Die Sonderdienst der Primarschule in der Stadt Wädenswil

Quelle: Jahrbuch der Stadt Wädenswil 1984 von Regula Scheidegger

Ein breites Angebot

Unsere Primarschule bietet neben den Kleinklassen der Typen A (Einschulungsklasse, die den Stoff der ersten Klasse auf zwei Schuljahre verteilt), B (Kleinklasse für Lernbehinderte) und D (Kleinklasse für teilleistungsgestörte und verhaltensauffällige Kinder) eine Reihe gut ausgebauter Sonderdienste an. Sonder-Dienste? − Wie der Name sagt: Besondere Dienste für jene Kinder, die in irgendeiner Form benachteiligt sind und Hilfe brauchen. Diese Benachteiligung kann verschiedene Wurzeln haben: in der Anlage, in einer leichten hirnorganischen Störung des Kindes oder in dessen Umwelt. (Denken wir nur an die Belastung jener Gastarbeiterkinder, die aus einem völlig fremden Kulturkreis in unsere hochindustrialisierte Gesellschaft verpflanzt werden und sich darin zurechtfinden müssen.) Mit ihrem vielfältigen Angebot an Sonderdiensten versucht die Schule, allen Kindern die bestmöglichen Chancen zu bieten, Härten auszugleichen, Schulnot zu mildem.
Die wichtigsten Dienste möchte ich hier kurz erwähnen:
In der Logopädie werden Sprach- und Sprechstörungen behandelt (Stottern, Stammeln, Dysgrammatismus fehlerhafte Lautbildungen).
Die Legasthenie-Therapie erfasst jene Kinder, die bei normaler Intelligenz im Lesen und in der Rechtschreibung besonders Mühe haben.
Die psychomotorische Therapie befasst sich mit der Bewegung. Dem unbeholfenen, ungeschickten «Gstabi» wie dem unruhigen, zappeligen Kind kann in geduldiger Arbeit dazu verholfen werden, seine Bewegungen besser zu steuern. Die Behandlung erfolgt in einem vorwiegend rhythmisch-musikalisch gestalteten Unterricht durch besonders ausgebildete Psychomotorik-Therapeutinnen, in leichteren Fällen durch die Rhythmik-Lehrerin.
Bei vielen Kindern ist vor allem die Feinmotorik gestört, das heisst, es bereitet ihnen besonders Mühe, flüssig und gut schreiben zu lernen. Hier bringt die graphomotorische Therapie Hilfe. Sie wird ebenfalls von den Psychomotorik- Therapeutinnen erteilt.
In der Dyscalculie-Therapie (Therapie der Rechenschwäche) werden jene sonst normal begabten Kinder erfasst, denen der Umgang mit Zahlen ähnliche Schwierigkeiten bereitet wie den legasthenischen Kindern das fehlerfreie Lesen und Schreiben. Diese Therapie wird von speziell ausgebildeten Logopädinnen und Legasthenie-Therapeutinnen erteilt.
Psychotherapie. Bei den oben vorgestellten Therapien wird − notgedrungen − vorwiegend am Symptom einer psychischen oder organisch bedingten Störung gearbeitet. Der Psychotherapeut dagegen versucht, die Ursache der psychischen Störungen anzugehen. Deshalb ist die Therapie meist langwierig und der Erfolg nicht immer offensichtlich.
Legasthenie-Unterricht: Zuordnen eines Wortbildes zum Bild.

Deutsch-Unterricht für Fremdsprachige. Kinder, die direkt aus eine fremden Sprachgebiet zu uns komme erhalten auf Kosten der Schule so lange Privatstunden, bis sie dem Unterricht ihrer Klasse − ihrer Begabung entsprechend − einigermassen folgen können.
Die Aufgabenhilfe betreut jene Kinder, die daheim bei den Hausaufgaben von niemandem beaufsichtigt werden können.
Der Hort steht jenen Kinde offen, die sonst zu «Schlüsselkindern würden, weil beide Eltern berufstätig sind. Mit grossem Einfallsreichtum und viel Hingabe gestalten die Hortnerinnen die schulfreien Zeiten ihrer Kinder. Seit einigen Jahren werden die Horte in den Schulhäusern Eidmatt, Glärnisch und Au als Tageshorte mit Mittagsverpflegung und Morgenessen geführt.
Man mag sich vielleicht fragen, weshalb ausgerechnet in Wädenswil ein derart breites, gut ausgebautes und kostspieliges Angebot an vielerlei Hilfen nötig sei, gäbe es doch rings um den Zürichsee weitaus finanzkräftigere Gemeinden, die all das eher zu leisten vermöchten. Es geht aber eben − wie zu Anfang gesagt − um eine Hilfe für die Benachteiligten, Schwachen, um ein Stück Entwicklungshilfe im eigenen Land. Wädenswil, eine der früh industrialisierten Gemeinden, kennt weit gewichtigere Ausländer- und Unterschichtenprobleme als die Gemeinden am Sonnenufer des Zürichsees.
 

