Aus dem Museum zur Hohlen Eich

Quelle: Jahrbuch der Stadt Wädenswil 1985 von Hans Scheidegger

Schreiben und Lesen

Im Frühsommer 1985 konnte im Museum zur Hohlen Eich eine neue permanente Schau eröffnet werden. In einem der hübschesten Zimmer des Riegelhauses an der Schönenbergstrasse 22 sind Dokumente, Briefe, Bücher, Hefte und Geräte zum Thema Schreiben und Lesen ausgestellt. Eine illustrierte Broschüre, die Interessenten gratis abgegeben wird, versucht, den Problemkreis in der Geschichte einzuordnen und ihn zu verdeutlichen.
Die Ausstellung zeigt anhand vor fast ausschliesslich Wädenswiler Dokumenten die Entwicklung der Schriftformen und des Schreibens, des Schreib- und Leseunterrichts sowie der Schreibgeräte und der Schriftträger. Während der Öffnungszeiten des Museums demonstriert der Kustos, Peter Friedli, kalligraphische Arbeiten auf Papier um Pergament. Daneben kann jeder Besucher mit Stahlfeder, Vogelkiel oder Rohrfeder selber schreiben. Meine Fünftklässler haben das mit grossem Vergnügen und guten Ergebnissen getan.
Im Rahmen einer kurzen Einführung lässt sich die Ausstellung natürlich nicht gültig beschreiben. Ich beschränke mich deshalb hier auf einige ausgewählte Aspekte.

Die Bedeutung der Schrift

Im Verkehr zwischen den Menschen wurde die Schrift unentbehrlich, sobald sich eine gewisse Arbeitsteilung ergeben hatte. In unserer Gegend war das während der Zugehörigkeit des Landes zum Römischen Reich und ab dem Mittelalter der Fall. Das profane Schreiben entwickelte sich zuerst an den Höfen, später in den immer bedeutender werdenden Städten. Aber auch für die Landbevölkerung war die Kenntnis der Schrift im Verkehr mit der Stadt und mit den Grundherren von Vorteil. Gewiss konnte nicht jeder Bauer schreiben − lesen schon eher −, aber die Forderung nach allgemeiner Alphabetisierung wurde immerhin bereits im Spätmittelalter erhoben. − Je vielfältiger die gesellschaftlichen und ökonomischen Verhältnisse wurden, umso stärker nahm das Bedürfnis nach schriftlicher Fixierung zu.

Die Schriftformen

Anhand ausgewählter − neu geschriebener − Beispiele wird die Entwicklung der abendländischen Schrift seit dem ersten Jahrhundert unserer Zeitrechnung gezeigt. Sie führt von der Römischen Capitalis bis zu den modernen Kurrentschriften, zu Stenographie und Blindenschrift. Die Darstellung der wichtigsten Schriftformen erleichtert dem Besucher die Einordnung und das Verständnis der Originaldokumente. Diese zeigen sehr deutlich die persönliche Ausformung der einmal gewählten Schriftart, angefangen bei einer äusserst zierlich und gekonnt geschriebenen Seite aus einer Biblia Latina (um 1290), über wuchtige, schwere Landschreiberschriften, flüchtig hingeworfene Briefe, saubere, elegante Kanzleiarbeiten und ungelenke Protokolle bis hin zur Schrift des Kindes und des schreibungewohnten Erwachsenen.

Schreibgeräte und Schriftträger

Griechen und Römer verwendeten − vorab als «Notizbuch» oder für Briefe − gerahmte Holztäfelchen, die mit Wachs ausgestrichen waren. Die Schriftzeichen wurden mit einem metallenen Griffel eingeritzt. Wurde der Text nicht mehr benötigt, so strich man das Wachs mit dem zu einem Spachtel verbreiterten hinteren Ende des Griffels wieder glatt, und die Wachstafel konnte erneut verwendet werden.
Ein später Verwandter der Wachstafeln ist die Schiefertafel, wie sie von den Glarner seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts hergestellt und verkauft wurde. Bis in die Mitte unseres Jahrhunderts schrieb man darauf mit Schiefergriffeln: dünnen, runden, vorn zugespitzten Stangen aus Schiefer. Wer in der Schule noch so schreiben gelernt hat, wird den quietschenden Ton, den der Griffel auf der Tafel erzeugte, nicht mehr vergessen. (Die ausgestellte Tafel stammt noch aus dem 18. Jahrhundert.)
Die ältesten Schriftträger sind Papyrus (in Ägypten aus dem Mark einer Sumpfpflanze hergestellt), Pergament (verfertigt aus ungegerbten Fellen junger Kälber, Schafe oder Ziegen) und später Papier, das nach chinesischem Rezept aus Lumpen hergestellt wurde. Auf diesen Schriftträgern schrieb man bis weit ins 19. Jahrhundert hinein vorwiegend mit Gänse- oder Schwanenkiel und mit Federn aus hölzernen oder metallenen Rohren. Die Wahl der Feder richtete sich nach dem Schriftträger. Für das Beschreiben von Papier eignete sich der weiche Vogelkiel sehr gut, auf Pergament schrieb man mit der harten Rohrfeder. − Je nach der Art der verwendeten Schrift schnitt man den Kiel spitz zu (Schriften mit Haar- und Schwellstrichen) oder schnitt die Spitze quer ab, so dass eine Breitfeder entstand, mit der die meisten alten und die kalligraphisch ausgezierten Schriften geschrieben werden.
1748 wurde zum ersten Mal eine Stahlfeder angefertigt, aber erst hundert Jahre später war sie dank maschineller Herstellung genügend billig geworden, um den Kiel und die Rohrfeder langsam zu verdrängen. Jetzt fiel das zeitraubende und recht heikle Zuschneiden des Kiels weg. Schon bald brachte die Industrie Dutzende von Federtypen − viele davon noch in verschiedenen Grössen − auf den Markt.
Zwar hatte man schon im 17. Jahrhundert versucht, Feder und Tintenbehälter zu kombinieren. Aber erst vor gut hundert Jahren gelangen die entscheidenden Erfindungen. So stellte Waterman ab 1883 eine Füllfeder mit einem Tintenbehälter aus vulkanisiertem Kautschuk her.
Ein aufklappbarer Hebel am Schaft drückte das Gummireservoir zusammen. Jetzt tauchte man die Feder tief in die Tinte und klappte den Hebel langsam hinunter; der Gummibehälter sog sich mit Tinte voll.
Das heutige Allerwelts-Schreibwerkzeug − der Kugelschreiber − wurde erst in den 1950er Jahren erschwinglich und brauchbar. Die ersten Geräte, die nach dem Zweiten Weltkrieg auf den Markt kamen, waren noch sündenteuer und hinterliessen einen «stotternden», schmierigen Strich. Weil man ihm nicht traute, war der Kugelschreiber noch lange Jahre für das Schreiben auf amtlichen Dokumenten nicht zugelassen. (In der schon erwähnten Broschüre wird auch die Entwicklung des Bleistifts dargestellt.)

