das alte Sässhaus für zwei Söhne unterteilt worden zu sein22.
Eine Schuldverschreibung aus dem Jahre 1676 − es handelt sich um das erste notariell beglaubigte und eingetragene Dokument über den Lehmhof − nennt uns die Namen der damaligen Hofbesitzer. Als Schuldner treten Rudolf Rellstab-Höhn (geb. 1620) und Hans Rudolf Rellstab-Hottinger (geb. 1638) gemeinsam auf23. Als Grundpfand setzen sie ihr ganzes Sässhaus, die Hälfte der Wein- und Öltrotte, eine und eine halbe Scheune, ferner das ganze Land ihres Hofes mit Wiesen und Reben ein. Als Anstösser erscheint gleichzeitig ihr Bruder Hans Rellstab-Strickler (geb. 1625), dem offenbar in der väterlichen Erbausscheidung von 1660/67 die andere Hofhälfte zugefallen war. Drei Jahre später hat Hans Rellstab diesen Hof an Hans Blattmann-Isler veräussert, nachdem er (oder die Rellstabbrüder gemeinsam) hier noch ein neues Sässhaus, das spätere Blattmann-Baus (Vers.-Nr. 514) errichtet hatten24. Obschon also der Lehmhof in dieser Zeit besitzmässig bereits in zwei Hälften aufgeteilt war, aus denen in der Folge je ein separater Hof, jener der Rellstab und jener der Blattmann, hervorging, bewahrte die Familie Rellstab im Lehmhof ihren engen Zusammenhalt auf ihrem angestammten Familiengut.

Unterer Lehmhof. Bauernhaus Rellstab von Südosten, 1977.

Die Wohnverhältnisse im Lehmhof lassen sich für die Zeitspanne von 1634 bis 1723 anhand der Bevölkerungsverzeichnisse eingehend verfolgen25. Allerdings besteht für die Zeit des ersten Generationenwechsels um 1660 eine Lücke, weil zwischen 1654 und 1670 keine Bevölkerungszählungen stattgefunden haben. Im ältesten Verzeichnis von 1634 erscheint in der ersten Generation die Familie von Heinrich Rellstab-Sennhauser mit sechs noch unverheirateten Kindern auf dem Lehmhof26.

Familie Rellstab im Lehmhof, Wädenswil, 17.-20. Jahrhundert.

Familie Blattmann im Lehmhof, Wädenswil, 17.-19. Jahrhundert.


1647 tritt der älteste Sohn Hans Heinrich (geb. 1616) als zweiter Hausvorstand mit Frau und Kind neben die Familie seiner Eltern und jüngeren Geschwister27. 1654 hat auch Hans Heinrichs Bruder Hans (geb. 1625) geheiratet und neben den beiden Familien im Lehmhof einen dritten Hausstand gegründet28. Nach weiteren anderthalb Jahrzehnt sind die Eltern verstorben, und an Stelle der ersten Generation sind vier Familien der zweiten Generation getreten, nämlich jene von Hans Heinrich (geb. 1616) mit zwei Kindern, jene von Hans (geb. 1625), ebenfalls mit zwei Kindern, und schliesslich die noch kinderlosen Ehepaare ihrer Brüder Rudolf Rellstab-Hottinger (geb. 1620) und Hans Rellstab-Hottinger (geb. 1638). Insgesamt lebten 1670 zwölf Angehörige der Familie Rellstab im Lehmhof, darunter acht Erwachsene29.
1678 waren die vier Bruderfamilien immer noch zusammen30. Spätestens in diesem Jahr dürfte das zweite Wohnhaus auf dem Lehmhof errichtet worden sein. Wieweit die vier Brüder am väterlichen Hof noch teilhatten, ist unsicher, doch zeigt der weitere Gang der Entwicklung, dass der Hof in dieser Zeit aufgeteilt worden ist. Die Hälfte mit dem älteren Wohnhaus ging schliesslich ins alleinige Eigentum von Hans Rudolf Rellstab-Hottinger über und vererbte sich in seiner Familie über Sohn und Enkel weiter. Die andere Hälfte mit dem um 1678/79 neu erbauten Wohnhaus scheint Hans Rellstab-Strickler übernommen zu haben, der die Liegenschaft im Jahre 1679 an Hans Blattmann veräusserte. Im Abtretungsvertrag behielt sich jedoch der Verkäufer das Wohnrecht im Hause weiterhin vor31. So erscheinen bei der Bevölkerungszählung von 1682 schliesslich nur noch die beiden Familien des Hans Rellstab-Strickler und des Hans Rellstab-Hottinger im Lehmhof. Ebenfalls dort wohnte nun der neue Hofbesitzer Hans Blattmann-Isler, der nach dem Kauf der Liegenschaft aus seinem Elternhaus auf der Fuhr nach dem Lehmhof gezogen war32. Das Bevölkerungsverzeichnis von 1682 führt die Familie Blattmann mit sechs Kindern zwischen vier und zwanzig Jahren erstmals am neuen Wohnort auf33.
1689 wird Hans Rellstab-Strickler mit seiner Frau das letzte Mal in der Haushaltstatistik des Lehmhofes mitgezählt34. Nach 1708 wohnten hier nur noch die verbleibenden Besitzerfamilien der beiden Höfe35. Im oberen Hof war der alternde Hans Rudolf Rellstab (geb. 1638) mit seiner Frau Barbara Hottinger und die Familie seines Sohnes Hans Jakob Rellstab-Pfister (geb. 1680) zuhause. Im unteren Haus war die Situation ähnlich. Neben der Familie des Vaters Hans Blattmann-Isler, in der neben den Eltern noch zwei jüngere Söhne lebten, hatten sich auch der Sohn Heinrich Blattmann (geb. 1662) mit seiner Frau Elisabeth Knabenhans und vier Kindern eingerichtet. Das letzte existierende Bevölkerungsverzeichnis, das 1723 aufgenommen wurde, führt schliesslich im oberen Haus Jakob Rellstab Familie allein auf, während im unteren Haus zu Heinrich Blattmanns Familie bereits eine weitere Generation, jene des gleichnamigen Sohnes Heinrich Blattmann-Eschmann (geb. 1697), getreten ist36.
Die Bevölkerungsverzeichnisse sind, abgesehen von den verstreuten Eintragungen über die einzelnen Personen in den Pfarregistern, die einzigen Quellen zur Familiengeschichte der Rellstab im 18. Jahrhundert. Das Leben der wohlhabenden Hofbauern scheint in ausserordentlich geordneten Bahnen verlaufen zu sein. Anders lässt sich nicht erklären, dass von dieser Familie weder Erbteilungen noch Schuldverschreibungen oder Handänderungen in den amtlichen Notariatsakten erscheinen. Erst unter den geordneten Verwaltungsregeln des 19. Jahrhunderts lässt sich der Gang der Hofgeschichte wieder in Einzelheiten weiterverfolgen.

