Erinnerungen eines Langrütler Schulmeisters

Quelle: Jahrbuch der Stadt Wädenswil 1982 von Hermann Schweizer

Kürzlich überraschte mich ein lieber einstiger Schüler mit Vergrösserungen von Ausschnitten einer Schulfoto von 1930. Neben dem jungen Schulmeister lächelt der Spender als freundliches, schmächtiges Bürschlein. Die Maitli und Buben, angelehnt an den Hag des Schulplatzes Langrüti, waren meist Bauernkinder, oder ihr Vater arbeitete als Handwerker oder in der Industrie. Diese Jugend wusste noch wohin mit ihrer überschüssigen Kraft. Viele mussten morgens und abends im Stalle werken, beim Grasen, Heuen und bei den Erntearbeiten helfen. Die Mutter war besorgt, dass sich ihre Sprösslinge vor der Schule wuschen und das Stall- mit dem Schulgewand tauschten. Das Schulhaus, im Zentrum der Sektion gelegen, war für alle der Treffpunkt, auch zu Völker- und Handballspielen vor und nach dem Unterricht.
4. bis 6. Klasse Langrüti, Frühling 1930.

Die Schule war für die Kinder nicht der einzige Lebensinhalt, sie waren nicht nur lernbrave Schäflein. Das Leben musste in die Stunden hineingezogen werden. Zählen und Rechnen mit selbstgemachten Banknoten zog mehr als trockene Zahlen. Mit Wähen und Schokoladetäfelchen war das Bruchrechnen anschaulicher. Gewicht und Preise der Früchte, Milchleistung einer Kuh, Viehpreise Erträge der Kartoffel- und Getreideäcker gingen ans Leben, besonders in den Kriegsjahren.
Beim Schulhaus auf der prächtigen Terrasse hoch über dem Zürichsee lag die Heimatkunde förmlich vor den Fenstern. Aufstieg und Niedergang der Sonne konnten zu jeder Jahreszeit vom Schulplatz aus beobachtet werden, nur musste der Lehrer im Sommer schon vor 5 Uhr bereit sein, den ersten Schatten des Sprungständers auf dem Turnplatz einzuzeichnen. Von der Windenluke oder beim Widenholz galt es festzustellen, wo die Sonne unterging. Am kürzesten Tag stachen die ersten Strahlen genau hinter dem Vrenelisgärtli hervor. − Mit der Zürcher Karte in der Hand liessen sich von der Anhöhe viele Zürcher, St. Galler, Schwyzer und Glarner Berge bestimmen und auf ein Panorama zeichnen. Die Kühe und Pferde unseres lieben Nachbarn konnten wir auf der Weide betrachten und zeichnen, auch gelbe Löwenzahnwiesen, Obstbäume im Blust oder in den Herbstfarben und Tannen und Sträucher im Raureif. Reifende Getreidefelder lagen ganz nah, und Widen- oder Gerenholz boten an heissen Sommertagen Gelegenheit zur Kenntnis der Waldbäume und Sträucher und deren Früchte oder zum Erleben eines passenden Gedichtes oder Liedes. − Einst hatte sich ein Fuchs auf den Turnplatz verirrt, in der Morgenfrühe rief einmal ein Kuckuck vom Barren. In den Gärten begegneten wir drolligen Igeln. Ab und zu setzten zu unserer Freude Rehe und Hasen über die Wiesen. In den dreissiger Jahren wanderten die Viert-, Fünft- und Sechstklässler von der Langrüti bis auf den Etzel und zurück oder auf den Rossberg, zum Dreiländerstein auf dem Höhronen und zum Gottschalkenberg und zur Sihl hinab. Später benützten wir das Postauto bis Hütten und abends ab Schönenberg. Voll Freude erspähte einst ein Fünftklässler vom Rossberg aus durch seinen Feldstecher die Schüler der Unterstufe auf dem Langrütler Schulplatz beim Spielen. Bei klarem Wetter entdeckten wir auf Ferienwanderungen unser Schulhaus auch vom Pfannenstiel, Bachtel und Chli-Aubrig aus. In den Sennhütten am Etzel, bei Hütten oder gar auf der Bösbächialp sahen wir beim Käsen zu.
Ausblick vom Widenholz gegen Höhronen und Gottschalkenberg. Federzeichnung von Hermann Schweizer.