Aus der Arbeit einer Legasthenie-und Dyscalculie-Therapeutin

Nun erzähle ich aus meiner Arbeit als Legasthenie- und Dyscalculie-Therapeutin:
Als ich im Frühling 1976 die Arbeit mit legasthenischen und − wenigen − rechenschwachen Kindern aufnahm, war mir offen gestanden recht Angst vor dieser Aufgabe. Bisher hatte ich die ganze Breite, Fülle und Tiefe des Schulalltags mit meinen Primarschulklassen miterleben dürfen, und nun sollte sich meine Arbeit mit einem Mal auf die − wie mir schien − blutleersten Stoffgebiete der Schule beschränken: auf die Lesefertigkeit, die Rechtschreibung und auf das «Zahlenbeigen» der Arithmetik. Und zudem sollte ich es nur mehr mit jenen Kindern zu tun haben, die dem Lehrer keine Erfolgserlebnisse bieten konnten, weil sie im Rahmen der Klasse versagten, mit Kindern, die ja nicht freiwillig zu mir kamen, sondern mir geschickt wurden, und die von ihren schulischen Misserfolgen zum Teil schon recht geprägt waren.
Hier muss allerdings noch gesagt werden, dass die Klassenlehrer dieser Kinder in der Regel keine Schuld trifft an ihrem Versagen; das Schreckbild jenes Pädagogen, der die leistungsschwachen Kinder diffamiert, plagt oder gar vor der Klasse blossstellt, habe ich in meiner jahrelangen Zusammenarbeit mit den Klassenlehrern nie getroffen. Die Beziehungen dieser Kinder zu ihrem Klassenlehrer sind fast durchwegs gut und von erstaunlicher Tragfähigkeit auf beiden Seiten; mit viel Verständnis und Einfühlungsvermögen versuchen die Lehrer, ihren Problemschülern gerecht zu werden. Nein, die Schwierigkeit liegt in der Natur der Sache: Dort, wo messbare Leistung im Mittelpunkt stehen muss − und ich meine, unsere Schule dürfe nicht gänzlich darauf verzichten − wird das leistungs- und lerngestörte Kind zwangsläufig zum Versager. Die Toleranz in Bezug auf die Rechtschreibung ist eben bei uns sehr klein, und im Rechnen gar ist sie gleich Null. Sich der hohen Normierung der Schriftsprache und der Zahlengesetze zu unterziehen, verlangt viel vom Kind.
Legasthenie-Unterricht: Tastübung.

Wenn die Kinder mir von der Logopädin oder vom schulpsychologischen Dienst zur Therapie zugewiesen werden − im günstigsten Fall bereits im Lauf der zweiten Klasse, in der Regel anfangs der dritten Klasse nach der Reihenabklärung, oft aber auch erst in der vierten − so versuche ich als erstes, den Kindern zu Erfolgserlebnissen zu verhelfen und so ihr angeschlagenes Selbstvertrauen wieder aufzubauen. Die grosse Chance der Therapie, besonders der Einzelstunden: Dort arbeiten zu dürfen, wo das Kind wirklich steht, nicht dort, wo es nach dem Leistungsstand seiner Klasse stehen müsste. Dort auch, wo die persönlichen Interessen des Kindes liegen, sei es in Tiefseeforschung, Geschichte des Rittertums oder der Urzeit, Mineralienkunde oder Flugmodellbau. − Lesen und Rechtschreibung lassen sich an jedem Stoffgebiet lernen und üben. Der Aufbau in kleinen und kleinsten Lernschritten lässt das Kind seine Fortschritte spüren, gibt ihm nach und nach das Erlebnis einer gewissen Sicherheit und so wieder Boden unter die Füsse. Abwechslungsreiche Stunden in einem freundlich ausgestalteten Therapiezimmer, viel selbstgebasteltes, ansprechendes Übungsmaterial, das nicht von Misserfolgen bereits zum Voraus belastet ist, möglichst vielfältige spielerische Übungsformen, all das hilft mit, dass die Kinder diese Stunden − die sie in der Regel zusätzlich zum Schulunterricht besuchen − nicht als Last empfinden. Wenn sie gern zur Therapie kommen, sind die Erfolgs-Chancen grösser.
Legasthenie-Unterricht: Tastübung.