Die Schreiber der ausgestellten Werke

Die ältesten ausgestellten Beispiele – es sind die einzigen, die nichts mit Wädenswil zu tun haben − sind, wie bereits erwähnt, von Mönchen geschrieben worden.
Breiter Raum wird den verschiedenen Dokumenten (Urteile, Kaufbriefe Erbteilungen usw.) aus der Kanzlei des Landvogts gewährt. − Wädenswil war von 1550 bis 1798 eine zürcherische Landvogtei. Der Kanzlei stand ein Landschreiber vor, der die wichtigeren Urkunden selber schrieb. Meist verfügte er neben seinem Fachwissen in Fragen der Verwaltung und der Rechtspflege über ein beachtliches kalligraphisches Können.
Als im 19. Jahrhundert auf den Gemeinde-, Bezirks- und Staatskanzleien immer mehr Arbeit anfiel, verfasste der Gemeinde- oder Staatsschreiber zwar noch die Texte; die Reinschrift aber besorgten Kanzlisten, die imstande waren, eine grosse Anzahl verschiedenster Zier- und Kurrentschriften vorbildlich zu schreiben. Das bezeugt etwa die reiche Urkunde von der Ernennung des Wädenswilers Diezinger zum Mitglied des Handelsgerichts. Fünf verschiedene Schriften hat der Kanzlist verwendet; der Staatsschreiber − es war Gottfried Keller − hat nur noch unterschrieben.
Etliche der ausgestellten Dokumente stammen von Laien. Neben einem zierlichen, in sorgfältig gehaltener Schrift verfassten Brief von Johann Caspar Lavater oder dem winzig geschriebenen Gedichtbuch des späteren Dekans Häfeli stehen Beispiele von nicht näher bekannten Erwachsenen und Kindern.

Schreiben und lesen lernen

Der Schreibmeister war im Mittelalter ein angesehener Berufsmann. Einerseits stand er Kunden zu Stadt und Land für kalligraphische Arbeiten zur Verfügung, anderseits war er je länger desto mehr auch der Schreiblehrer für Erwachsene und Kinder. Manche von ihnen haben als eine Art Schreiblehrgang sogenannte «Schreibmeisterbücher» verfasst, in Kupfer stechen lassen und herausgegeben. In der Ausstellung ist dasjenige des Berners J. J. Roschi aus dem Jahre 1789 zu sehen. Es wurde in Wädenswil von Heinrich Brupbacher in Kupfer gestochen.
Der Unterricht der guten Schreibmeister war sehr geschickt aufgebaut. Sie hatten die Buchstaben in mehrere Form-elemente zerlegt, die nun für sich gut geübt werden mussten, ehe der Schüler Buchstaben, Wörter und ganze Texte schreiben durfte. Im letzten Jahrhundert zerfiel dieser Unterricht immer mehr. Man liess die Schulkinder einfach Vorlagen so genau wie möglich kopieren. Aus jener Zeit stammt die ausgestellte Probschrift. Alle Kinder mussten jedes Jahr am Examen unter den strengen Augen von Lehrer, Schulpflege und Eltern eine Probschrift anfertigen, das heisst einen moralischen Text so schön wie möglich abschreiben.
Moderner Schreibunterricht gründet auf ein paar wenigen einfachen Bewegungsabläufen, aus denen alle Buchstaben der Schreibschrift aufgebaut sind.
Die Wandlungen in der Didaktik des Leseunterrichts in den vergangenen hundert Jahren belegen Fibeln, Erstlesehefte und Lesebücher aus alter und neuer Zeit.
Die Ausstellung versucht, auf knappem Raum einen Überblick über die vielfältigen Aspekte des Themas «Schreiben und Lesen» zu geben.




Hans Scheidegger