Ein Kompass für den Jugendbuch-Urwald

Quelle: Jahrbuch der Stadt Wädenswil 1978 von Fritz Brunner
 

Wädenswil als Ausgangsort einer kulturellen Pionierleistung

Die Schweiz liegt auf dem Lande», schrieb der im Zürcher Oberland aufgewachsene Lehrer und Dichter Albin Zollinger in seinem Roman «Pfannenstiel». Mit diesem bildhaften Ausdruck wies er auf die wertvollen Unternehmungen vor allem auf kulturellem Gebiet hin, die immer wieder von der Landschaft ausgehen; im Fall unserer Betrachtung von Wädenswil.
1958, vier Jahre nach dem in Zürich gegründeten Schweizerischen Bund für Jugendliteratur (als Landessektion des 1953 in Zürich erstandenen Internationalen Kuratoriums für das Jugendbuch), wagte die Zürcher Kantonsgruppe unter der zielbewussten Leitung von Arnold Lüthi, Wädenswil, die Herausgabe des deutsch-schweizerischen Jugendbuchverzeichnisses «Das Buch für Dich». Seit 20 Jahren erhalten die Schüler vom 1. bis 9. Schuljahr in unserem Kanton diesen bebilderten Führer für den Weg zu den besten alterseigenen Jugendbüchern. Durch fortgesetzte Verbesserungen und Initiativen schlossen sich später die meisten Kantone der deutschen Schweiz an.
Was das heisst, die wachsende Bücherflut zu meistern, gegen 500 Titel aus Tausenden von Neuerscheinungen auszuwählen, dazu eine ähnliche Zahl aus dem wertbeständigen Lesegut früherer Jahre zu bestimmen, sollte in Elternkreisen immer mehr erkannt werden. Jugendbuchkenner, Lehrer, Schriftsteller, Bibliothekare und Buchhändler arbeiten fruchtbar zusammen. Die Eignung eines Buches für ein bestimmtes Alter ist entscheidend, nicht die Verlockung farbenprächtiger, teurer Verlagsprospekte!
Der deutsche Ansturm verlangt unsere Besinnung allein schon auf die sprachlichen Einflüsse, wenn Ausdrücke sich häufen, wie verpetzen, die Butzen zeigen, die Humpel, Macke, jobben, ran, doof, dufte, die oft schon in Geschichten für das erste Lesealter vorherrschen, für die unsere Kleinen aber bestimmt nicht «goldrichtig in die Kurve gehen». Die ehrenamtlich wirkende interkantonale Arbeitsgemeinschaft ist aufgeschlossen der sich verändernden Welt gegenüber, aber ebenso sich bewusst, dass es Grenzen gibt gegenüber Büchern, die nur aus Gewinnabsichten auf den Markt geworfen werden. Es ist glücklicherweise heute noch wahr, was Herder gesagt hat: «Kinder sind heilig Horchende.» Es lohnt sich daher für Eltern und Lehrer, sich Jahr für Jahr mit diesem Jugendbuchführer zu befassen, denn das gute, dem Alter entsprechende Buch ist nach wie vor ein bedeutender Bildner und Miterzieher.
Aus dieser Erkenntnis ist 1928 das Schweizerische Jugendschriftenwerk entstanden. Zwölf Hefte verlockten die Kinder in einer Zeit wuchernder Schundliteratur unter der Jugend. Heute hat das in der ganzen Welt bisher einzigartige Lesewerk bald 1500 Titel erreicht.
Einzigartig in aller Welt ist auch das jährliche Verzeichnis «Das Buch für Dich» der Zürcher Kantonsgruppe für Jugendliteratur. In keinem Land bringen gemeinnützig wirkende, am Verkaufserfolg nicht beteiligte Jugendbuchkenner und Jugendfreunde ein Heft über gehaltvolle, anziehende Bücher in einer Auflage von über 300‘000 heraus. Ein Blick in Kioske zeigt, dass der Kampf gegen neue Formen untergeistiger Massenware weitergehen muss. Buchtexte, wie «Vito hat beschlossen, Fanuci zu töten», finden wir ähnlich in Dutzenden von Neuerscheinungen. Immer ungehemmter gebärden sich vor allem die Texthinweise auf den Umschlagsblättern deutscher Jugendzeitschriften. So stand auf dem Titelblatt einer Nummer von «ran», einem Massenblatt aus Köln, in Grossdruck unter einem verführerischen Mädchengesicht in drei Spalten:

Wie man Hilfe! Kopfprämien
Polizisten Ich bin für
fertig macht. schwanger. jedermann.