Silbervergoldetes Psalmenbuch von 1765. Besitz der Familie Rellstab, unterer Lehmhof.
 
Im Helvetischen Kataster, der ersten vollständigen Güterstatistik im Kanton Zürich, die 1801 aufgenommen wurde, sind die beiden Höfe «auf dem Leyhof» aufgeführt37. Hauptmann Hans Heinrich Rellstabs Liegenschaft umfasste nebst Wohnhaus mit eingebauter Trotte und Waschhaus sowie drei Scheunen ungefähr 28 Jucharten Land, wovon 7 Jucharten als Wiesen, 17 Jucharten als Weide 2 ½ Jucharten als Reben und 1 ½ Jucharten als Wald (Holzboden) bezeichnet sind und mit 18 490 Franken bewertet werden. Der benachbarte Blattmannsehe Hof war demgegenüber nur ungefähr halb so gross und entsprechend geringer bewertet.
 
Unterer Lehmhof. Bauernhaus Rellstab von Norden, 1977.

1821 starb Hauptmann Hans Heinrich Rellstab-Hottinger im Lehmhof, und das Gut ging an seine drei Söhne und die Tochter Elisabeth über.38 Der Umstand, dass sie einzige weibliche Erbin und unverheiratet war, mag dazu geführt haben, dass sie an der väterlichen Liegenschaft beteiligt blieb, anstatt sich auskaufen zu lassen. Dies war auch beim ledigen Bruder Johannes der Fall, der später nach Paris ging. Eine erste Bereinigung zeichnet sich 1825 ab, als die beiden genannten Geschwister ihrem Bruder Hans Kaspar zunächst den unter dem benachbarten Blattmannschen Hause liegenden Keller, der von jeher zur Rellstabschen Liegenschaft gehört hatte, verkauften39. In dieser Zeit zeigt sich anhand des Wädenswiler Brandkatasters von 1826 folgende ideelle Aufteilung der Hofgebäude40. Das Wohnhaus (Vers.-Nr. 255a/neu 515) mit eingebauter Trotte besassen je zur Hälfte Hans Kaspar und Johannes Rellstab, ebenso das Waschhaus (Vers.-Nr. 256/neu 516). In die Sennhütte (Vers.-Nr. 255f/neu 517) teilten sich Hans Kaspar und der älteste Bruder Hans Heinrich. Die drei Scheunen waren je einem der drei zugeteilt. Jene mit der Vers.-Nr. 255d, die 1832 abgebrochen wurde, gehörte Heinrich, jene mit der Vers.-Nr. 255c Johannes und jene mit der Vers.-Nr. 255e/neu 888 Hans Kaspar. 1836 erfolgte dann die endgültige Hofbereinigung, durch die Hans Kaspar Rellstab-Pfister alleiniger Eigentümer wurde. In diesem Jahr veräusserten ihm seine Geschwister Johannes und Elisabeth ihren oberen Hausteil nebst Anteil an Trotte, Sennhütte und Waschhaus, einen Schopf, 5 ¼ Jucharten Wiese, zwei Rebstücken und drei im Wädenswiler Berg liegende Riedparzellen.
Damit hatte sich der Übergang von der fünften zur sechsten Besitzergeneration im Rellstab-Hof in gewohnter Weise vollzogen. Nach einer ersten Erbausscheidung unmittelbar nach des Vaters Tod waren noch alle Erben, drei Söhne und eine Tochter, am elterlichen Hof beteiligt. In einem zweiten Schritt löste sich der älteste verheiratete Sohn Hans Heinrich Rellstab-Hauser. Nach einigen Jahren beschritten auch die ledigen Geschwister Elisabeth und Johannes den Weg des Auskaufs, womit der zweitälteste, ebenfalls verheiratete Sohn Hans Kaspar Rellstab-Pfister endgültig in den Besitz des elterlichen Hofes gelangte, den er damals bereits fünfzehn Jahre lang bewirtschaftet hatte und von da an noch weitere sechs Jahr allein besass, bis nach seinem Tode im Jahre 1842 seine beiden einzigen Söhne Hans Heinrich (geb. 1810) und Hans Kaspar (geb. 1815) das Erbe im wesentlichen unverändert antreten konnten. Die beiden teilten das väterliche Erbe 1858 in der Weise, dass der ledige Hans Heinrich seinem Bruder Hans Kaspar Rellstab-Hofmann das gesamte liegende Gut mit Wohnhaus, Trotte, Waschhaus, zwei Scheunen und Sennhütte sowie einem Hofareal von zirka 26 Jucharten Wies- und Rebland zusammen mit dem Rellstabschen Keller im Blattmann-Baus und dem Waldstück im Geeren abtrat41. Der angesehene Lehmhof-Bauer Alt-Gemeindepräsident Hans Kaspar Rellstab starb im Jahre 1899 und hinterliess das arrondierte Heimwesen im Lehmhof in der Grösse von 8 Hektaren 62 Aren (das sind ungefähr die 26 Jucharten der vorangegangenen Teilung) seinen vier Nachkommen. Die beiden Söhne Hans Kaspar und Rudolf Emil waren zusammen mit ihrer Schwester Elisabeth zu diesem Zeitpunkt auf dem elterlichen Hof, während der dritte Sohn Heinrich den Lerchenberg in der Gemeinde Erlenbach bewirtschaftete. Im folgenden Jahre übertrugen die Geschwister den gemeinsamen Hof ihrem Bruder Rudolf Emil Rellstab-Streuli (geb. 1853)42.
