AUF UND AB: WÄDENSWILER HOCHSTAMM-OBSTBAU

Quelle: Jahrbuch der Stadt Wädenswil 2010 von Jürg Boos

Einleitung

In etlichen Regionen der Schweiz versuchen Natur- und Vogelschutzorganisationen, Mostereien und auch Gemeinden zumindest einen Teil des verloren gegangenen Hochstamm-Bestandes wieder neu zu erstellen. In der Schweiz sind seit 1950 über 80 Prozent der Hochstamm-Obstbäume gerodet worden. Noch Mitte des 20. Jahrhunderts standen ganze Landstriche in mehr oder weniger dichten «Obst-Wäldern», und jeder richtige Bauernhof pflegte mit Stolz seine Obstbäume, welche der Selbstversorgung dienten und zusätzlich noch die Bedürfnisse eines mehr oder weniger grossen Kundenkreises befriedigten. Heute versorgen rund 1600 Obstbauern mit ihren Niederstammanlagen die ganze Schweiz mit ausreichend Tafelobst, und trotz dem Aussterben der Hochstamm-Obstbäume liegt zurzeit der Selbstversorgungsgrad mit Mostobst über 100 Prozent. Das wirft verschiedene Fragen auf: War früher der Obstbau ineffizient? Wurde mehr Obst gegessen? Warum dominierten Birnbäume? Wozu dienten die Hochstamm-Obstbäume, oder war man früher einfach sensibler gegenüber der Ästhetik der Landschaft und der Natur? Die Antworten fallen je nach Landesgegend verschieden aus. In der Steinobst-Region Nordwestschweiz macht zurzeit der tiefe Brennkirschen-Preis den letzten Hochstämmen den Garaus. Die Ostschweiz ist das wichtigste Produktionsgebiet für Niederstamm-Kernobst der Schweiz und entflicht gegenwärtig wegen dem Feuerbrand Gebiete mit Niederstamm-Obstbau von Gebieten mit Hochstamm-Obstbau. Und im Domleschg kam der lukrative Export von besonders harten und somit transportfähigen Domleschger Früchten an den russischen Zarenhof schon mit der Russischen Revolution zum Erliegen. Die folgende Spurensuche beleuchtet exemplarisch die Verhältnisse in Wädenswil, immerhin der bedeutendsten Obstbaugemeinde des Kantons Zürich.

