Eine Berufslehre in Wädenswil

Quelle: Jahrbuch der Stadt Wädenswil 1989 von Hans Kaiser

Erinnern Sie sich noch an Ihre eigene «Stifti»? Zum Beispiel an den berühmten ersten Arbeitstag, an dem der Ernst des Lebens beginnen sollte, an die guten Ermahnungen der Eltern, an das steife, neue Übergwändli und an das mulmige Gefühl in der Magengrube? Oder aber an die vielen Ereignisse während der Lehrzeit, die für Sie zu einer eigentlichen Lebensschule wurde?
Für die meisten von uns wird das Thema «Berufslehre» dann wieder aktuell, wenn unsere Kinder vor dem Ende der Schulzeit stehen und eine Lehrstelle gesucht werden soll. Abgesehen aber von der je nach Lebenssituation brennenden bis kaum mehr bemerkbaren Aktualität hat die Berufslehre eine Bedeutung, die es rechtfertigt, dass man sich über dieses Thema informiert und sich Gedanken macht.
Der nachfolgende Beitrag enthält im ersten Teil einige allgemeine Gedanken zur Berufslehre und zeigt in einem zweiten Teil den Ablauf der betrieblichen Ausbildung der Elektroniker-Lehrlinge in der Standard Telephon und Radio AG, der Firma in unserer Region mit der grössten Anzahl Lehrlingen.

Allgemeine Gedanken zur Berufslehre

Fast drei von vier Jugendlichen absolvieren in der Schweiz eine Berufslehre. In den letzten fünfzig Jahren hat sich der Anteil der Lehrlinge gemessen an der Gesamtzahl der Erwerbstätigen, von rund 3 Prozent auf 6 Prozent verdoppelt. Dies zeigt, dass die Berufslehre ganz erheblich an Bedeutung gewonnen hat, und dass der Anteil der Schüler, die keine Lehrstelle finden können oder wollen, immer kleiner wird. Die Berufslehre, das darf heute mit gutem Recht gesagt werden, ist zu einem wichtigen und erfolgreichen Glied unseres schweizerischen Bildungssystems geworden. Mit dem Berufsbildungsgesetz vom Jahre 1978 hat sie eine gesetzliche Grundlage erhalten, die realistisch ist und sich auch bezüglich der angestrebten Bildungsziele sehen lassen darf.
Das war nicht immer so. Auf die ersten institutionalisierten Berufslehren stösst man bei den Handwerkerzünften und Klöstern des 14. Jahrhunderts. Sie blieben dann einige Jahrhunderte lang, mit einigem Auf und Ab, eine Angelegenheit der in Zünften organisierten Handwerksmeister. Gesamthaft gesehen ist festzuhalten, dass die Lehrlingsausbildung in den Zünften einen hohen Stand aufwies, die Zahl der Lehrlinge jedoch klein war und sich praktisch auf Knaben beschränkte.
Kurz vor der letzten Jahrhundertwende stand auch die Schaffung staatlicher Lehrwerkstätten zur Diskussion. Der Schweizerische Gewerbeverein entschied sich aber für die Beibehaltung der Meisterlehre.
Feilen gehört nach wie vor zum Rüstzeug eines guten Elektronikers.

Löten will gelernt und gebübt sein.