Hatte sich das Hofareal des Rellstabschen Lehmhofes in den vorausgehenden hundert Jahren in Grösse und Zusammensetzung kaum wesentlich verändert, was von einem existenziell gesicherten landwirtschaftlichen Besitz zeugt, der alle strukturellen Wandlungen des 19. Jahrhunderts unbeschadet überstand, so lassen sich dem gegenüber an den Hofgebäuden bestimmte Anpassungen an die betrieblichen Erfordernisse der Zeit ablesen. Das alte Doppelwohnhaus des 17. Jahrhunderts ist in seiner zur Giebelseite ausgerichteten Anlage mit der symmetrischen Doppelhausfassade bis heute im wesentlichen unverändert geblieben. Es hat jedoch im 19. Jahrhundert auf der Talseite einen dreigeschossigen gemauerten Quertrakt mit regelmässiger Befensterung erhalten. Der alte gewölbte Keller unter dem Hause wird seit 1843 im Brandassekuranzlagerbuch gesondert aufgeführt. In der Erbausscheidung von 1900 wird dieser Hauptgebäudekomplex Folgendermassen umschrieben43: Ein Wohnhaus mit gewölbtem Keller und einem Anbau und Presslokal-Zimmer, Schopf und Turbine (alles unter der Vers.-Nr. 516/alt 255a); ein separates Waschhaus oberhalb des Hauses (Vers.-Nr. 516/alt 255b); eine alte Sennhütte (Vers.-Nr. 517/alt 255f), welche seit 1864 als Kellergebäude benutzt wurde. Von den ehemals drei Scheunen, die 1826 je an einen Sohn verteilt worden waren, wurde die eine (Vers.-Nr. alt 255d) 1832 abgebrochen. Die zweite (Vers.-Nr. 255c) brannte 1880 ab. So blieb als eigentliche Hofscheune schliesslich noch jene mit der alten Vers.-Nr. 255e, welche unter der neuen Nummer 888 im Vertrag von 1900 erscheint und damals bereits mit einer Hocheinfahrt versehen war. Noch immer bestand das alte Eigentum am mittleren Keller im untern Haus. In diesem Umfang konnte Nationalrat Rudolf Emil Rellstab-Streuli seinen gesamten Besitz im Jahre 1922 an seinen einzigen Sohn Paul Rellstab-Merkli (geb. 1893) übergeben44.

Der Untere Lehmhof von Nordosten, mit noch unüberbautem Umgelände bergseits der Fuhrstrasse. Die Scheune in der Bildmitte steht heute oberhalb der Speerstrasse, zwischen Töbeliweg und Rötiboden. Aufnahme um 1935.
 
Mit der Hofübertragung von 1922 sei hier ein letzter Gutsbeschrieb des Rellstab-Hofes aufgeführt. Paul Rellstab, der Vater des heutigen Eigentümers, erwarb den väterlichen Lehmhof mit 8 Hektaren 80 Aren 55 Quadratmeter Grundfläche und vier Hofgebäuden, nämlich dem Wohnhaus Vers.-Nr. 515 mit Anbau, Schopf, Presslokal und gewölbtem Keller, der Hofscheune Vers.-Nr. 888, dem Waschhaus Vers.-Nr. 516 ob dem Haus und dem Kellergebäude Vers.-Nr. 517 mit Schopf und umgebendem Garten- und Hofstattareal von 87 Aren Grösse. Zum Besitz gehörte nach wie vor auch der mittlere Keller im Nachbarhaus Vers.-Nr. 514, das damals im Besitze von Frau Anna Hauser-Keller war.
Abschliessend dürfen wir zu den Besitzungen der Rellstab im Lehmhof feststellen, dass diese als alter Familienbesitz über zehn Generationen ungeteilt weitervererbte bäuerliche Liegenschaft eine ungewöhnliche Konstanz aufweist. Ein Bauerngut mittlerer Grösse hat durch solide Bewirtschaftung und kluge Voraussicht seiner angesehenen Besitzer, welche über Generationen auch bedeutende politische Ämter innegehabt haben (Geschworener, Sittenrichter/Schulpfleger, Gemeindepräsident und Nationalrat in der direkten Generationenabfolge des 19. Jahrhunderts) solange Bestand gehabt, wie eine landwirtschaftliche Nutzung des Gutes in dieser Gegend überhaupt möglich war.