ZEUGNISSE FRÜHER NUTZUNG VON OBSTGEHÖLZEN

Erste Zeugnisse der Nutzung von Obst gehen auf die jungsteinzeitlichen Seeufersiedlungen (Pfahlbauer, 3000 bis 1000 v.Chr.) zurück, welche rund um den Zürichsee und auch in Wädenswil (Vorder Au, Naglikon) zu finden waren. Genutzt wurden Wildapfel, Wildbirne, Erdbeere, Brombeere, Hagenbutte, Himbeere, Holunder und Schlehe (Schwarzdorn) usw., von denen bei Ausgrabungen noch Samen und Kerne gefunden werden. Eine Besonderheit bilden halbierte und über dem Feuer getrocknete Wildäpfel (Malus silvestris), welche heute in verkohltem Zustand bei Unterwassergrabungen gefunden werden.
Die Zeit der römischen Herrschaft brachte der Schweiz einen bedeutenden Schub in der landwirtschaftlichen Produktionsweise. Die Technik der Veredlung und neue Obstarten und -sorten wurden eingeführt. Von der heute noch als Rarität vorhandenen Sorte Sternapi (Api-étoilé) heisst es, dass sie noch aus dieser Zeit stamme. Die Produktionstechnik der Römer wurde von der ansässigen Landbevölkerung aber nicht übernommen, so dass dieses Wissen mit dem Abzug der Römer wieder verloren ging.
Für die Zeit bis ins Mittelalter wird ein Nachweis mangels Quellen und Funden schwierig. Es ist aber auch für Wädenswil anzunehmen, dass in der frühmittelalterlichen Landwirtschaft die Obstkultur eher eine Ausnahme darstellte. Erhalten hat sich der Obstbau in den Klöstern, so wurde auf dem um 820 bis 830 n. Chr. in St. Gallen entworfenen Klosterplan der Friedhof mit Obstbäumen bestückt.
Die ältesten Belege für Baumgärten lassen sich in Wädenswil seit dem späten 13. Jahrhundert nachweisen. 1270 ist ein Baumgarten neben der Wädenswiler Kirche bezeugt. Neben der Burg Wädenswil dehnte sich – wie aus einer Urkunde von 1265 hervorgeht – ein Baumgarten aus.[1] Im Laufe des Mittelalters ist anzunehmen, dass sich die Baumgartenanlage um die Gehöfte eingebürgert hat.[2] In Wädenswil werden bei Verleihungen durch die Johanniterkomturei wiederholt Baumgärten aufgeführt. Verschiedentlich werden in den folgenden Jahrhunderten bei Handänderungen Baumgärten erwähnt, ein Gesamtbestand für Wädenswil lässt sich daraus nicht ableiten. Einen klaren Hinweis für einen bedeutenden Obstbau in Wädenswil gibt die von Johannes Isler 1769 gemalte Ansicht von Wädenswil aus der Vogelschau. Isler verzeichnete über das ganze Dorf verstreut hochstämmige Bäume. Besonders die oberhalb des Dorfes gelegenen Gebiete wiesen eine hohe Anzahl Bäume auf. Die schematische Darstellung lässt aber weder Schlüsse auf den Gesamtbestsand noch auf die Obstart zu. Das Neujahrsblatt 1932 zum Besten des Waisenhauses in Zürich schildert, dass Ende des 18. Jahrhunderts die Seegemeinden in einem Wald von Obstbäumen stehen. Äpfel, Birnen und Kirschen werden als Hauptobstarten genannt. Bei der Verarbeitung des Obstes waren das Dörren und die Mostbereitung, aber auch die Branntweinherstellung von grosser Bedeutung.[3]
Die 1828 bis 1830 für die Ablösung des trockenen Zehnten von Geometer Rudolf Diezinger erstellen Pläne sind bezüglich der Obstbäume nicht aussagekräftiger als der Isler-Plan, die hohe Baumdichte ist auch hier erkennbar. Ein literarisches Zeugnis des bedeutenden Rufs des Wädenswiler Obstes liefert der Bauerndichter Ulrich Bräker, welcher 1789 seiner Frau als glaubwürdigen Vorwand für eine Reise nach Wädenswil angibt:«…er möchte gern sich mit dem schönen Wädenschweiler Obst verproviantieren, welches er nach seiner Angabe um ein Bagatellchen oder gar um sonst haben könnte.» Bräkers nicht grundlos skeptische Frau liess darauf ihren Mann ziehen, der sich aber weit mehr von den Wädenswiler Musen als vom Obst angezogen fühlte.[4]
Dank der Aufzeichnungen einiger Bauern (Rechen- und Notizbüchlein der Bauern Rellstab, Hauser und Streuli) über den Verkauf von Vieh, Obst, Wein, Most und Branntwein kann für die Zeit von 1820 bis 1890 davon ausgegangen werden, dass es den meisten Bauern gut ging. Obst- und Mostproduzenten fanden ohne Schwierigkeiten Jahr für Jahr kauffreudige Abnehmer. Die jährliche Mostproduktion bezifferte sich 1821 auf 1,4 bis 1,6 Millionen Liter. 1843 betrug die jährliche Obstproduktion 7,5 Millionen Kilo. Zwischen 1830 und 1850 konnte der Obstertrag in der Gemeinde verdoppelt werden. Seit 1840 wurde zudem versucht, die Obstqualität zu heben und eigentliches Tafelobst auf den Markt zu bringen. Finanziell war die Mostproduktion für den Bauern ab Mitte des 19. Jahrhunderts rentabler als die Weinproduktion. 1840 konnten pro Liter Most 10 bis 15 Rappen und 1850 bis 1868 sogar 15 bis 25 Rappen gelöst werden. Zudem schwankten die Mostpreise im Vergleich zu den Weinpreisen nur wenig.[5]

«HAST DU EINEN RAUM, PFLANZ EINEN BAUM»

