Wenn ein Dorf zur «Stadt» wird

Quelle: «anthos», Zeitschrift für Landschaftsarchitektur 4/1993, Baden 1993 von Peter Ziegler

Wädenswil am Zürichsee war 1941 ein Dorf mit 9436 Einwohnern und vielen typischen dörflichen Merkmalen. Dann setzte ein tiefgreifender Wandel ein. 1974 führte man das Gemeindeparlament ein. Wädenswil wurde damit offiziell zur Stadt: Eine nicht unproblematische Entwicklung, wie sie viele Orte im schweizerischen Mittelland durchgemacht haben.

Dorfidylle

Ich habe in den 1940er Jahren in Wädenswil meine Jugend- und Schulzeit verbracht. Die Gemeinde gliederte sich damals in das Dorf mit Industrie und Handwerk, in die erst locker überbaute Au und den von bäuerlicher Einzelhofsiedlung geprägten Wädenswiler Berg. Die Oberdorfstrasse lag noch oben im Dorf, und das Neudorf wurde als neu empfunden. Im geschlossenen Dorfkern zwischen See und Oberdorf dominierten die alten, vielfach kleinmassstäblichen, aber wohlproportionierten Bauten. Nur die Hauptstrassen waren gepflästert oder geteert. Naturstrassen führten aus dem Dorf bergwärts zu den Weilern und Einzelhöfen in Wiesen mit hochstämmigen Obstbäumen. Tobel und Wälder, Schrebergärten, die Kehrichtdeponie, das Seeufer und in der Kriegszeit auch die verkehrsarmen Strassen waren die Spielplätze von uns Kindern.
Blick vom Kirchturm gegen die Fuhrstrasse.

Vertraute Umgebung, vertraute Menschen

Metzgereien, Bäckereien, Gemüseläden, das Migros-Auto oder die Läden des Einwohnervereins waren vertraute Orte des täglichen Einkaufs. Grosse Einkaufszentren und Selbstbedienungsläden fehlten. Auf dem obligaten Familienspaziergang am Sonntagnachmittag im schönen Sonntagsgewand begegnete man Familien, die sich grüssten und beim Namen nannten. Man kannte sich im Dorf. Man traf sich bei der Arbeit, im Gottesdienst, an der Gemeindeversammlung und meist in mehr als einem der vielen Dorfvereine. Wädenswil war überblickbar. Viele wussten von vielen vieles, aber das war auch nicht immer gut.

Wandel unter Hochkonjunktur

Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde auch Wädenswil von einer rasanten Entwicklung erfasst, die den kleindörflichen Rahmen sprengte. 1950 wurde die Grenze von 10‘000 Einwohnern überschritten; 1960 zählte man 11‘677 Personen, 1970 15‘695, 1980 18‘674, 1992 19‘616. Mehrfamilienhäuser und neue Wohnsiedlungen schossen aus dem Boden, besonders in der einst ländlichen Au. Einfamilienhäuser und Terrassensiedlungen zogen sich am Dorfrand und ob dem Dorf immer höher hangaufwärts. Allein für das Dorfgebiet mussten zwei neue Primarschulhäuser, zwei Oberstufenschulhäuser und verschiedene Kindergärten gebaut werden. Die Nationalstrasse N 3 führte nun durchs Gemeindegebiet. Neue Gemeindestrassen entstanden; andere wurden verbreitert, damit u.a. der 1953 eingeführte Ortsbus besser verkehren konnte. Als Spielplatz waren die meisten zu gefährlich. Wohnstrassen und vielfach leider wenig attraktive Spielplätze wurden geschaffen. Im Ortskern hatten alte Bauten modernen Wohn- und Geschäftshäusern zu weichen.
Wädenswil in den 1950er Jahren.

Konzequenzen des Wandels

Wohin hat Wädenswils Wandel schon geführt? Zur Reduktion von Grünfläehen, zum Abbruch alter Bausubstanz, zur Bedrohung der Natur, zu Umweltbelastung, Energieproblemen, Verkehrslärm, Verknappung des Baulandes, Ausbau der Infrastruktur, hoher Verschuldung. Aber fairerweise sei es gesagt: Sicher auch zu guten, neuen, zeitgemässen Lösungen. Mit der Bau- und Zonenordnung von 1984 und der Bauordnung von 1993 wurden Grundsatzentscheide getroffen, nicht nur im Sinne des Wandels, sondern auch zugunsten der Konstanz.

Wädenswil wird Stadt

1974 entschieden sich die Stimmberechtigten für die Einführung der parlamentarischen Organisation. Ein grosser Gemeinderat mit 45 Mitgliedern ersetzte die frühere Gemeindeversammlung, der Gemeinderat wurde zum Stadtrat, die Gemeinderatskanzlei zum Stadthaus. Wer in Wädenswil aufgewachsen war und dort lebte, hatte Mühe mit der Neuerung. Und vielen geht es noch heute so: Wenn sie in die Stadt gehen, gehen sie nach Zürich. Bleiben sie in Wädenswil, gehen sie ins Dorf. Und wer in Wädenswil «in die Stadt» geht, ist meist nach 1974 zugezogen und mit örtlicher Tradition wenig vertraut und liest man in Zeitungsinseraten gar von Wohnungen in der Altstadt und von schönen Altstadtgassen, so schüttelt mancher Alteingesessene den Kopf.
Bahnhof Wädenswil.

Und dennoch ein Dorf

Administrativ mag und soll Wädenswil eine Stadt sein. Vom Charakter her ist es aber − zum Glück − ein Dorf geblieben. Ein Dorf mit schönen restaurierten alten Bauten und zugehörigen Gärten und Grünflächen, mit kultureller Eigenständigkeit und einem regen Vereinsleben. Ein Dorf mit guter sozialer Durchmischung, ein Dorf, wo man sich häufig noch grüsst. Heimatkundliche Exkursionen und historische Aufsätze finden reges Interesse. Das Bemühen mancher Neuzuzüger, in ihrer neuen Heimat rasch Wurzeln zu schlagen, ist deutlich spürbar. Denkmalpflege und Naturschutz stossen in breiten Kreisen auf Verständnis. Und das zehntägige «Wädi-Fäscht» zum Jubiläum «700 Jahre Johanniterkomturei» hat 1987 viel Identität mit dem Dorf, seinem Wesen und seiner traditionsreichen Vergangenheit gebracht. Dies gilt es auch in Zukunft wahren, als Gegensteuer zu Vermassung und Anonymität.
Gasthof «Ochsen» an der Ecke Lindenstrasse/Zugerstrasse.

Goldschmied Hess-Haus beim Zentral.


Blick von der Zugerstrasse in den Reblaubenweg, heute Standort Coop.


Areal Eidmatt mit Freischulhaus und Turnschopf.




Peter Ziegler