Eine Wädenswiler Gerichtsscheibe

Quelle: Jahrbuch der Stadt Wädenswil 1979 von Peter Ziegler

Auf Empfehlung des Schweizerischen Landesmuseums und der örtlichen Natur- und Heimatschutzkommission erwarb der Stadtrat Wädenswil im Februar 1979 von Frau Sibyll Kummer in Zürich eine in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts geschaffene, aus Wädenswil stammende hochrechteckige Wappenscheibe von 21,5 x 31,5 cm Ausmass. Bildmotive und Schrift weisen das Kunstwerk als Gerichtsscheibe aus, als einen von vier Richtern der Herrschaft Wädenswil gestifteten Fensterschmuck.
Im Zentrum der mit Blei gefassten Scheibe ist – in starker Anlehnung an die Beschreibung in der Offenbarung des Johannes – das Jüngste Gericht dargestellt. Ein von rechts aus den Wolken schwebender, blau gekleideter Engel bläst die Posaune zum Gericht Gottes. Die Enden zweier weiterer Posaunen ragen in der Mitte und links aus den grauen Wolken erdwärts. In der linken Bildhälfte steht ein schildbewehrter Engel in wallendem blauem Gewand. Seine linke Hand umklammert den Knauf des mächtigen Richtschwertes. Damit scheidet er, wie die Inschrift in der Kartusche oben rechts aussagt, die Schafe von den Böcken. Der Posaunenschall hat die Gräber aufgerissen. Erweckte Tote, zum Teil in ihre weissen Grabtücher gehüllt, entsteigen den Grüften. Die erlösten Auferstandenen – in der linken Bildhälfte dargestellt – schweben himmelwärts und verschwinden in den Wolken.
In der rechten Bildhälfte fallen Hagel, Feuer und Blut vom Himmel auf die Verdammten. Teufel packen die Verlorenen und führen sie dem Fegefeuer zu. Der gehörnte blaue Teufel ganz rechts, mit wilder Fratze und krallenbewehrten Vogelfüssen, reisst einen Toten am Arm und am Haarschopf aus dem Grab. Der grüne Teufel dahinter, mit Vogelkopf, Drachenflügeln und Schwanz abgebildet, trägt einen auf einer Bahre Sitzenden weg. Im Hintergrund in der Mitte ist ein dritter Teufel zu erkennen. Auch er reisst einen Menschen, der vor Gott keine Gnade fand, mit ins Verderben.
Im aufgerissenen Himmel thront der bärtige Gottvater, das Weltgericht überblickend. Er hat auf einem gestürzten Regenbogen Platz genommen; seine Füsse ruhen auf der blauen Weltkugel. Ein Heiligenschein umgibt sein Haupt. Mandelförmige goldene Strahlenkränze decken den ganzen Hintergrund ab. Zu beiden Seiten des Weltenrichters sitzen bärtige Männer auf den Wolken, so wie es in der Offenbarung des Johannes, Kapitel 4 Vers 4, beschrieben wird: «Und rings um den Thron sah ich 24 Throne, und auf den 24 Thronen sassen 24 Aelteste ... »
Die in barocken Formen und eher blassen Farben gehaltene Darstellung des Jüngsten Gerichts ist eingespannt in eine symmetrisch gestaltete architektonische Rahmung. In den Säulen, Basen und reich gegliederten Kapitellen herrschen kräftige Farben vor: Orange, Grün und Gelb in den Basen und Kapitellen, dunkles Blau und dunkles Rot in den Säulenschäften und in den obersten Kapitellen. Auf den obersten der mehrstufigen Kapitelle ruhen zwei Schriftkartuschen mit grüner Rocaillenrahmung und blauen oder gelben Zwickeln. Die beiden schwarzen Inschriften im glasfarbenen Feld weisen auf das zentrale Geschehen hin:

Nun kumbt das gricht mit
grosem Schal
Die menschen erstand von toten
all
Zur grechten werdend gstelt
die Schaaff
Die böck zur lingen zu der straff