(Ende 19., Anfang 20. Jahrhundert)
Der Aufschwung des Obstbaus Ende des 19. Jahrhunderts hatte vor allem ökonomische Ursachen, die auf Probleme im Rebbau und auf das 1887 angenommene Alkoholgesetz zurückzuführen sind. Begünstigend waren auch die Erfolge mit der Anbautechnik und dem Pflanzenschutz des Obstes, Lehrbücher von französischen und deutschen Autoren gelangten in die Schweiz, landwirtschaftliche Vereine (Wädenswil 1856) und die Versuchsanstalt in Wädenswil (1890) wurden gegründet.
Die grosse Bedeutung des Rebbaus in Wädenswil erstaunt aus heutiger Sicht, geeignete Südlagen sind kaum vorhanden. Auch Zeitgenossen standen dem Zürcher Wein skeptisch gegenüber. Der für seinen auserlesenen Weinkeller bekannte Jeremias Gotthelf schrieb, dass es erstaune, wie die Zürcher jemals das zwanzigste Lebensjahr erreichten, bei dem sauren Wein, der dort wachse. Trotz dem, Wädenswil war bis Ende des 19. Jahrhunderts ein eigentliches Rebbaudorf, ähnlich den andern Gemeinden rund um den Zürichsee. Zeugen davon sind noch etliche bestehende Trotten auf dem Gemeindegebiet, zum Beispiel die 2010 renovierte, mit einer vollständig vorhandenen Baumpresse versehene Trotte an der Fuhrstrasse im Untern Leihof. Eine klimatisch bedingte zehnjährige Missernten-Periode, Mehltaubefall, Schäden durch die aus Amerika eingeschleppte Reblaus, Traubenwicklerbefall und die zunehmende Konkurrenz aus dem Ausland liessen den Rebbau fast vollständig verschwinden[6]. Von 46,2 Hektaren Wädenswiler Reben 1891 waren 1921 noch 4,1 Hektaren übriggeblieben. Die freigewordenen Flächen konnten mit Hochstamm-Obstbäumen bepflanzt werden. Teilweise wurde sogar versucht, die Weinpressen zur Mostherstellung umzunutzen, was auf Grund der Grösse und wegen des fehlenden Mahlwerkes zur Zerkleinerung der Früchte nicht ideal war.
Noch bedeutender für den Aufschwung des Obstanbaus war das 1887 in Kraft getretene Alkoholgesetz, welches dem Bund das Fabrikationsmonopol für Branntwein übertrug, mit Ausnahme von Wein-, Obst- und Beerenbrennerei. Da, wie oben dargelegt, die Reben kaum mehr genügend Rohmaterial für die Herstellung von Weinbrand lieferten und das Brennen von Beeren sehr aufwendig war, schlug nun die Stunde für den Obstbau. Allen voran waren dazu die Birnen geeignet, weil sie ertragreicher waren als jede andere Obstart und hohe Zuckergehalte der Früchte diese Bäume zu wahren Goldgruben machten. Der Ausspruch «hast Du einen Raum, pflanz einen Baum» war das Motto, welches damals im Obstbau die Runde machte. Noch sind heute Theilersbirnen, Maglerbirnen, Gelbmöstler und Wasserbirnen aus dieser Zeit in Wädenswil zu finden. Um 1890 waren 80 Prozent der Obstbäume Birnbäume und davon wieder 80 Prozent Theilersbirnen, eine Sorte mit besonders hohem Fruchtzuckergehalt von bis 15 Prozent.[7]
In Wädenswil war die Branntweinproduktion bereits Mitte des 19. Jahrhunderts verbreitet. 1843 schätzte der Gemeinderat die Produktion auf 6000 Liter jährlich, tatsächlich dürfte diese aber zehnmal höher gewesen sein. Aus dem Rellstabschen Notizbuch geht hervor, dass ein einzelner Bauer zum Beispiel 12'000 Liter Branntwein verkauft hat. Neben dem heimischen Absatzmarkt wurde Kirsch und Branntwein ins Toggenburg und in andere Gebiete des Kantons St. Gallen geliefert. Es wurde auch in grossem Masse Kartoffelschnaps gebrannt. Bereits 1816 verbot die Regierung angesichts der Teuerung die Kartoffelbrennerei; sie hatte aber grosse Mühe, das Verbot durchzusetzen.5 Dass die Regelung des Alkoholkonsums vom jungen Bundesstaat angegangen wurde, hatte suchtpolitische, aber auch steuerliche Gründe. Übermässiger Konsum von Branntwein war weit verbreitet. Die erwachsene Bevölkerung trank in der Periode von 1880/1884 pro Kopf in der Schweiz 17,3 Liter Spirituosen (40%) und 188,1 Liter Wein, Obstwein oder Bier. Heute sind dies 4,5 Liter Spirituosen (40%) und 127,6 Liter Wein, Obstwein oder Bier.[8] Der rückblickende Bericht 1926 des Bundesrates verdeutlicht die Situation: «Ganze Ortschaften, die vor 1886 rettungslos der Schnapsseuche und der mit ihr verbundenen Verwahrlosung und Degeneration verfallen zu sein schienen, blühten unter der Wirkung des Monopolsystems nach und nach wieder auf und erfreuen sich schon seit Jahren wieder physisch, moralisch und auch wirtschaftlich eines wohlgeordneten Zustands.»[9] Dass Sucht zu Verwahrlosung, Prostitution und körperlichem Verfall führt, war damals schon ausreichend bekannt. In der erschütternden Schilderung «Wie fünf Mädchen jämmerlich im Branntwein umkommen» ist das heute noch bei Jeremias Gotthelf nachzulesen.9 Ob Branntweinkonsum ein unverzichtbares Nahrungsmittel sei, war im Abstimmungskampf 1885 über die Alkoholgesetzgebung Gegenstand heftigster Auseinandersetzung. Im «Allgemeinen Anzeiger vom Zürichsee» ist dazu zu lesen: «Gewiss gibt es Arbeiten in Feld und Wald, namentlich zur Winterszeit, wo ein Gläschen Gebranntes hie und da zur Notwendigkeit wird, und Niemand wird den Fabrikarbeiter einen Schnapser nennen wollen, wenn er zur mehrstündigen Früharbeit eine erste Stärkung der Art zu sich nimmt.»[10]
Finanziell war die Alkoholsteuer für die Kantone und den jungen Bundesstaat attraktiv. Konnten auf Grund der Bundesverfassung von 1848 nur ein Teil der Kantone sogenannte Ohmgelder einziehen, war zum Beispiel dem Kanton Zürich eine solche Umsatzsteuer auf alkoholischen Getränken noch verwehrt. Wie in der Schweiz wurde auch in Wädenswil mit 817 Ja und 254 Nein das Alkoholgesetz angenommen.