Nationalrat Emil Rellstab-Streuli, 1853-1922, Landwirt auf dem Unteren Lehmhof.

DER LEHMHOF ALS BESITZ DER FAMILIE BLATTMANN 1679-1832

Am 10. Brachmonat 1679 erwarb Hans Blattmann, Sohn des Kaspar Blattmann und der Anna Huber auf der benachbarten Fuhr, von Hans Rellstab-Strickler einen Teil des Rellstaben-Gutes im Lehmhof45. Dazu gehörte insbesondere das untere Wohnhaus, «so nöüw erbauwen» mit drei Kellern (wobei sich Rellstab den mittleren für seine Familie vorbehielt) sodann Kraut- und Baumgarten, Matten und Weid, eine halbe Hofscheune und zwei Rebparzellen, alles beieinander liegend und an die Liegenschaft der Rellstab angrenzend. Ausserdem erwarb er den in einem Pferdestall mit Heubühne und einem Schopf bestehenden Anteil an einer abseits in der Matte stehenden Scheune, an deren Unterhalt er sich beteiligte. Zwei weitere Parzellen, ein Wiesenstück und ein Stück Wald (Holzboden) waren ebenfalls im Kauf inbegriffen. Fahrhabe, Vieh und Mobiliar werden besonders aufgeführt, so zwei Kühe, ein Rind, ein Kalb, 37 Eimer (Hohlmass) an Fässern, einige alte Fässer, etwas Fassholz, zwei Käse, zwei Sensen, Zaunholz, zwei Zuber, eine Tanse (Traggefäss für Trauben und Obst), zwei Leitern, das Fasslager im Keller sowie alles Senn- und Menugeschirr (Geräte für Viehwirtschaft und Ackerbau). Im Haus war ein neues Stubenbufett mit Wandbett («Gutsehen und Puffet») vorhanden. Nachbarrechtliche Absprachen über die Überfahrt beim Säen und besondere Bestimmungen ergänzten die Kaufabsprache. So durfte der Käufer keine Hühner halten (!), und der Verkäufer behielt sich für drei Jahre ein entschädigungsloses Wohnrecht im Hause, die Obstlese an den Bäumen vor dem Haus und die Mitbenutzung des Webstuhls, welcher sein Eigentum bleiben sollte, sofern er mehr als zehn Jahre Wohnrecht im Hause ausüben würde, vor. Seinen Viertel Anteil an der Wein- und Öltrotte der Gebrüder Rellstab übertrug der Verkäufer ebenfalls an Blattmann. Der um 3700 Gulden abgeschlossene Gutskauf wurde mit dem Beistand von Richter Hans Ulrich Eschmann auf der Rellstaben- und von Weibel Hans Steffen auf der Blattmannseite vereinbart und erhielt so das gebührende amtliche Gewicht. Wie aus späteren Gutsbeschreibungen zu ersehen ist, umfasste der neue Blattmann-Hof ungefähr einen Drittel des ursprünglichen Rellstaben-Gutes46.

Unterer Lehmhof. Trottgebäude von 1753, erbaut durch Heinrich Blattmann.
 
Im Trottgebäude steht die Trotte von 1753.
In den Putz eingelegte Rotackersteine.

Über die frühen Wohnverhältnisse der zugezogenen Blattmann-Familie auf dem Lehmhof haben wir uns schon früher geäussert. 1689 lebte der mit Anna Isler aus Richterswil verheiratete Hans Blattmann noch mit sechs unverheirateten Kindern (der älteste Hans Heinrich war immerhin bereits 27jährig) im Hause47. 1708 war die Sohnsfamilie dazugestossen48, und 1723 schliesslich lebten bereits die zweite und dritte Generation, mit je fünf Familienangehörigen, zusammen49. Wie bei der Familie Rellstab erscheinen auch bei den Blattmann zu keiner Zeit Dienstboten in den Statistiken, wie dies auf anderen Höfen der Fall war. Wenn man aber in Rechnung stellt, das im Jahre 1723 von den zehn Mitgliedern des Blattmannsehen Hausstandes sieben über 16 Jahre alt und damit im wesentlichen volljährig waren, so begreift man, dass auf diesem mittelgrossen Hof damals genügend Arbeitskräfte zur Verfügung standen.

Die Bewohner des Unteren Lehmhofes nach dem Bevölkerungsverzeichnis von 1634 bis 1723.


Im Jahre 1739 kaufte Schützenmeister Heinrich Blattmann-Eschmarrn ein Stück Reben ob dem Dorf für 900 Gulden50 und 1749 (im Jahre seiner Wiederverheiratung) für 1550 Gulden eine weitere Rebparzelle und ein Stück Wiese von einer Jucharte Grösse51. Schliesslich liess er, der als Lehmhofbauer der dritten Generation wirtschaftete, 1753 oberhalb seines Hauses gegenüber dem Rellstab-Haus das heute noch bestehende stattliche Trotthaus (Vers.-Nr. 513) errichten, welches als eines der letzten noch jetzt die alte Baumpresse beherbergt und damit in der heutigen Zeit zum wertvollen Kulturdenkmal geworden ist. Das im Sockel gemauerte, darüber geriegelte einräumige Ökonomiegebäude ist am Türsturz mit H 1753 B bezeichnet und erinnert damit an den Erbauer, Schützenmeister Heinrich Blattmann.
Trotte im Unteren Lehmhof. Türsturz von 1753 mit Initialen von Heinrich Blattmann.
 