Die Schule auf 640 m Höhe war vom See weit weg, doch sobald das Wetter und die Wassertemperatur es erlaubten, marschierten wir nach einer Sprachstunde über den Grundhof- und Töbeliweg zur Seebadanstalt. Die Viertklässler wurden erst mit Wassergewöhnungs-Übungen getummelt und durften sich dann auf dem Sonnenbad erholen. Die Grössern versuchten zu schwimmen, wobei uns der Badmeister mit Korkgürteln und Schwimmbrettern aushalf. Wer vier Runden im tiefen Abteil geschwommen war, hatte die Seeprobe bestanden, durfte mit dem Lehrer zum Floss hinausschwimmen und die Badi von aussen betrachten. Vor dem Heimgehen hatte er einen Nussgipfel zugut. Besonders beliebt war die Baderei vor und nach der Chilbi wegen der vielen Buden und Reitschulen. Gern schwammen wir auch im Bachgadenweiher mit dem von Tannen und Gebüschen umsäumten Ufer. Hin und wieder badeten wir im Moorwasser des Hüttnersees.
Da eine Turnhalle fehlte, blieb im Winter das Geräteturnen aus, doch Langrüti-, Herrlisberg- und Waggitalstrasse dienten als Schlittelweg. Mit Fassdauben und Skiern tummelten wir uns an den Halden beim Schulhaus, beim Lang- oder Gerenholz; auch Sprungschanzen wurden gebaut. Die Kinder mit weitem Schulweg erwarben sich ein gutes Langlauftraining und schnitten bei den Furthofrennen meist sehr gut ab.
Oft fegten in harten Wintern die Schneestürme gewaltig um die Schulhäuser und verwehten die Langrütistrasse, dass tagelang keine Fahrzeuge hinaufkamen. Mein Kollege und ich mussten mehrmals mit den Skiern den kleinen Schülern den Heimweg spuren. Wie gerne kehrte man dann in die Geborgenheit des Schulhauses und der warmen Stube zurück und sah bei einer Tasse heissem Tee zu, wie draussen der Schnee die Scheiben vermauerte.
Das Langrütler Schulvölklein bot ein interessantes Gemisch. Neben den bekannten Seebuben- und Zürchernamen tauchten Geschlechter aus allen Innerschweizer Kantonen, aus der Ost- und Nordostschweiz und dem Bernbiet, dem Bündner Oberland und dem Puschlav auf. Da waren Bedächtige, Unternehmungslustige und Hitzige am gleichen Gespann mit Humor und Festigkeit zu zügeln. Reformierte und Katholiken konnten Toleranz üben, sie wussten um die Unterschiede, aber achteten sich gegenseitig.
Eine wichtige Rolle spielte hier die Schulweihnacht. Wie ergänzten sich da alte deutsche Lieder mit urwüchsigen und auch zarten Gesängen aus dem Muotatal, dem Luzernbiet und Aargau. Allen lag das Gelingen des Krippenspiels, einer dramatischen Weihnachtsgeschichte oder der Zeller-Weihnacht am Herzen. Vor dem Auftritt staffierte die Lehrersfrau in der Wohnung oben die Maria, den Josef, die Engel, die Weisen, Negerlein usw. aus. Die Hirten brachten einfach ihre Stallblusen und Stäbe mit. Gegen hundert Schüler und ebenso viele Erwachsene lauschten dem Geschehen. Die Darsteller und die Schulzimmerwände schwitzten. Wenn es nach Tannenzweigen, Kerzen und frischen Eierzöpfen roch und die Kinder glücklich ihre Päcklein in den Händen hielten, spürten wir beim Singen des «O du fröhliche ... » besonders gut, wie wir alle zusammengehörten.
Der Schulsilvester mit seinem Geschelle von grossen und kleinen Glocken und Treichlen, dem Getute von Hörnern und Tschättern von Pfannendeckeln und dem Aufblitzen von
Taschenlampen von morgens 5 Uhr an, das Singen und Bewirtetwerden in manchen Häusern und zuletzt in der Schule bleibt allen, auch unsern eigenen Buben, ein urchiges Erlebnis.
Die Langrütler Schülerzahlen schwankten stark. Die grosse Kinderschar nach der Jahrhundertwende war die Ursache, dass 1906 neben dem altehrwürdigen Schulhaus von 1835 das untere erbaut wurde. Seither ist die Unterstufe im obern, die Mittelstufe im neuen Schulhaus beheimatet. Nach 1935 und 1965 erreichten die Schülerzahlen ein Maximum. In solchen Zeiten war das Boot wirklich voll. Zum Glück waren auch immer gute Zugrösslein in diesen grossen Klassen. Dann aber errichteten die Schulbehörden ab 1938 und 1968 zur Entlastung der überladenen Abteilungen für mehrere Jahre eine dritte Lehrstelle für die Dritt- und Viertklässler.
5. und 6. Klasse Langrüti, Frühjahr 1943.

Zur Freude aller Langrütler entstand 1966 im Schulpavillon ein ganztägiger Kindergarten. Früher hatte der Pestalozziverein Wädenswil während Jahrzehnten jeweils im Winterhalbjahr eine Kleinkinderschule im Herrlisberg betreut.
Über 40 meist tüchtige Oberseminaristen und Kandidaten des Umschulungskurses wirkten zu meiner und der Schüler Freude mit Begeisterung als Praktikanten an meiner Schule. Sie dienten besonders mit den Viert- und Fünftklässlern ihre Sporen ab, während ich nach Möglichkeit die Sechstklässler drillte. Die Kandidaten waren oft Begleiter auf den Schulreisen, oder sie halfen bei der Durchführung eines Orientierungslaufes oder eines Turnfestchens mit.
Amalie Widmer, meine langjährige Kollegin und spätere Stifterin des Widmerheims für Chronischkranke in Horgen, wirkte von 1914 bis 1951 an der Unterstufe Langrüti. Das Alleinsein im alten Schulhaus, die grossen Schülerzahlen, die Krisen- und Kriegszeiten stellten oft grosse Anstrengungen an sie, aber sie behielt zeitlebens ihren guten Humor.
Jedesmal, wenn der Einzug einer neuen Lehrkraft bevorstand, fragte man sich: Wie wird es nun gehen? Aber mit allen Kolleginnen und Kollegen, welche mit mir die LangrütIer geschult haben oder es heute noch tun, ebenso mit den Abwartsleuten und den Nachbarn, verband uns stets eine schöne Freund- und Hilfsbereitschaft. Auch mit den Kollegen der Primarschul- und Oberstufe im Dorf erfreuten wir uns stets eines guten Einvernehmens.
5./6. Klasse Langrüti, Frühling 1971.