DIE ZEIT DER UMSTELLUNG

(Mitte 20. Jahrhundert)
Man würde dem Wädenswiler Obstbau um 1900 sicher nicht gerecht, wenn man diesen nur als Rohstofflieferant für Branntwein sähe. Äusserst reichhaltig zeigt sich das Obstangebot in den Kleininseraten des «Allgemeinen Anzeigers vom Zürichsee». Das Angebot umfasst saure Äpfel, Quitten, Theilersbirnen, neuen Most, süssen, weissen oder geräzten Birnensaft, gedörrte serbische Pflaumen, getrocknete Äpfel (besser als amerikanische), starke Birnenkörbe, amerikanische Apfelschälmaschinen, Dörrapparate, Literatur über die Herstellung von Most und Dörrobst usw.13 Vergeblich sucht man hingegen Angebote für haltbaren Süssmost. Die auf den Erkenntnissen des Franzosen Louis Pasteur basierende Pasteurisation war zwar bekannt, aber nicht anwendungsreif. In der Schweiz entwickelte Prof. Dr. Hermann Müller-Thurgau, der erste Direktor der Versuchsanstalt Wädenswil, ein Verfahren, das es erlaubte, die alkoholische Gärung des Süssmostes zu verhindern. Diese Technik etablierte sich aber erst um das Jahr 1930. Zum Beispiel wies die 1895 gegründete Obst- und Weinbaugenossenschaft (OWG) erstmals für die Kampagne 1929/30 neben Wein, Obstwein und Branntwein den Verkauf von 13‘343 Litern alkoholfreier Getränke aus.[11] Vorerst wurde Süssmost noch zugekauft, und 1935 beschloss die OWG, selbst Süssmost nach dem Warmverfahren herzustellen.[12] Die von Antialkoholikern für die Bauern im Zürcher Oberland durchgeführten Demonstrationen der Pasteurisation von Süssmost waren in Wädenswil weniger bekannt, da hier die Verwertung des Obstes hauptsächlich im Rahmen der Tätigkeit der OWG erfolgte.
Bis zur Periode 1923/1932 halbierte sich die getrunkene Menge Branntwein auf 8,9 Liter Jahreskonsum (40% Vol. über 15-Jährige). Es zeigte sich aber, dass der Alkoholismus des vorigen Jahrhunderts wieder aufzuleben drohte. Darum beschloss das Schweizer Volk 1930, auch die Obst-, Wein- und Beerenbrennerei zu monopolisieren. Damit war den Obstbauern die freie Verwertung ihrer Ernte verwehrt. Der Bund verpflichtete sich deshalb, die ganze Mostobsternte zu einem jährlich fixierten Preis zu verwerten. Um die vorhersehbaren Überschüsse zu reduzieren, wurde die Alkoholverwaltung beauftragt, die Umstellung des Obstbaus finanziell zu fördern. Somit griff die Alkoholgesetzgebung nun in die Bereiche Gesundheit, Steuern und Landwirtschaft ein.
Die Umstellung des Obstbaus hatte zum Ziel, den Anbau von Verwertungsobst in Tafelobst umzuwandeln. Die dafür bestimmten Gelder flossen noch bis 1995 in den Schweizer Obstbau.