Dieser starb 1759, im selben Jahr wie seine zweite Frau Elisabeth Sträuli.
Unter den drei Kindern aus erster Ehe scheint danach Hans Kaspar Blattmann (geb. 1720) die Hofnachfolge angetreten zu haben. Dieser hatte zwei Jahre zuvor Elisabeth Höhn geheiratet und von den 14 Kindern, die seine Frau bis 1775 auf die Welt bringen sollte, waren bereits ein Sohn und eine Tochter geboren, als Grossvater Heinrich starb52. Rechtsdokumente über diese Erbfolge sind keine erhalten. Erst jene der folgenden Generation ist im Grundprotokoll eingetragen. 1787 kauften die Gebrüder Heinrich (geb. 1768), Johannes (geb. 1770) und Hans Jakob (geb. 1778) ihre vier Schwestern Elisabeth, Anna, Anna Barbara und Susanna für das väterliche und mütterliche Erbgut aus53. Auch in diesem Fall waren die Eltern kurz nacheinander gestorben, Hans Kaspar 1786 und seine Frau im folgenden Jahr. Kurz darauf teilten die Söhne Heinrich und Johannes den elterlichen Hof, nachdem sich auch ihr Bruder Hans Jakob hatte auszahlen lassen54. Anlässlich dieser am 7. April 1787 vorgenommenen Erbausscheidung erfährt man, dass damals zum Blattmannschen Besitz ausser dem Lehmhof noch eine weitere Liegenschaft gehörte. So konnte Heinrich, der ältere, den Blattmannsehen Lehmhof übernehmen, währen Johannes mit dem neu erbauten Haus «am Platz» bei der Kirche abgefunden wurde, zu welchem ein neu erbautes Wohnhaus, ein Farbhaus, eine neu erbaute Trotte und das alte Haus mit Scheune gehörte.
 
Unterer Lehmhof von Süden. Postkarte aus dem Jahre 1913.

Waschhaus Vers.-Nr. 516.
Käsekeller Vers.-Nr. 510.

Der Lehmhof war ein ungleich grösserer Besitz. Die stattliche Gebäudegruppe mit dem alten Blattmannsehen Sässhaus, der ihm gegenüber stehenden Trotte mit Trottwerk, dem neu erbauten, etwas abseits stehenden Käsekeller, der Sennhütte und zwei Scheunen war von einem abgerundeten Hofareal mit Garten, Wiesen, Weideland und einem Stück Reben umgeben. Die Grösse des Güterkomplexes wird im Teilbrief nicht angegeben. Lediglich der zum Hof gehörende Streubesitz, bestehend in einer Matte, einer weiteren Rebparzelle, zwei Waldstücken und einem grossen Ried sind durch Ortsbezeichnung und Grössenangabe näher umschrieben.
Heinrich Blattmann-Theiler war knapp 20 Jahre alt, als er den elterlichen Hof übernahm. Unter der alten Ordnung trat er ihn an, und unter dem Ancien Regime erfüllte er auch seine ersten politischen Aufgaben als Zunftrichter. Doch auch unter der neuen Ordnung hatte der fähige Bauer als Gemeindepräsident von Wädenswil ein wichtiges politisches Amt inne. Drei Jahre vor seinem Tod ordnete der Fünfundfünfzigjährige zusammen mit seiner um ein Jahr älteren Frau Anna Theiler seine Nachfolge auf dem Hof. Unerklärlich bleibt dabei die Tatsache, dass er sich offensichtlich zuvor erfolglos bemüht hatte, den Lehmhof auf öffentlicher Gant (Gutsversteigerung) zu veräussern, obschon zwei seiner Söhne nicht bzw. kaum mündig waren.
Bleiben die familiären Motive im dunkeln, so ist erst recht nicht zu verstehen, dass nun der zweitälteste Sohn so unvermittelt zum Zuge kam und das Gut mit Vertrag vom 17. Juni 182355 für 16 000 Gulden vom Vater übernahm. Hans Kaspar Blattmann-Sauter (geb. 1790) zahlte nur die Hälfte des Kaufpreises in bar. Für den Rest wurden ihm Gülten (Kapitalschuldbriefe) in der Höhe von 8500 Gulden überbunden. Ausserdem entrichtete er der Mutter ein Trinkgeld von 40 Gulden, den drei Brüdern je 10 und den drei Schwestern ebensoviel. Der Vater überliess dem Sohn für 2002 Gulden Fahrhabe und Gerätschaften, wobei diese Summe im Kaufpreis inbegriffen war.
Gemeindepräsident Heinrich Blattmann (1768-1826) auf dem Unteren Lehmhof. Zeichnung eines Unbekannten.

