Blässhühner im Bootshafen Rietliau

Quelle: Jahrbuch der Stadt Wädenswil 2010 von Hans Oberhänsli

Zur kleinräumigen Vielfalt des Bootshafens Rietliau gehören die Blässhühner. Mit sechs Nestern auf einer Uferlänge von 230 Metern erreicht die Siedlungsdichte einen sehr hohen Wert. Am Freitagabend, 25. Juni 2010, haben sich die meisten Familien mit ihren Jungen auf die Nester zurückgezogen, die nach wie vor das Zentrum der Familie bilden. Eine Blässhuhnfamilie, zwei Altvögel und fünf Junge, geniesst noch die Abendsonne im Ausfahrtsbereich einer Bootsbucht. Alte und Junge picken nach eiweisshaltigen Pollen und Samen auf der Wasseroberfläche. Die Jungen finden genügend Nahrung, ohne dass sie von den Eltern gefüttert werden müssen. Die Familie beachtet mich nicht.
Ganz anders sieht es am darauf folgenden Morgen aus. Kaum stehe ich auf dem Steg des Bootshafens still, schwimmen junge Blässhühner auf mich zu. Sie schreien, strecken den Hals und reissen den Schnabel auf. Bald darauf erscheint ein Altvogel. Er sieht in den Jungen einen rangtieferen Futterrivalen. Er wird diesen gegenüber gewalttätig und sichert sich tyrannisch den vermeintlich besten Platz. Das hemmungslose Vorgehen führt zu Gekreische und Gezänk. Die weitern Familienmitglieder schwimmen hinzu. Der andere Altvogel, weit weg vom Geschehen, springt mit Unterstützung der Flügel über der Wasserfläche. Die versammelten sieben Familienmitglieder erwarten Futter. Weil ich die Vögel nicht füttere, verfolgen sie mich entlang des Steges bis an den Ort, wo das Revier einer andern Familie beginnt. Dort hat sich bereits eine weitere siebenköpfige Familie versammelt, und vierzehn Augen fixieren mich. Mit lauten Bettelrufen bringen sie ihr Anliegen vor. Sie wollen es nicht wahrhaben, dass ich kein Futter für sie bei mir habe. Heute kämpfen die beiden Familien an der Grenzlinie ihrer Reviere nicht gegeneinander. Eine Seltenheit! Gehe ich weiter, schwimmt mir diese Familie unter dem Steg nach. Sie lässt mich nicht aus den Augen. Am östlichen Rand des Bootshafens empfängt mich eine sechsköpfige Familie, die ausserhalb des Bootshafens lebt. Wieder zanken sich die vorwitzigen Jungen dieser Familie mit den unzimperlichen arroganten Alten, bis sie merken, dass ich sie nicht füttern werde.
Die jungen Blässhühner sind von der Geburt weg zur selbständigen Nahrungssuche und -aufnahme fähig, werden jedoch anfänglich von den Eltern gefüttert. Sie lassen sich aber auch vom Menschen füttern und finden sich mit den unterschiedlichen Quantitäten des dargebotenen Futters zu Recht. Bei den engen Verhältnissen im Bootshafen wären die Populationen vermutlich kleiner, wenn die Fütterung durch den Menschen unterbleiben würde.
Bei Futterknappheit können die Jungen gegenüber den Eltern sehr aufdringlich werden und  unablässig betteln. Diese massregeln sie, indem sie die Jungen am Hals packen. Es kommt oft vor, dass sie beim Zupacken das Junge tödlich verletzen. Das geschieht vor allem in den ersten Lebenswochen der Jungen. Tragen sie das zweite Jugendkleid – etwa nach vier Wochen – sind sie bereits beweglicher und können den handfesten Zurechtweisungen der Eltern eher ausweichen.
Die Blässhühner kennen klare Grenzen zwischen den Revieren. Die einzelnen Familien zeigen einander täglich mehrfach, wo diese verläuft. Sie schwimmen häufig der Linie entlang. Zeigt sich ein Altvogel der benachbarten Familie, stellen sie die Flügel auf und legen den Kopf mit dem weissen Stirnschild auf das Wasser. Mit dieser Ausdrucksform zeigen sie ihre Kampflust. Im Wasser hat es keine Fixpunkte, so dass die Jungen nicht wissen, wo die Grenze verläuft. Dieses Nichtwissen kann ihnen zum Verhängnis werden. So kann plötzlich ein fremder Altvogel auftauchen, das Junge am Hals packen, in die Luft schleudern und würgen. Selbst wenn das Junge auf den Rücken liegt, die Füsse in die Höhe streckt und der Kopf untergetaucht ist, hackt der Aggressor auf das hilflose Geschöpf ein. Er gibt erst auf, wenn er das Gefühl hat, das Kleine lebe nicht mehr.
Die alt eingesessenen Blässhühner wissen um die Fütterung durch den Menschen. Sie vertrauen darauf und sichern sich deswegen bereits ab Anfang März einen Nestplatz im Schilfstreifen des Bootshafens. Sie erinnern sich nicht mehr daran, wie die Lebensbedingungen für sie und die Jungen im Vorjahr waren. Ein Paar, das im Jahr 2007 den gesamten Nachwuchs von sechs Jungen verlor, gehörte zu denjenigen, die sich im Jahr 2008 als Erste den Nestplatz am alten Ort sicherten.
Die Blässhuhnfamilien lösen sich ab Mitte Juli auf. Der Absetzungsprozess setzt ein, selbst wenn die Jungen das Stirnschild noch nicht ausgebildet haben und noch nicht fliegen können. Die einzelnen Familienmitglieder schliessen sich den Kolonien an, die ausserhalb der Brutgebiete leben. Eine solche Kolonie findet sich vor dem Schlossgut Au.
 




Hans Oberhänsli