1934 wurde in Wädenswil die Umstellung auf Tafelobstbau auf Geheiss von Regierungsrat R. Steuli besonders sorgfältig vorbereitet. A. Schellenberg von der Eidgenössischen Forschungsanstalt und J. Vontobel von der Landwirtschaftlichen Schule Wädenswil erhielten den Auftrag, einen Obstkataster zu erstellen.13 Dazu wurde auf 20 Betrieben jeder einzelne Obstbaum mit Angabe von Art, Sorte und ungefährem Baumalter  erfasst. Der mit den praktischen Arbeiten beauftragte «Technische Arbeitsdienst, Zürich» ermittelte so zum Beispiel für den 9,61 Hektaren umfassenden «Lehmhof» von Paul Rellstab 473 Bäume mit 130 Sorten. Heute umfassen Hochstamm-Obstanlagen rund doppelt so viele Bäume pro Hektare mit zum Teil nur fünf bis zehn Sorten. Zusätzlich wurde jeder Betrieb beschrieben. So ist für den «Lehmhof» vermerkt, dass das Tafelobst an Privatkundschaft und die Obstmesse geliefert werde, aber auch ein Versand von Obst nach Glarus und Lugano erfolge. 50‘000 bis 60‘000 Liter Most wurden an Private abgesetzt, der Rest ging an die OWG (Emil Rellstab-Streuli gehörte 1895 zu den Gründungsmitgliedern der OWG). Im Schlussbericht über den Wädenswiler Obstbau wird festgehalten, dass die Zusammensetzung der Obstbaumbestände unbefriedigend sei. Birnbäume, die 48 Prozent aller Obstbäume ausmachten, seien zu fällen oder umzupfropfen (aufsetzen einer andern Sorte), Apfelbäume (28%) seien auf haltbare Tafelsorten oder wertvolle Mostapfelsorten umzuzweien, Kirschen (11%) und Zwetschen (10%) seien vermehrt anzubauen.
Die Umstellung der Birnbäume war besonders schwierig. Dies, weil es sich fast ausschliesslich um Mostbirnen handelte, die sich mit ihrem herben Geschmack nicht für den Frischkonsum eigneten und ein Umzweien der überalterten Bäume aus Gründen des schon reichlich mit Tafelbirnen versorgten Marktes eigentlich gar nicht infrage kam.[13]
In der Folge passten sich die Wädenswiler Obstbauern gut an die veränderte Situation an. Es wurden Baumschnittkurse organisiert, bei denen die Obstbauern die Erziehung der sogenannten Oeschberg Krone übten, eine heute noch gebräuchliche Erziehungsform bei Apfelhochstämmen. Dank der Nähe zur Forschungsanstalt wurden der Pflanzenschutz und die Düngung verbessert. Wobei die damals gebräuchlichen Spritzmittel wie Blei-Arsen u.ä. für alle Beteiligten nicht gerade harmlos waren. Im Bereich der Vermarktung organisierten seit 1931 der Landwirtschaftliche Verein, der Einwohnerverein und der Allgemeine Konsumverein gemeinsam einmal jährlich eine Obstmesse in der Eidmatt-Turnhalle. Das dort ausgestellte Wädenswiler Obst konnte während der Messe bestellt werden und wurde den Käufern nach Hause geliefert. Im Inserat der Obstmesse 1932 wird wie folgt geworben: «Wenn jede Wädenswiler Familie 1 bis 2 Kisten oder Körbe Messeobst kauft, ist die Obstmesse ausverkauft. Isst jedes Wädenswiler Schulkind pro Tag 2 Äpfel des Messeobstes, ist das Messeobst bis Ende März aufgebraucht. Jeder Messekäufer hilft mit an der Sanierung des Obsthandels in der Gemeine Wädenswil.» Im Vergleich dazu lag der Pro-Kopf-Konsum in der Schweiz 2007 bei knapp zwei Äpfeln pro Woche.