Zum Kauf gehörten auch Heu, Stroh, Mist, Wagen- und Küferholz, Bausteine und Schindeln, Truhen, Spreu- und Kornkästen, zwei Bettstellen mit Inhalt, vier Wagen und acht Nutzschlitten mit Pferdegeschirren, Reitzeug und Chaisengeschirr, Gerstenstampfe, Metzschragen, Heuleitern und schliesslich zwei Männer- und zwei Frauensitzplätze in der Kirche, allesamt numeriert und so der Familie vorbehalten. Die freiwillige Gutsübertragung war selbstverständlich mit der Absicherung eines Wohnrechtes für die Eltern verbunden: lebenslang genügend Statt und Platz in seinem Haus, um abgesondert zu wohnen und zwar: die obere Stube, die Nebenstube, Platz in der Küche, die obere Stubenkammer, den Keller unter eigenem Dach um den jährlichen Zins von 50 Gulden.
Bloss acht Jahre hatte der dreiunddreissigjährige Jungbauer danach noch zu leben, fünf Jahre länger als sein Vater. Die Mutter Anna Theiler aber überlebte mit 79 Jahren sogar die Schwiegertochter, welche den Lehmhof 1832, ein Jahr nach dem Tode ihres Mannes, mit Einwilligung der Waisenhauskommision verkaufte, obschon eine ganze Reihe unmündiger Kinder im Hause waren, von denen der älteste Sohn Hans Heinrich Blattmann-Theiler gerade erst das 16 Altersjahr erreicht hatte56. Dieser wurde später Spengler und gründete 1838 einen eigenen Hausstand hinter dem «Hirschen». Noch in seinem Todesjahr 1826 verschuldete sich der damalige Gemeinderat Hans Kaspar Blattmann-Theiler mit der beträchtlichen Summe von 3000 Gulden57. Ob die auf dem Hof lastenden Grundpfandschulden Anlass dazu gewesen sind, dass die Witwe Anna Blattmann-Sauter sechs Jahre später zum Verkauf des Hofes schritt, vermögen wir bloss zu vermuten. Jedenfalls übernahm Hans Jakob Keller von Gossau mit dem Kauf des Lehmhofes am 9. Juni 1832 Schuldbriefe im Wert von 10 700 Gulden, angerechnet an den Kaufpreis von 13 050 Gulden58. Dabei war die Liegenschaft gemäss Gutsbeschreibung identisch mit jener, wie sie 1823 der Vater Heinrich Blattmann-Theiler besessen hatte59.

«Leimhof» und «Leimgasse» auf einem um 1820 gezeichneten, unsignierten Plan des Dorfes Wädenswil. Im Vordergrund der Friedhof an der Oberdorfstrasse (heute Sportanlage Eidmatt).
 
Am Ende der hundertfünfzigjährigen Geschichte des Lehmhofes im Besitze der Familie Blattmann zeigte sich das Bauerngut in folgendem Zustand: An Hofgebäuden waren vorhanden das alte Sässhaus (Vers.-Nr. 254a/neu 514), eine Sennhütte (Vers.-Nr. 254b/512, 1855 zum Waschhaus umgebaut) ein Trotthaus mit Trotte (Vers.-Nr. 254c/neu 513, wohl 1753 errichtet), eine Scheune mit darunterliegendem Keller (Vers.-Nr. 254e/neu 511) sowie zwei am Wohnhaus und an der Trotte angebaute Schweineställe. Garten und Hauswiese mit 3 Vierling Reben umgaben die Gebäude im Lehmhof. Das eigentliche nutzbare Wies und Ackerland (12 Jucharten Matten und 7 Jucharten Acker) erstreckten sich oberhalb des Hofplatzes. In diesem Areal standen auch zwei Scheunen (Vers.-Nr. 254f/neu 892 und 254/neu 893). Der zusammenhängende Landkomplex grenzte im wesentlichen an den Rellstab-Hof, mit dem er ursprünglich zusammengehört hatte. Nun sind aber noch weitere Parzellen aufgeführt, die zwar an unterschiedlichen Orten lagen, aber zum Teil ebenfalls eine gemeinsame Grenze mit Rellstab-Besitz aufwiesen. Es waren dies drei Rebparzellen, eine Wiese, zwei Gehölze und ein grosses Ried mit einer Weidscheune. Letzteres lag auf Chülpen bei Schönenberg.

Der «Leyhof» auf dem Wädenswiler Zehntenplan von Geometer Rudolf Diezinger, 1830.
 

Der «Lehmhof» auf einem Plan der Gemeinde Wädenswil, 1911. In der Bildmitte der Untere Lehmhof, am oberen Bildrand der «Obere Lehmhof».

Zuletzt möchten wir die Arealgrösse des Blattmannschen Lehmhofes im Jahre 1832 mit jener im Jahre 1801 vergleichen:

1801 1832
(Helvetischer Kataster)60 (Kaufbrief)61
   
1 Haus 1 Haus
1 Nebengebäude 1 Kellergebäude
1 Sennhütte 1 Sennhütte
3 Scheunen 3 Scheunen
3 Juch. Wiese 13 Juch. Wiese
7 Juch. Weide 7 Juch. Acker
1 Juch. Reben 3 Juch. Reben
1 Juch. Holz 1 Juch. Holz
  4 Juch. Ried
   
total zirka total zirka
12 Jucharten 28 Jucharten

 

