Mit der Konsolidierungsphase des Christentums ab dem 4. Jahrhundert entstanden die ersten grösseren Kirchenbauten und die christliche Religion übernahm Symbole und Praktiken aus dem paganen und profanen Bereich. Das Gebäude erhielt dadurch eine Aufwertung, und zwar nicht nur als Versammlungsraum der Gläubigen, sondern durch den entstehenden Reliquienkult und die bereits früh vollzogene räumliche Separation von Klerikern (Chor) und Laien (Schiff) auch als sakrale Stätte.4 Hierarchie, Liturgie und Raumsakralität wurden im Verlauf des Mittelalters weiterentwickelt und verfeinert. Die mittelalterlichen Gotteshäuser verfügten meist über einen eingezogenen Chorraum, der leicht erhöht und oft durch einen Lettner deutlich von laikalen Schiff getrennt war.
Seit dem IV. Laterankonzil 1215 war das Spenden von Sakramenten geweihten Priestern vorbehalten, was die in der Architektur manifeste Separation von Priestern und Laien sozial noch verstärkte.5 Das Kirchengebäude war Ort zugleich symbolischer und manifester Präsenz des Göttlichen. Gleichzeitig war die Kirche ein längsaxial strukturierter Raum: Die Sakralität nahm vom Kirchhof über das Schiff zum Chorraum mit dem Hochaltar als Allerheiligstem stetig zu.6
Die in der römischen Kirche vorherrschenden Vorstellungen von Hierarchie, Liturgie und Sakralität sollten im frühen 16. Jahrhundert durch die Reformatoren in Frage gestellt werden. Papst und Konzilien wurden als Autoritäten verworfen und die Sonderstellung der Priester abgelehnt. Zwingli, der mit Unterstützung des Zürcher Rates ab 1519 die Zürcher Kirche reformierte, sah in Christus den wahren Priester.7 Die Rolle des Pfarrers verglich er mit jener des Hirten, der aber keinesfalls über der Gemeinde und den einzelnen Gläubigen stehen durfte. Diese, unterwiesen durch den Pfarrer und illuminiert durch den Heiligen Geist, seien selber im Stande, das Wort Gottes auszulegen.8 Die Eucharistie als Opferfeier und Transsubstantiationsakt lehnte Zwingli ebenfalls ab.9 Er akzeptierte unter Berufung auf das Evangelium nur Taufe und Abendmahl als Sakramente, wobei er diese als symbolische, anamnetische und gemeinschaftliche Handlungen und nicht, wie die Scholastiker, als unmittelbar heilswirksame Vorgänge verstand.10 Das Wort Gottes und die Predigt stellte er in den Mittelpunkt des Gottesdienstes.11 Damit verlor der Altar als zentrales Prinzipalstück seine Bedeutung zugunsten der Kanzel. Viele Kirchenbauten wurden nach der Reformation durch eine Ausrichtung des Gestühls auf die Kanzel der neuen Liturgie angepasst. Da sich die Kanzel meist an einem Pfeiler im Schiff befand, entstanden durch die Gruppierung des Gestühls um diese herum eine Art Vorläufer der Querkirche – mitten in einer längsaxial konzipierten Gebäudehülle. In der ehemaligen Kathedrale Saint-Pierre in Genève wurde sogar der Chor mit auf die Kanzel ausgerichtetem Gestühl versehen.12
Bereits vor der Reformation versammelte sich die Gemeinde nach dem Altardienst zur Predigt im Halbkreis um die Kanzel, was faktisch einer temporären Quernutzung der Kirche entsprach (vgl. Grafik).13 Wie an diesen Vorgängen zu erkennen ist, geht die reformatorische Umstrukturierung und Umcodierung weit über die ikonoklastischen Handlungen, die Entfernung von nun als Götzen verschrienen Statuen und Bilder, hinaus. Der Kirchenraum wurde in vielen Fällen in Anpassung an die liturgischen Neuerungen grundlegend umstrukturiert. Auch eine spezifische Sakralität der Räume wurde von den Reformatoren grundsätzlich abgelehnt, auch wenn die religiöse Praxis der folgenden Jahrhunderte durchaus auf ein volkstümliches Sakralitätsverständnis schliessen lässt.14
Durch den Sieg der Reformierten im Zweiten Villmergerkrieg 1712 konnte Zürich seinen Einfluss im Flecken verstärken und trug massgeblich zum Kirchenneubau bei.35 Der Architekt Matthias Vogel realisierte hier ein mit Wilchingen im Grundriss nahezu identisches Bauwerk, und hatte einen solchen Querbau möglicherweise bereits für seinen Kirchenbau in Baden 1714 avisiert.36 Dass die Querkirche in Zurzach ein konfessionspolitisches Postulat darstellt, dürfte unbestritten sein.37 Als wichtige Novitäten gegenüber Wilchingen weist die Kirche Zurzach einen an der längeren Schiffseite positionierten Frontturm und eine hufeisenförmige Empore auf. Beide Elemente sollten 50 Jahre später bei der Kirche Wädenswil erneut zur Geltung kommen. Die 1721 realisierte Kirche von Maienfeld GR weist durch sich beim zentralen Taufstein kreuzende Mittelgänge ebenfalls auf Wädenswil voraus.38
Die Reihe setzt sich im frühen 19. Jahrhundert mit Albisrieden (1816-1817)68, Gossau (1820-1821)69 und Bäretswil (1825-1827)70 fort. Am deutlichsten lehnt sich die reformierte Kirche Uster (1822-1828), entworfen von Johannes Volkart, an Grubenmanns Vorbild an.71 Trotz der dezidiert klassizistischen Formensprache mit Monumentalportikus wirkt der rechteckige Baukörper mit seinem durch einen Spitzhelm bekrönten Turm unmittelbar von Wädenswil inspiriert. Ausnahmebauten sind der an Querbauten erinnernde Zentralbau von Thalwil (1846-1847)72 oder die neugotische Halle der Grossmünsterkapelle (1858-1860).73 Auch Querbauten des 20. Jahrhunderts wie der Saal des Kirchgemeindehauses Liebestrasse in Winterthur (1911-1913)74, die Markuskirche in Zürich Seebach (1947-1948)75 oder die Kirche Rosenberg (1964-68)76 bezeugen die Nachwirkung des Querkirchenkonzepts im Kanton Zürich.
Mit der 1949-1951 erbauten Pfarrkirche St. Felix und Regula in Zürich-Hard brachte der Architekt Fritz Metzger, ein Anhänger der Liturgischen Bewegung, das Konzept auch in den katholischen Kirchenbau ein.77 Der Einfluss der Zürcher Querkirchenarchitektur wurde im 19. Jahrhundert auch jenseits der Kantonsgrenzen spürbar, etwa durch die Kirchen von Speicher AR (1808-1810), Altnau TG (1810–1812), Netstal GL (1811–1813), Meisterschwanden AG (1820–1822), Seengen AG (1820–1821), Heiden AR (1837–1839) und – als einzige paritätischer Querkirche – Wattwil SG (1844-1848).78 Wie an dieser eindrucksvollen Reihe direkter oder indirekter Nachfolgebauten zu erkennen ist, wirkte sich die Initialzündung des Wädenswiler Kirchenbaus massgeblich auf die Entwicklung der reformierten Architektur in der Deutschschweiz aus. Die Kirche Wädenswil markiert also eine ausserordentlich bedeutende Schnittstelle zwischen den zaghaften Anfängen des Querkirchenbaus in den reformierten Gebieten der Eigenossenschaft und der Durchsetzung des Bautypus durch rund 20 Nachfolgebauten.
Michael D. Schmid