MOSTOBST-SCHWEMME UND RODE-AKTIONEN

(Nach dem Zweiten Weltkrieg)
Wie schon der Erste Weltkrieg veränderte auch der Zweite Weltkrieg vorübergehend die Situation der Obstabsatzes. Der Mangel an Nahrungsmitteln auf Grund reduzierter Importe liess das Interesse an der Obstverwertung steigen. Es erfolgten Aufrufe, Mostobst nicht mehr an Tiere zu verfüttern; das Dörren von Früchten und andere Konservierungstechniken wurden wieder attraktiv. Auch wurde Kernobst-Alkohol als Treibstoffzusatz verwendet. Nach dem Krieg stellte sich die Überschusssituation beim Mostobst aber sehr schnell wieder ein. Dies wird auch im Jahresbericht 1946/47 der OWG beklagt: «Vom Auslande werden wir bereits wieder von gewissen Waren überflutet, so dass die Produkte des einheimischen Bodens, so geschätzt und gesucht sie auch während des Krieges waren, wieder in den Hintergrund gedrängt werden.» Die Überschüsse beim Mostobst wurden für den Bund zu einer immer grösseren Belastung, musste doch der Staat diese übernehmen und verwerten. Die erstmals in der Schweiz 1935 durchgeführten Obstbaum-Fällaktionen wurden ab den 1950er Jahren noch intensiviert. Im Kanton Zürich fällte man zwischen 1937 und 1951 180'000 Birnbäume, allein im Jahr 1950/51 waren es 24'000 Stück.[14] Wädenswil gehörte 1950 schweizweit noch zu einem der drei dichtest bepflanzten Birnbaum-Hochstammgebieten (neben dem Dreieck St. Gallen –Rorschach – Romanshorn und der Zentralschweiz). Trotzdem unternahmen die Wädenswiler enorme Anstrengungen, um den Birnbaumbestand zu reduzieren und auf Tafeläpfel umzustellen. Waren 1929 noch rund die Hälfte aller Hochstämme Birnbäume, so waren es 1951 noch ein Drittel aller Bäume. Da sich die Obstbaumzählungen von 1929 und 1951 methodisch unterscheiden, ist ein exakter Vergleich nicht möglich. Vor dem Zweiten Weltkrieg wird aber mit gut 38'000 Bäumen der höchste Bestand an Hochstämmen in Wädenswil erreicht worden sein; 2001 waren es noch rund 7000 Hochstamm-Bäume.
Neben den Problemen auf dem Mostobstmarkt gab es noch weitere Gründe für das Verschwinden der Hochstämme, zum Beispiel waren auch die alten säurebetonten und herben Tafelapfelsorten bei den Kunden nicht mehr beliebt. Neue, süssere Sorten wie der nach dem Zweiten Weltkrieg erstmals in der Schweiz angebaute Golden Delicious waren gefragt. Vermehrt wanderten auch Arbeitskräfte von der Landwirtschaft in die Industrie ab. Für den aufwendigen Anbau von Tafelobst hatte dies zur Folge, dass ab den 1950er Jahren auf die rationelleren Halb- und später Niederstamm-Obstbäume umgestellt wurde. Für Wädenswil leistete hier Carl Zuppinger Pionierarbeit, indem er auf dem Rötiboden im Ausland erprobte Niederstamm-Anbauformen anzog.
Die stetig wachsende Einwohnerzahl von Wädenswil führte zu einer regen Bautätigkeit rund um den Kern der Gemeinde. In diesem Ring standen aber eine grosse Menge der Hochstamm-Obstbäume, welche so den Neubauten zum Opfer fielen. Auf dem Gebiet des ehemaligen «Lehmhofs» wichen zum Beispiel rund die Hälfte der 1934 verzeichneten Bäume Neubauten, die andere Hälfte wurde im Rahmen der Umstellung auf Niederstamm-Bäume gerodet.
 

WIEDERGEBURT

(Nach 1980 bis heute)
Nach 1980 begannen Naturschützer und auch Obstliebhaber das Verschwinden der Hochstämme mit Besorgnis wahrzunehmen. Durch die Rodungen waren viele der typisch schweizerischen Obstsorten bedroht, da diese nur noch auf den Hochstämmen existieren. Das erkannte der  Wädenswiler Pomologe Karl Stoll schon frühzeitig und gründete 1985 die Vereinigung Fructus, welche seither mit Erfolg alte Obstsorten erhält.
Die Rodungen veränderten aber auch das Landschaftsbild. Die markanten Strukturen der Hochstämme verschwanden, und Insekten, Kleinsäuger und Brutvögel verloren ihren Lebensraum. Auf Druck der Umweltverbände begann der Kanton Zürich ab 1990 Beiträge für grössere Obstgärten von 40 Franken pro Baum und Jahr auszuzahlen. Wädenswil kann diesbezüglich einen besondern Erfolg aufweisen, im Rahmen des Obstgartenprojekts Au – Horgen werden rund 3000 Hochstämme erhalten.
Auch begannen sich die Mostereien wieder für Hochstämme zu interessieren, da das säurebetonte Hochstammobst gut gebraucht werden kann, um es mit den säurearmen Niederstammsorten zu verschneiden. Und zudem wurde für die Zeit nach 2011 bereits ein Mangel am Mostobst für die Schweiz prognostiziert.
Leider werden diese positiven Signale schon von verschiedenen Ereignissen überschattet, wie der OWG-Schliessung, der hohen Feuerbrandanfälligkeit von wichtigen Mostbirnensorten und dem möglichen Freihandel mit der EU, wo das Mostobst drei- bis viermal billiger ist als in der Schweiz.