Auch wenn aufgrund der bloss bedingten Aussagekraft zweier kaum direkt miteinander vergleichbarer statistischer Unterlagen (eine generelle Zählung aus der Zeit der Helvetik mit einem rechtsverbindlichen Notariatsdokument der dreissiger Jahre) Vorsicht geboten ist, so scheint sich der Blattmannsche Besitz im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts doch erheblich vergrössert zu haben, ganz im Gegensatz zu jenem des benachbarten Rellstab-Hofes, der durch das ganze 19. Jahrhundert hindurch unverändert geblieben ist. Beide Höfe wurden in jener Zeit in ähnlicher Weise gemischtwirtschaftlich betrieben, Wiesen und Weideland dienten der Milchwirtschaft und Viehzucht, der Weinbau war die ortsübliche Ergänzung dazu. Im Wädenswiler Berg wurde seit dem 17. Jahrhundert starkes Gewicht auf Milchwirtschaft gelegt62. Die Milch wurde bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts in hofeigenen Käsereien (Sennten) verarbeitet, weshalb zum Betrieb jeweils eine Sennhütte und ein Käsekeller gehörten. Seit der Mitte des 19. Jahrhunderts wurden diese Hofkäsereien durch die genossenschaftlichen Zusammenschlüsse überflüssig. Die Gebäude selbst trug man in der Folge entweder ab, oder man führte sie einer andern Nutzung zu (Waschhaus, Keller). Vom Ackerbau hören wir bei der Rellstab-Liegenschaft nichts. Beim Blattmann-Besitz erscheinen in den 1820er und 1830er Jahren jeweils auf dem grössten Grundstück neben den 13 Jucharten Wiesland noch 7 Jucharten Ackerboden. Es scheint sich hier um ein dafür ausgesprochen geeignetes Gelände gehandelt zu haben. Des weiteren sehen wir, dass der Rellstab-Hof ein in sich geschlossenes Areal von mehr als 26 Jucharten bildete, während der Blattmann-Hof im 19. Jahrhundert zwar ebenfalls ein grösseres zusammenhängendes Wirtschaftsareal von zirka 19 Jucharten umfasste, daneben aber (je nach Leseart) noch 8 bis 9 Streuparzellen von einer halben bis zu vier Jucharten Grösse aufwies. Beide Höfe waren in der Mitte des 19. Jahrhunderts ungefähr gleich gross.

Unterer Lehmhof. Bauernhaus Blattmann von Südosten, vor dem Umbau im Jahre 1939.
Unterer Lehmhof. Bauernhaus Blattmann von Osten, nach dem Umbau von 1939, mit freigelegtem Riegelwerk in der Giebelfassade.

Unterer Lehmhof. Situation der als Schutzobjekte von regionaler Bedeutung eingestuften Bauten.

DER BLATTMANNHOF IM BESITZE DER FAMILIE KELLER

Die Familie Keller besass den Lehmhof ziemlich genau hundert Jahre, nämlich von 1832 bis 1938. Am 21. September 1863 ging die Liegenschaft im Erbgang an die Nachkommen von Jakob Keller-Zollinger63. Die Tochter Anna Aschmann-Keller, welche auf dem Hof wohnte, erhielt das väterliche Miterbe im Miteigentum, zusammen mit ihren beiden Brüdern Jakob und Johannes Keller, während die Gattin Barbara Keller-Zollinger die Nutzniessung zugesprochen erhielt. 1879 wurde Jakob Keller durch Erbauskauf alleiniger Eigentümer64. 1898 regelten auch dessen Kinder ihre Erbfolge mit einem Abtretungsvertrag65. Anna Keller erliess ihrem Bruder ihr Miteigentum am Lehmhof, nämlich das Wohnhaus Vers.-Nr. 514, das Waschhaus mit gewölbtem Keller Vers.-Nr. 512, das Kellergebäude Vers.-Nr. 510, die Trotte mit Trottwerk und Schopfanbau Vers.-Nr. 513 und drei Scheunen mit den Vers.-Nrn. 511, 892 und 893. Von einem Anteil an Kulturland ist nicht die Rede. Bei der Teilung von 1863 waren es, beim selben Bestand an Gebäuden, 22 Jucharten Wiesen, Acker und Reben gewesen, wobei das Hofareal im wesentlichen arrondiert war und zur Hauptsache am Hang über dem Lehmhof lag66.
Als Jakob 1909 ohne Erben starb, wurde seine Schwester Anna Hauser-Keller Eigentümerin des Lehmhofes67. Ihre Erben verräusserten68 den Besitz 1938 an Willi Blattmann, welcher das altehrwürdige Wohnhaus des ehemaligen Blattmann-Hofes 1939 durch den Architekten Hans Fischli in damals zeitgemässen Heimatstilformen umbauen liess69. Die Ausstattung aus dieser Zeit ist heute noch vorhanden und zeugt, wie das Umbaukonzept selbst, von ernsthafter gedanklicher Auseinandersetzung mit dem überkommenen architektonischen Erbe70.