Im Bergschulhaus war man abseits, doch wöchentlich kam der katholische Pfarrer oder sein Vikar und hielt im Arbeitsschulzimmer mit den Kindern seiner Konfession Unterricht. Der erste Geistliche fuhr in einem schmalen Zweisitzerauto, das die Buben besonders interessierte. Mit seinem jüngeren Nachfolger plauderten wir oft auf dem Schulplatz, manchmal besuchten sie auch zu aller Freude unsere Schulweihnacht.
Unsere reformierten Pfarrer hielten im Winterhalbjahr an Wochenabenden in unserem Schulzimmer Bibelstunden. Diese Gottesdienste führten die Leute aus den verschiedenen Höfen nach harter Arbeit zu einer ernsten und auch fröhlichen Feierstunde zusammen. Manchmal freuten sie sich auch mit allen Pfarrern und ihren Frauen an einem gemütlichen Sektionsabend, zu dem die Nachbarsleute eine ganze Milchkanne voll Lindentee herbeischleppten.
Besuche bei den Eltern der Schüler führten einen mit der Zeit in jedes Haus unserer Aussenwacht. Neben dem Besprechen der Probleme der Kinder daheim oder in der Schule machte man etwa die fröhliche Entdeckung, dass die Buben ihre Krippenfiguren, die sie im Werken ausgesägt und bemalt hatten, zwischen Fenster und Vorfenster ausgestellt hatten.
In die Scheunen kam ich durch die Feuerwehr, wenn man nach dem Heuet und Emdet die Temperatur der Futterstöcke mit den langen Sonden kontrollieren musste. Froh war ich, dass sich mancher Ehemalige zum Dienst im Feuerwehrkader zur Verfügung stellte und sich die Mannen bei den Übungen oder bei einem Alarm so geschickt einsetzten.
Oft hörte man abends Gesang aus den beiden Schulhäusern. Im obern probte der Männerchor, im untern der Gemischte Chor, in dem meine Frau und ich längere Zeit mitsangen. Wie viel Freude bereiteten die beiden Vereine bei hohen, runden Geburtstagen durch ihre Ständchen! Schön war die Zusammenarbeit von Männerchor und Gemischtem Chor an Festen. Stets hatte ich Achtung vor allen, die sich an Anlässen oder an der Bundesfeier selbstlos und eifrig bei der Vorbereitung und Durchführung einsetzten und nachher auch beim flotten Aufräumen ihren Mann stellten. Ein Bedürfnis war mir stets die Mitarbeit in unserem Quartierverein, wo wir uns für die Belange der Langrütler beharrlich einsetzten, wo wir aber auch in unserm vertrauten Gasthaus Feld der Geselligkeit pflegten.
Die Schulhäuser auf Langrüti. Federzeichnung von Hermann Schweizer.
Fast jedes Jahr feiern einige Jahrgänge von Langrütlern, die einst zusammen die gleiche Schulbank drückten, eine Klassenzusammenkunft im «Neubüel», im «Rössli» oder in der «Tanne». Wie staunt da der Lehrer, der sich, wie auch seine Frau, über die Einladung mächtig freut, was für tüchtige und liebenswerte Menschen aus diesen lebhaften Schülern geworden sind. Einstige Gewitter sind vergessen, man ist froh, dass einem, wenn nötig, der Meister gezeigt worden ist, und freut ich herzlich, dass alle ihren Weg gefunden haben und je nach Veranlagung und Begabung viel leisten und Verantwortung tragen. So viel haben sich dir Ehemaligen zu erzählen und zu lachen dass oft das Tanzen trotz lüpfiger Ländlermusik fast vergessen geht. Nach den frohen Fest mit verlängerter Polizeistunde wird in manchem Haus bei Kaffee noch weiter gefestet. Kommt etwa ein Langrütler aus Übersee auf Besuch, so werden seine Klassengenossen gewiss durch einen einsatzfreudiger Kameraden zu einem Wiedersehen zusammengetrommelt.
Ich bin dankbar, dass meine Frau über 30 Jahre alle Freuden und Leiden eines Schulmeisters mit mir teilte und auch unsere Söhne auf diesem besonders schönen Flecken Erde aufwachsen durften. Meiner einstigen Kollegin und meinem Nachfolger und ihren Familien wünschen wir weiterhin alles Gute und viel Freude.
 




Hermann Schweizer