NACHWORT ZUR EINLEITUNG

«Mostindien» ist kleiner geworden, aber immer noch finden sich auch in der Ostschweiz gepflegte Hochstamm-Mostobstbäume, zum Beispiel in der Region Moulen – Mörschwil. Auch das Domleschg hat sein Obst wieder entdeckt, unter www.zoja.viamala.ch kann man sich, zwar nicht ganz billig, einige Perlen des dortigen Obstbaus bestellen. Und in Steinmaur findet sich die kleinste, aber auch letzte Zürcher Grossmosterei, welche unter anderem aus dem eigenen Bio-Hochstammgarten Apfelsaft und Birnendicksaft herstellt.
Und dass die Geschichte umgekehrt verlaufen kann, zeigt der Obstbauer Hansruedi Brändli in der Au, der seine Niederstamm-Bäume zugunsten von Hochstämmen rodete. Oder der Haldenhof in der Au, wo heute 500 Hochstämme stehen, deutlich mehr als noch 1929.
Jürg Boos
 
Tabelle 1: Hochstammbestand in Wädenswil auf Grund der Eidgenössischen Obstbaumzählungen 1929 und 1951 bis 2001. Spalte 3 gibt die Bestandesgrösse im Vergleich zum Basisjahr 1951 wieder. Die Spalten 5, 7, 9 und 11 zeigen den jeweiligen Anteil einer Obstart am Gesamtbestand des Erhebungsjahres auf.

Jahr

Hochstämme Total

Apfel

Birne

Kirsche

Zwetschge

1

2

3

4

5

6

7

8

9

10

11

 

Anzahl

%

Anzahl

Anteil

Anzahl

Anteil

Anzahl

Anteil

Anzahl

Anteil

1929*

35711

 

8982

25%

21205

59%

2783

8%

2741

8%

1951

38104

100%

14169

37%

12708

33%

4252

11%

6975

18%

1961

30765

81%

12691

41%

8963

29%

3380

11%

5731

19%

1971

18666

49%

8298

44%

5348

29%

2147

12%

2873

15%

1981

13247

35%

4906

37%

4165

31%

1802

14%

2374

18%

1991

11116

29%

4181

38%

3646

33%

1385

12%

1904

17%

2001**

6068

16%

1861

31%

2360

39%

940

15%

907

15%

* Die Zählung von 1929 unterscheidet sich methodisch von den Zählungen von 1950 bis 2001. 1929 wurde der Gartenobstbau auch erfasst.
** Die Zählung von 2001 erfasste nur noch eine ausgewählte Stichprobe von Betrieben, tatsächlich dürften rund 15% mehr Bäume vorhanden sein.
 
Tabelle 2: Vergleich des Tafelapfelsortiments des Wädenswiler Obstbaubetriebes Rellstab zwischen 1934 (Lehmhof) und 2008 (Oberer Leihof). Aufgeführt sind die zehn wichtigsten Sorten, 1934 wies der Betrieb noch über 48 verschiedene Sorten und 2008 noch 21 Sorten auf.

1934

(Hochstamm)

2008

(Niederstamm)

Sorte

Anteil

Sorte

Anteil

Boskoop

14%

Gala

12%

Gravensteiner

5%

Elstar

11%

Engl. Goldreinette

5%

Boskoop

10%

Stäfner Rosenapfel

4%

Cox Orange

7%

Klarapfel

3%

Breaburn

6%

Ontario

3%

Topaz

6%

Aargauer Jubiläum

3%

Rubinette

6%

Wachsreinette

3%

Iduna

6%

Berner Rosenapfel

2%

Maigold

5%

Goldparmäne

2%

Gravensteiner

5%

 

 

 

 

Total  Apfelsorten

>48

 

21

 
 
