(Wenn) der Stimmbruch kommt

Quelle: Jahrbuch der Stadt Wädenswil 1979 von Peter Friedli

Einige Gedanken über die wöchentliche Singstunde an der Oberstufe.

Liebe ehemalige, jetzige und zukünftige Schüler,
Paul Hindemith, ein bedeutender Komponist unseres Jahrhunderts, schreibt: «Ist es einer Musik gelungen, uns im ganzen Wesen nach dem Edlen auszurichten, so hat sie das Beste getan.»
Dieses Zitat ist eine Aufforderung, uns zu besinnen, ob wir zusammen unser Wesen während dreier Jahre Singunterricht auf das Edle ausrichten.
Jedes Jahr sitzen Ende April angehende Oberstufenschüler erwartungsvoll an der Eintrittsfeier in unserem Singsaal. Klassen werden eingeteilt; Euer neuer Hauptlehrer nimmt Euch in Empfang. Die erste Stunde beginnt, auch die erste Singstunde. Dieses Jahr sind es für mich rund 125 neue Gesichter.
Zuerst arbeiten wir mit Atemschulung und Stimmgebrauch − sicher eine eher langweilige Angelegenheit. Es gilt festzustellen, wo in der Klasse die richtige Tonhöhe und Tiefe liegt. Nach einigen Wochen Übung erreichen wir einen Stimmumfang von eineinhalb bis zwei Oktaven. Wir lernen parallel zum Geografie-, Geschichts- und Sprachunterricht Volkslieder aus aller Welt. Eure Stimmen werden besser und besser; wir können uns nun mit 2- und 3-stimmigen Liedern befassen. Der Chorklang ist gefestigt, Ihr versteht bald meine Handzeichen, die Stimmlage ist noch kindlich hell und rein. Euer Benehmen gegenüber dem Singlehrer ist diszipliniert, auf Fragen wird ordnungsgemäss aufgestreckt. Einige sind nun Mitglieder des freiwilligen Schülerchores, wo wir die Arbeit vertiefen und auf das jährliche Konzert hin arbeiten.
Nach dem Examen seid Ihr nun Zweitklässler. Aus den Reihen der Knaben hören wir allmählich «Brummer». Die Stimmen beginnen zu zittern, oft höre ich den altbekannten Wunsch: «Herr Friedli, e chli tüüfer aastimme.» Der Stimmbruch. Nach und nach sinken die Stimmlage und vor allem das Stimmvolumen, übrigens nicht nur bei den Knaben, sondern auch bei den Mädchen. In meiner Jugend hiess dieses Zeichen «Aufhören mit Singen.» Ja, Ihr wisst es, auf solche Anregungen trete ich niemals ein, denn der Stimmbruch ist keine Krankheit. Wir erleben miteinander nicht nur den Stimmbruch, sondern vielmehr eine Änderung Eurer Persönlichkeit.
Ihr seid, oft innerhalb weniger Wochen, undisponiert, traurig, teilweise «frech-ähnlich». Ab und zu wird eine Singstunde für mich zur Qual. In dieser «Sauserzeit» werdet Ihr langsam erwachsen, Euer Körper und Eure Seele verändern sich; bei den Knaben wäre oft ein Rasierapparat wünschenswert. Die meisten von Euch beginnen diese Übergangszeit mit «lässiger» Kleidung und Haartracht zu markieren (mein bestes weisses Hemd ist plötzlich violett gefärbt von meiner eigenen Tochter). Ihr verliert vorübergehend das Gefühl für Lautstärke und Farben. Ihr lehnt Euch auf gegen alles in der Welt. Hier beginnen aber erste tiefere Freundschaften, auch mit dem anderen Geschlecht, hier ertappe ich einzelne mit verbotenen Zigaretten. Hier wird das Töffli zum Zeichen eines veränderten Tempobewusstseins. Hier zeigt Ihr aber erstmals kritisches Erwachsenendenken. Eure Musik wird mir oft aufgezwungen. Eure Lieder sind nicht mehr die meinigen. Diese Zeit bereitet mir manchmal schlaflose Nächte: Wird das Bethli eine Elisabeth, oder wird der kleine Bruno ein wirklicher Bruno. Schöne Stunden verbringen wir beim echten Diskutieren. Ich erlebe jetzt, wie ein Hilfslehrer zum Blitzableiter wird. Ihr erzählt mir Probleme um Eltern, Prüfungen, Berufswahl usw. Für dieses Vertrauen danke ich Euch; ich glaube, Ihr sollt merken, dass auch ich oft unsicher bin gegenüber Eurem Verhalten.
Die dritte Klasse: Nun seid Ihr die Grossen. Wir können beginnen, uns über verschiedene Musikstile zu unterhalten. Bei einer kürzlichen Lektion über klassische Musik hat sich Edith über Mozarts Musik geäussert: «Grossartig», dabei hast Du wohl zum ersten Mal etwas von diesem Meister gehört. Auf dieser Stufe sprechen wir bewusst über Stimmlagen; Ihr Mädchen hört erstmals Eure Knaben «Bass» singen. Die Mädchen singen Sopran; ab und zu, wie Monika, hören wir eine schöne tiefe Altstimme. Mit der neuen Stimme habt Ihr Euch vom Kind-Sein gelöst, für mich seid Ihr nun erwachsen. Für Theorie und Notenschreiben haben wir (leider) wenig Zeit; ich möchte vielmehr während diesen drei Jahren den Übergang vom Kind zum Erwachsenen zu verschönern versuchen. Somit glaube ich, wird die Musik, in unserem einfachen Rahmen, zum Edelsten gehören. Während diesem Übergang prägen sich die tiefsten, herrlichsten, aber auch gefährlichsten Erinnerungen. Gebt diese Gedanken, wenn Ihr wollt, irgendeinmal weiter.




 Liebe Grüsse Peter Friedli