«Die Eltern waren ahnungslos» heisst eine Lichtbilderreihe, mit welcher der Österreichische Buchklub der Jugend wirbt. − Das von Wädenswil ausstrahlende Jugendbuchverzeichnis verkennt nicht das Spannungsbedürfnis der Jugend. Knappe Hinweise auf den Inhalt weisen unter jedem Titel auf die Besonderheit hin, auch auf stille, wertvolle Bücher, die sich nicht ohne weiteres durch einen reisserischen Titel ins Blickfeld rücken. Wo ein Lehrer durch eine Besprechung dieses Verzeichnisses in der Klasse mithilft, die verschiedenen Neigungen seiner Schüler aufzuspüren, gibt er den Weihnachtswünschen der Jugend entscheidende Anstösse. Er lässt sie erkennen, wie in den Büchern für das erste Lesealter Humor und geheimnisvolles Träumen besonders hervortreten, später dramatische Erzählungen von tapferen Menschen, darunter auch von Kindern, in den Vordergrund rücken, Geschichten von Not und Gefahr, die unbewusst auf die Seele des Kindes einwirken, denn das Kind setzt sich beim Lesen unwillkürlich an die Stelle einer bewunderten, geliebten handelnden Gestalt in der Erzählung. Dies erfahren Eltern besonders glückhaft, wenn sie sich selber ab und zu mit einem Jugendbuch befassen und ihrem Kind so eine ersehnte Aussprache über ein Buch ermöglichen.
Der Redaktor unseres Verzeichnisses «Das Buch für Dich» begnügte sich aber nicht mit dem Erfolg in den meisten Kantonen. Ein paar Jahre nach der Erstausgabe rief er die Zürcher Kantonsgruppe für das Jugendbuch zur Schaffung des Jahrbuches «Das Buch, Dein Freund» auf. Für 1978/79 ist für die Unterstufe bereits die 15. Ausgabe erschienen. Dieses Einlesebuch wechselt Jahr für Jahr ab zwischen der Unter- und Mittelstufe der Primarschule und enthält Text- und Bildproben aus besonders hervortretenden Büchern. Wie lebendig Kinder und Eltern sich oft auf dieses 64- bis 96-seitige Buch stürzen, zeigt die Erfahrung, dass nach der Ausgabe in der Schule in einer Zweigstelle der Pestalozzi-Bibliotheken in Zürich ein gleicher Titel oft an einem Abend ein halbes Dutzend Mal verlangt wird. In einer Zürcher Landgemeinde wurde das Jahrbuch für die Unterstufe irrtümlicherweise vier vierten Klassen verteilt. Als die falsche Abgabe erkannt wurde, weigerten sich Schüler und Eltern hartnäckig, das wertvolle Buch wieder zurückzugeben, eher wollten sie es kaufen.
In einer dritten, von Wädenswil ausgehenden Initiative soll 1979 das erste Jahrbuch für die Oberstufe «Information Buch» erscheinen unter dem Leitthema «Entdecken, Erforschen − einst und jetzt». Namhafte Beiträge von Pro Patria und Migros-Genossenschaftsbund an die Gesamtkosten von 80‘000 Franken ermöglichen der Kantonsgruppe Zürich für das Jugendbuch auch dieses Wagnis. Die Beiträge der Verleger sind wie bei den andern Unternehmen gering, denn die interkantonale Arbeitsgemeinschaft mit Redaktor Fredy Fischli, Wädenswil, wahrt sich auch hier die unabhängige Gestaltung. Wenn im November 1978 der erste Jugendbuch-Ausstellungswagen der SBB − wieder eine Initiative der Kantonsgruppe − in Wädenswil eintrifft, dürfen die Bewohner mit besonderer Freude spüren, dass von diesem Gelände aus ein guter Wind für die innere Förderung unserer Jugend bläst.




Fritz Brunner