Bilder:
Bild 1: Fahrbare Brennerei um 1895. Um 1850 wurden in Wädenswil rund 60'000 Liter Branntwein in hergestellt (Bild: Dokumentationsstelle oberer Zürichsee)
Bild 2: Ansicht von Wädenswil um 1900. Ende des 19. Jahrhunderts war Wädenswil noch von einem dichten Hochstamm-Gürtel umgeben. Ein Grossteil dieser Bäume waren Birnbäume (Bild: Archiv Peter Ziegler).
Bild 3: Halbinsel Au um 1930. Die Rebbaukrise Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts liess rund 90 Prozent der Wädenswiler Rebberge verschwinden. Die freiwerdenden Flächen wurden zum Teil mit Hochstamm-Obstbäumen bepflanzt (Bild: Archiv Peter Ziegler)
Bild 4: Um der Mostobstschwemme zu begegnen, wurde auf den anspruchsvolleren Tafelobstbau umgestellt. Dazu wurden in der ganzen Schweiz von der Alkoholverwaltung bezahlte Kurse und Vorträge organisiert («Allgemeiner Anzeiger vom Zürichsee», 5.1.1933).
 
Bild 5: Wädenswiler Obstmesse vor 1962. Ab 1930 bis in die 1970er Jahre fand Ende Oktober in der Eidmatt-Turnhalle eine Ausstellung von Wädenswiler Obst mit Verkauf und Heimlieferung statt (Bild: Dokumentationsstelle oberer Zürichsee).
Bild 6: Rodung von Hochstämmen 1971 zur Umstellung des Betriebes Rellstab von Hochstamm auf Niederstamm-Anlagen (Bild: Familie Rellstab).

Bild 8 fehlt noch

(Schlieregg 2010)

 
Bild 7+8: Sicht von der Schlieregg auf den Wädenswiler Berg um 1930 und 2010 (Bild: Dokumentationsstelle oberer Zürichsee/J. Boos).
 
 




Jürg Boos

ANMERKUNGEN

[1] Ziegler, P. 1995: In Jahrbuch der Stadt Wädenswil: Zur Geschichte der Wädenswiler Gärten. S. 80–94.
[2] Frömmelt, H. 1981: Die Entwicklung der thurgauischen Obstbaulandschaft im 19. und 20. Jahrhundert. Mitteilungen thurgauischer naturforschender Gesellschaft. Nr. 44. S. 47–74.
[3] Wehrli-Keyser, H.J. 1932: Neujahrsblatt auf das Jahr 1932, Zum Besten des Waisenhauses in Zürich. Über die landwirtschaftlichen Zustände im Kanton Zürich in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Herausgegeben von der Gelehrten Gesellschaft. Kommissionsverlag Beer & Co. In Zürich. No. 154
[4] Voellmi, S. (Herausgeber) 1978: Ulrich Bräker: Tagebücher und Wanderberichte. Diogenes Taschenbücher. 3. Auflage.
[5] Hauser, A. 1956: Die wirtschaftliche und soziale Entwicklung eines Bauerndorfes zur Industriegemeinde. Neuere Wirtschaftsgeschichte der zürcherischen Gemeinde Wädenswil. Verlag der Lesegesellschaft Wädenswil.
[6] Ruffner, H.P. 1998: Weinbau in der Ostschweiz: woher und wohin? Agrarforschung Nr. 5. 367–372.
[7] Leuthold Rudolf (1945): 50 Jahre Obst- und Weinbaugenossenschaft vom Zürichsee in Wädenswil 1895–1945. Buchdruckerei Jak. Villiger & Cie.. Wädenswil.
[8] Blanchard, N. 2001. Eidg. Alkoholverwaltung, Bern,
[9] Zurbrügg, C. 2009: Die schweizerische Alkoholpolitik und Prävention im Wandel der Zeit. Eidgenössische Alkoholverwaltung, Bern. www.eva.admin.ch.
[10] «Allgemeiner Anzeiger von Zürichsee», 1885: Alkoholvorlage (Fortsetzung). Vierundvierzigster Jahrgang. Samstag, 17. Oktober, zweites Blatt.
[11] Jahresbericht 1931 der Obst- und Weinbau-Genossenschaft vom Zürichsee.
[12] Protokoll der ausserordentlichen Generalversammlung vom 14.3.1935 der OWG in Wädenswil.
[13] Schellenberg, A., Vontobel J. 1936: Aufnahme eines Obstkatasters auf 20 Betrieben der Gemeinde Wädenswil mit Vorschlägen für die planmässige Umgestaltung unseres Obstbaus. Buchdruckerei Jacques Bollmann AG, Zürich 1.
[14] Jahresbericht 1950/51 der Obst- und Weinbau-Genossenschaft vom Zürichsee.