Die Industrie hatte anfänglich nur einen geringen Bedarf an Berufsleuten, die sie aus den handwerklich ausgebildeten, ehemaligen Lehrlingen des Gewerbes rekrutieren konnte. Erst am Anfang des 20. Jahrhunderts begannen einzelne Grossbetriebe, vor allem der Maschinenindustrie, Lehrlinge auszubilden und Lehrwerkstätten mit vollamtlichen Lehrmeistern einzurichten. Die rasante Entwicklung der Technik hat dann die Berufsausbildung für die Industrie immer mehr zu einer lebenswichtigen Frage werden lassen. Der Anteil an beruflich qualifizierten Leuten wird in den modernen Industriefirmen immer grösser, während der Anteil an an- und ungelernten Leuten immer kleiner wird.
Aus der Überlegung, dass das Zeichnen für Handwerker eine wichtige Fertigkeit ist, wurden in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts in Genf, Basel und Zürich sogenannte Zeichnerschulen eröffnet. Das war der Anfang der heutigen Berufsschulen. Eine zweite Wurzel der Berufsschulen waren die in der Mitte des 19. Jahrhunderts entstandenen allgemeinen Fortbildungsschulen. Die Fortbildung im Schreiben und Rechnen stand im Mittelpunkt dieser Schulen. Der Unterricht fand an Abenden und am Sonntagmorgen statt.
So auch in der Kaufmännischen Berufsschule Wädenswil. 1897 wurde hier die erste Verordnung für den obligatorischen Schulbesuch der Lehrlinge in Kraft gesetzt. Der 21. März 1975 war dann der letzte Schultag dieser Schule. Die Kaufmännischen Lehrlinge der Wädenswiler Firmen besuchen heute die Kaufmännische Berufsschule in Horgen.
Bis in dieses Jahrhundert war die Lehrlingsausbildung ohne staatliche Krücken. Sie war weitgehend auf private Förderung angewiesen. So wurde 1902, von Kreisen, welche die zunehmende Bedeutung der Berufslehre erkannten, der Verband Schweizerischer Lehrlingspatronate gegründet. In einer Resolution, an der Tagung vom 25. September 1915, forderte dieser Verband:
1. Eine wirksame Elternfürsorge durch die Schaffung von sachkundigen Berufsberatungsstellen und Bereitstellung erhöhter Stipendienkredite
2. Eine umfassende Lehrlingsfürsorge, unter anderem auch durch Versicherung aller Lehrlinge gegen Unfall und Krankheit
3. Eine wohlüberlegte Förderung der einheimischen Produktion
4. Erlass eines Bundesgesetzes zwecks zeitgemässer Regelung und finanzieller Unterstützung des Lehrlingswesens. Änderung der Arbeitsweise der Schule im Sinne vielseitigerer Betätigung der Hand.
Die Gemeinde Wädenswil wurde zweimal schriftlich eingeladen, dem Verband beizutreten. In einem Brief vom 6. April 1916 erklärte dann der Gemeinderat den Beitritt als Kollektivmitglied, mit einem Jahresbeitrag von 20 Franken.
Heute haben wir für unsere Mädchen und Burschen in der Region Wädenswil ein Angebot von fast 100 Lehrberufen. Eine gut ausgebaute Berufsberatung in Horgen hilft bei der Berufswahl und der Lehrstellensuche. Die Kaufmännische und die Gewerblich-Industrielle Berufsschule in Horgen vermitteln eine zeitgemässe Fachausbildung und eine gute Allgemeinbildung. In Freifächern können die Lehrlinge eine ihren Neigungen entsprechende Weiterbildung betreiben. Der Unterricht findet schon lange nicht mehr am Abend und am Sonntagvormittag statt, sondern an ein bis zwei Arbeitstagen pro Woche.
Viele kleine und grosse Firmen bemühen sich redlich um eine gute und zeitgemässe Ausbildung ihrer Lehrlinge, wohlwissend, dass diese Saat einmal ihre Früchte tragen wird, Früchte, auf die wir angewiesen sein werden.
Unsere Jungen können mit dem Personal Comupter umgehen.

Messtechnik − eine der wichtigsten Arbeiten des Elektronikers.
 

Ausbildung der Elektroniker-Lehrlinge

Am Beispiel der grössten Lehrfirma am Platz − der STR − soll nun ein Einblick in die betriebliche Berufsausbildung eines modernen Industriebetriebes von Wädenswil gegeben werden:
Die Standard Telephon und Radio AG, STR, ist ein Unternehmen der Nachrichtentechnik mit rund 2100 Mitarbeitern, davon sind 110 Lehrlinge. Die Administration und die Entwicklungsabteilungen befinden sich in Zürich, die Fabrikation in Wädenswil-Au und die Lehrlingsausbildung in Wädenswil-Giessen. In folgenden Berufen werden Lehrlinge ausgebildet:
Elektroniker, Elektronikmonteur, Maschinenmechaniker, Maschinenzeichner, Kunststofftechnologe, Kaufmännische Angestellte.
Die Berufsausbildung in der STR kann als ein triales Bildungssystem bezeichnet werden. Das heisst, die Ausbildung der Lehrlinge findet an drei, nach Möglichkeit kooperierenden, im grossen und ganzen aber doch voneinander unabhängigen Lehrorten statt. Es sind dies:
 
Die Berufsschule
Sie vermittelt die zur Ausübung des Berufes erforderlichen theoretischen Grundlagen und fördert die Allgemeinbildung.
 
Die Lehrlingsabteilung
Sie vermittelt die praktischen Berufskenntnisse und -fertigkeiten. Sie bereitet den Lehrling auf die produktive Mitarbeit vor.
 
Die Praxis
Bei produktiver Mitarbeit in Werkstätten, Prüffeldern, Labors und Büros wird das Gelernte angewendet und gefestigt
Ein Elektroniker prüft im Systemtest das Funktionieren einer Anlage.

Computer-Numerical-Control. Hirnen und Programm erstellen.


Programm eintippen.
Folgsam und exakt erfüllt die Fräsmaschine das Programm.
Man erkennt, dass die Aufgaben dieser drei Lehrorte recht verschieden sind. Ihre Bedeutung, aber auch ihre zeitlichen Anteile an der ganzen Lehrzeit, sind praktisch gleich gross. Diese moderne Berufsausbildung strebt eine solide und breite Grundausbildung an, die den ausgelernten Berufsmann befähigt, den erlernten Beruf kompetent auszuüben, und die zugleich eine seriöse Grundlage für die berufliche Weiterbildung ist. Das Programm der betrieblichen Ausbildung der Elektroniker-Lehrlinge zeigt in groben Zügen, wie eine solche Ausbildung in der Lehrfirma verläuft.
Eine Berufslehre in Wädenswil − dies ist der Titel dieses Beitrages. Er will ein Stück Geschichte und Gegenwart der Berufslehre in Wädenswil bekannt machen. Er will aber auch zeigen, dass die Berufslehre eine vorzügliche Ausbildung und eine gute Vorbereitung unserer Jugend auf die Berufswelt von morgen ist.




Hans Kaiser