Der Fuss der Wappenscheibe ist als vierteilige Arkade gestaltet, deren rundbogige Schriftbänder die Namen der Scheibenstifter tragen. Es sind dies, von links nach rechts aufgezählt: Ulrich Strickler, Cornet; Andreas Brendli; Hans Bruppacher, Fendrich; Caspar Pfister. In den vier Bogenfeldern wird vermerkt, dass diese vier Männer in Wädenswil als Richter amteten; sie wa­ren «All dess Grichts zu Wedeschwyl». Unter jedem Spruchband steht ein Engel auf der Arkadenbrüstung, mit beiden Händen das Familienwappen eines Stifters haltend. Die Wappen, welche nicht identisch sind mit den Darstellungen von 1766 auf den Stühlen und Bänken in der reformierten Kirche Wädenswil, lassen sich wie folgt blasonieren:

Strickler
In Gelb ein senkrechter, oben und unten in einem Pfeil endigender schwarzer Stab.

Brändli
In Silber ein schwarzes Hauszeichen.

Bruppacher
In Rot ein pfahlweise gestelltes goldenes Winkelmass, den kürzeren Schenkel nach (heraldisch) rechts gerichtet.

Pfister
In Blau auf grünem Dreiberg zwei schräggestellte goldene Wecken, überhöht von einem goldenen Stern.

Die vier Familiennamen und der Hinweis, dass die Stifter alle Mitglieder des Gerichts der Herrschaft Wädenswil gewesen seien, wiesen den Weg zur Datierung der Wappenscheibe. In den Totenbüchern von Wädenswil, im Staatsarchiv Zürich unter der Signatur E III 132/2 aufbewahrt, sind folgende Sterbefälle festgehalten:
1648             22. Dezember: Caspar Pfister, gewesener Richter der Herrschaft Wädenswil
1651 25. Januar: Hans Bruppacher, Fendrich und des Grichts allhier
1657 20. Dezember: Andreas Brändli, des Grichts, Aetatis 77
1665 28. November: Ulrich Strickler, des Grichts, Alter 95.
 
Aus den Bevölkerungsverzeichnissen der Herrschaft Wädenswil, die mit dem Jahr 1634 einsetzen, ist ersichtlich, dass die auf der Scheibe erwähnten Richter in den 1640er Jahren dem aus zehn Mitgliedern bestehenden Gericht der Landvogtei Wädenswil angehörten (Staatsarchiv Zürich, E II 700.116). Die Verzeichnisse nennen auch den genauen Wohnsitz: Ulrich Strickler-Aeschmann wohnte auf dem Hof Täglischür, Andreas Brändli-Rebmann zu Gebisholz, wie die Gegend am heutigen Oberort damals hiess, Hans Bruppacher-Rusterholz bei der Krone, Caspar Pfister-Brändli an der Seferen.
Mit dem Hinschied des Richters Pfister im Dezember 1648 erfassen wir den spätesten Zeitpunkt für die Stiftung der Wädenswiler Gerichtsscheibe. Sie ist zweifellos etwas älter, wohl um 1645 entstanden.
Welcher Künstler die Wappenscheibe geschaffen hat, lässt sich nicht ermitteln, da das Werk weder datiert noch signiert ist. Die Herkunft aus einem Zürcher Atelier dürfte jedoch unbestritten sein. Der gleichen Werkstätte lässt sich übrigens auch eine mit 1651 datierte Gemeindescheibe von Richterswil zuweisen, die sich heute im Besitz des Schweizerischen Landesmuseums befindet und die Albert Keller im Neujahrsblatt 1932 der Lesegesellschaft Wädenswil abgebildet hat.
Abschliessend sei noch die Frage nach dem Standort der Wädenswiler Gerichtsscheibe erörtert. Das Gericht der Landvogtei Wädenswil hielt seine Sitzungen in der Gerichtsstube des 1497 gebauten Richt- und Gesellenhauses ab, das sich in unmittelbarer Nähe der Kirche, etwa am Standort der heutigen Liegenschaft «Sonne» erhob. Dass in diesem öffentlichen Gebäude nach der Sitte der Zeit Wappenscheiben hingen, ist aktenmässig bezeugt. Ebenso ist bekannt, dass die Scheiben beim Abbruch des Hauses im Jahre 1821 verschachert wurden. Auch diese Gerichtsscheibe geriet offenbar damals in Privatbesitz. Mit dem Erwerb durch die Stadt ist das wertvolle Kunstwerk wieder in öffentlichen Besitz gekommen und nach Wädenswil zurückgekehrt.




Peter Ziegler