 Dr. Christian Renfer


Anmerkungen

StAZ = Staatsarchiv Zürich
GP = Grundprotokoll
1 StAZ, C II 5 Nr. 40 vom 14.2.1357
2 StAZ, C II 11 Nr. 543 von 1391
3 StAZ, C I Nr. 2821 und 2845 von 1408
4 StAZ, C II 14 Nr. 47 vom 25.5.1417
5 StAZ, C II 15 Nr. 150 vom 3.6.1454
6 StAZ, C II 15 Nr. 8 vom 30.11.1487
7 Moser Andres, Weinwirtschaft und Landsitz am Jurafuss. Eine Übersichtsskizze. In: Unsere Kunstdenkmäler 36. Jg. (1985) Heft 2, S. 170ff
8 StAZ, C II 14 Nr. 146 von 1564/68 und F II a 428, S. 39f
9 Fretz Diethelm, Die Blattmann, Bd. I, Zürich 1934, S. 178–180
10 Wie Anm. 9
11 Die Einsicht in die Dokumente war während der Niederschrift des Manuskriptes nicht möglich. Ihr Inhalt wird deshalb nach dem Artikel von Albert Hauser in der «Zürichsee-Zeitung» vom 2.2.1972 zitiert. Nach Aussage von Frau Garo-Rellstab sind die Dokumente noch in der Familie.
12 Wie Anm. 11
13 Wie Anm. 11
14 StAZ, Plan 0 73, Wädenswil er Quartierkarte von Pfarrer Felix Vogler
15 Die Auswertung der e rh alten en Bevölkerungsverzeichnisse von 1634 bis 1723 gibt darüber ein klares
Bild (vgl. beiliegende Übersichtsgrafik)
16 Wie Anm. 11
17 Wie Anm. 11
18 Wie Anm. 11
19 Wie Anm. 11
20 Wie Anm. 11
21 StAZ, B XI Wädenswil 24, Registerband zu den Grundprotokollen. Eintrag aus dem 19. Jahrhundert (Originalnachweis fehlt)
22 Wie Anm. 11
23 StAZ, B XI Wädenswil 2, GP Bd. 2, S. 278 von 1676
24 StAZ, B XI Wädenswil 2, GP Bd. 2, S. 35 1c vom 10.6.1679
25 StAZ, Bevölkerungsverzeichnisse E II 700.116, Wädenswil 1634–1723
26 StAZ, E II 700 .116, 1634, pg. 129 (Untermosen)
27 Ebenda, 1647, pg . 379
28 Ebenda, 1654, pg. 37 (Untermosen)
29 Ebenda, 1670, pg. 261
30 Ebenda, 1678, pg. 375
31 Wie Anm. 24
32 Ebenda, 1682, pg. 31 (Rötiboden)
33 Wie Anm. 32
34 Ebenda, 1689, pg. 215
35 Ebenda, 1708, pg. 785
36 Ebenda, 1723, pg. 199
37 StAZ, K I 237, Helvetischer Kataster von 1801, pg. 27, Nr. 220 (Heinrich Blaumann) und pg. 28, Nr. 221 (Hauptmann Rellstab)
38 Vgl. Stammtafel Rellstab. Die Erbfolge ist nicht im Grundbuch eingetragen; vgl. Anm. 39
39 StAZ, B XI Wädenswil 19, GP Bd. 19, 655 vom 6.9.1825
40 Stadtarchiv Wädenswil, VI B 59.3, Brandkataster von 1826, Bd. 2
41 Notariat Wädenswil, GP Bd. 5 (1855ff), S. 439 vom 20.11.1858
42 Notariat Wädenswil, GP Bd. 28 (1899ff), S. 158 vom 22.5.1900
43 Wie Anm. 42
44 Notariat Wädenswil, GP Bd. 41 , S. 196 vom 21.6.1922
45 StAZ, B XI Wädenswil 2, GP Bd. 2, pg. 351c vom 10.6.1679
46 Wie Anm. 45
47 StAZ, E II 700.116, 1689, pg. 193
48 Ebenda, 1708, pg. 747
49 Ebenda, 1723, pg. 159
50 StAZ, B XI Wädenswil 5, GP Bd. 5, pg. 424a vom 25.2.1739
51 StAZ, B XI Wädenswil 6, GP Bd. 6, pg. 196 vom 4.6.1749
52 Vgl. Stammtafel Blattmann
53 StAZ, B XI Wädenswill 2, GP Bd. 12, pg. 227 vom 7.4.1787
54 StAZ, B XI Wädenswill 3, GP Bd. 13, pg. 427 vom 7.4.1787 / 4.11.1791
55 StAZ, B XI Wädenswill 9, GP Bd. 19, pg. 574 vom 17.6.1823
56 StAZ, B XI Wädenswil 21, GP Bd. 21, pg. 127 vom 9.6.1832
57 StAZ, B XI Wädenswil 20, GP Bd. 20, pg. 435 von 1826
58 Wie Anm. 56
59 StAZ, B XI Wädenswil 19, GP Bd. S . 574 vom 17.6.1823
60 Wie Anm. 37
61 Wie Anm. 56
62 Renfer Christian, Die Bauernhäuser des Kantons Zürich, Bd. I, Basel 1982, S. 155f
63 Notariat Wädenswil, GP Bd. 7 (J863ff), S. 266 vom 21.9.1863
64 Ebenda, GP Bd. 18 (1878ff), S. 686 vom 15.12.1879
65 Ebenda, GP Bd. 27 (1897ff), S. 213 vom 29.4.1898
66 Wie Anm. 63
67 Notariat Wädenswil, GP Bd. 35, S. 328 von 1909 / 1912
68 Notariat Wädenswil
69 Gutachten Nr. 11-1990 der kant. Denkmalpflegekommission vom 17.1.1991 über die Gebäude Vers.-Nrn. 513, 514 und 510 im Unteren Lehmhof (Archiv der kant. Denkmalpflege)
70 Das Haus «zum unteren Leihof» in Wädenswil. In: Das Werk 27 (1940) Nr. 9, S. 253–258, mit Abbildungen.