Legasthenie-Unterricht: Lautierübung.

Der zeitliche Hauptanteil der Therapiestunden gehört selbstverständlich immer der Arbeit am Stoff (das heisst am Symptom der Störung): Laute, Buchstaben, Buchstabengruppen, Lautverbindungen, Lesetechniker und Rechtschreibregeln werden auf immer wieder neue, spielerische Art geübt und gefestigt. Im Rechnen wird Schritt für Schritt der Zahlenraum aufgebaut, gefestigt und erweitert. Grundrechnungen werden geübt, Zahlbeziehungen erarbeitet. In jede Stunde gehören aber auch einige Wahrnehmungs- und Sinnesübungen. Sie geben mir dir Möglichkeit, die Störung doch auch an der Wurzel anzugehen. Übungen und Spiele für genaues Beobachten und differenziertes Zuhören, zur Schulung des rhythmischen Gefühls, des Raum Empfindens, der Formerfassung − sie lockern die Stunden auf und können sogar bisweilen den Kindern echte Erlebnisse vermitteln. Am wichtigster scheinen mir in diesem Zusammenhang die Übungen für den Tastsinn. «Ist es möglich, dass es so vielerlei Blätter gibt auf der Welt!» ruft ein Kind erstaunt aus, das zum ersten Mal in seinem Leben die harte Glätte eines Rosenblattes, die pelzige Weichheit der Zimmerlinde mit den Fingern tastend erfahren hat. Die kühle Schwere eines Bachkiesels, die Feinheit und Wärme eines geschliffenen Holzstücks zum Beispiel − das sind für viele unserer «Fernsehkinder» neue Sinnes-Erfahrungen, die ihnen ein ganz klein wenig helfen sollen, die Welt zu begreifen.
Hier nun einige ganz persönliche Bemerkungen zur Rechenschwäche. Böse Zungen behaupten, die Dyscalculie sei zusammen mit der neuen Mathematik «erfunden» worden. Es trifft sicher zu, dass die neuen, zum Teil noch etwas unübersichtlich aufgebauten Lehrmittel vor allem der Unterstufe für Kinder mit wenig beweglicher Intelligenz mehr Stolperstellen eingebaut haben als der Rechenunterricht nach herkömmlichem Muster. Einige ganz wesentliche Ursachen − hier abgesehen von den leichten hirnorganischen Störungen, die sowohl eine Legasthenie als auch eine Dyscalculie bewirken können − sehe ich jedoch in den Bedingungen unserer Gesellschaft, unserer Umwelt:
Vielen Kindern fehlen in ganz entscheidendem Masse die elementarsten Erfahrungen im Umgang mit Dingen. Sie haben nie im Spiel erlebt, wie Steine, Sand und Wasser sich mit- und gegeneinander verhalten, nie die Kräfte des fliessenden Wassers beim Spielen im Bach erprobt, nie beim Drachensegeln den Wind erfahren. Ihnen fehlen später die nötigen Begriffe der elementaren Physik und Geometrie, ohne die der Aufbau des Rechnens nicht möglich ist.
In unserer westlichen Zivilisation war bis vor wenigen Jahren die Person des Vaters die Verkörperung der Autorität. Er bestimmte die Grenzen, innerhalb derer sich das Kind bewegen durfte, stellte die Ordnung her, bestimmte sozusagen die Regeln im Spiel des Lebens. Nun sind ja sowohl das Rechnen als auch die Orthographie auch eine Art Spiele nach sehr bestimmten, genau definierten Regeln. Hat ein Kind eine gestörte Vaterbeziehung, kennt seine Erziehung entweder gar keine oder aber allzu starre Ordnungen und Regeln, so wird ihm der Umgang mit Zahlen und Rechtschreibregeln wahrscheinlich auch Mühe bereiten.
Was ist nun aber eigentlich das wirklich Wesentliche in den Therapiestunden? Wir können ja weder unsere Gesellschaft noch das häusliche Umfeld unserer Kinder ändern. Wir können in geduldiger, liebevoller Kleinarbeit einiges aufbauen und heilen, doch zaubern können wir ja nicht. Das wirklich Wesentliche der Therapie, meine ich, geschieht eigentlich «zwischen den Zeilen» der Therapiestunden, in der unmittelbaren, lebendigen Beziehung zu eben diesem Kind, in der ungeteilten Aufmerksamkeit für das Kind, die einen spüren lässt, was gerade dieses Kind in diesem Augenblick braucht. So ist jede Therapie ein Wagnis, und es lässt sich nie zum Voraus sagen, ob und wie rasch ein Erfolg sich einstellen wird.




Regula Scheidegger