Wädenswiler Jugend: Multikultureller Austausch

Quelle: Jahrbuch der Stadt Wädenswil 2017 von Ingrid Eva Liedtke

Jessica, Carlos, Souzana und Anastasija, sind Jugendliche. Sie haben vieles gemeinsam. Sie leben in Wädenswil. Sie besuchen die Sekundarschule oder sind seit ein paar Wochen in der Lehre. Sie sind jung und sie haben Träume. Sie haben einen Migrationshintergrund. Nur Jessica ist Schweizerin. Was unterscheidet diese jungen Leute wirklich voneinander? Sind es ihre verschiedenen kulturellen Hintergründe? Ist es die Sprache? Ist es die Religion? Was kann sie verbinden?
Alle vier sind Teenager, sind Menschen, die das Leben vor sich haben. Sie leben in unserer Stadt, in Wädenswil, dessen Zukunft sie vielleicht mitgestalten werden. Darum ist es interessant und eventuell entscheidend, wie gut sie einen Weg finden können, sich in unserer Mitte zu integrieren und was wir und ihre Kameraden in der Schule und Freizeit dazu beitragen können, ihnen dies zu erleichtern. Ist es nicht sinnvoll herauszufinden, wie wir uns alle, gleich welchen Hintergrunds, verständigen und verstehen können? Wir werden zukünftig denselben Lebensraum teilen, ebenso wie das Bedürfnis nach Frieden und Glück. Die Herausforderung in dieser multikulturellen Gesellschaft wird sein, diesem Bedürfnis Taten folgen zu lassen. Dazu könnten sowohl Unterschiede wie auch Gemeinsamkeiten als Quellen der Inspiration dienen.
Wie können wir uns annähern und Fremdheit überwinden? Wie lernen wir einander zu verstehen? Besitzen junge Menschen allenfalls darin mehr Leichtigkeit? Wie begegnen sie sich? Wie geht es Migranten in der Schule, in einem oft total neuen Umfeld, wo sie anfangs nicht einmal die Sprache verstehen? Wie werden sie von ihren Schweizer Kollegen aufgenommen?
Ich habe sie gefragt und sie haben mir ihre Geschichten erzählt ... und dann haben wir uns zusammengesetzt und ausgetauscht an einem ihrer Treffpunkte, im Jugendhaus Sust.

Jessica

Jessica Delco, 15, ist Schweizerin, eine gewissenhafte, junge Frau. Sie hat das hier in der Schweiz so gelernt. Das Aufregendste an ihrem Stammbaum seien wohl ihre Tessiner Wurzeln, meint sie. Bisher hat sie nichts sonderlich hinterfragt. Sie hat gemeint, man muss halt in der Schule vieles lernen und dabei möglichst keine Fehler machen, dann gehört man eher zu den leistungsstarken Schülern. Jetzt ist sie in der Lehre und erste Zweifel am System tauchen auf. Sie hat mir Folgendes geschrieben:
«Ich bin Jessica, 15, und lebe seit meiner Geburt in Wädenswil, jetzt mit meiner Mutter und meinem Stiefvater. Mein Vater lebt in Willerzell SZ. Ich habe die Sekundarschule A abgeschlossen und mache jetzt eine KV-Lehre.
Jessica Delco.

Ich habe ein paar gute Freunde, die einen Migrationshintergrund haben, und habe auch miterlebt, wie Flüchtlinge in der Schule integriert wurden. Viele meiner Kollegen stammen aus Italien, Portugal oder aus dem Nahen Osten. Bei den meisten gibt es gar keinen Grund, über Flucht zu sprechen, denn sie wurden schon in der Schweiz geboren. Mit neuen Flüchtlingen haben wir anfangs nicht darüber gesprochen. Vielleicht ergeben sich mit der Zeit Gelegenheiten, um darüber zu sprechen.
Eine Verständigung ist anfangs oft sehr schwierig, denn sie verstehen wenig Deutsch und sprechen können sie es schon gar nicht. Und mit dem Englisch ist das auch so eine Sache. In unserer Schule wurden Migranten von den meisten Mitschülern sehr schnell aufgenommen und wie normale Schüler behandelt. Das schätzten diese auch immer sehr. Allerdings gab es auch ein paar Schüler, die gegen «Ausländer» waren und leider gab es auch Mobbing deswegen. Ich wurde so erzogen, dass man jedem eine Chance geben muss. Darum habe ich versucht, den Migranten in der Schule zu helfen und sie zu integrieren, damit es ihnen besser geht. Ich möchte ja nicht in ihrer Haut stecken. Ich konnte damit einige Kollegen mitziehen. Wenn man einfach offen ist und mit Händen und Füssen kommuniziert, geht es. Wir haben uns Zeit gelassen und so brachten wir ihnen auch immer mehr bei, wie man sich zu verständigen hat.
Schwierig ist es dann, wenn die Jugendlichen gar nicht bereit sind, sich auch uns anzupassen oder wenn sie unsere Hilfe nicht annehmen wollen. Die kulturellen Unterschiede sind manchmal sehr gross, manchmal weniger. Nur wenige Mädchen sind sehr gläubig und tragen ein Kopftuch. Anderen scheint ihre Kultur nicht sehr viel zu bedeuten.
Vom Staat wünsche ich mir, dass es der ganzen Schweiz, wie zum Beispiel im Kanton Basel-Stadt, einen gratis Sprachkurs für Migranten gibt, den sie im ersten Aufenthaltsjahr besuchen können. Von der Schule wünsche ich mir, dass sie zwei Tage im Jahr einführt, an denen es nur um neue Schüler aus dem Ausland geht. Es soll auch mehr darüber aufgeklärt werden, was die Jugendlichen alles durchgemacht (Flucht etc.) haben, so dass lästige Fragen gar nicht erst entstehen.
Ich finde die Jugendarbeit macht einen sehr guten Job und zeigt sich viel in der Schule oder auf Veranstaltungen. Vielleicht sollten die Sozialarbeiter auch gezielt in Klassen gehen, in denen Flüchtlinge untergebracht sind und dort mit ihnen arbeiten. Ich wünsche mir von den Migranten, dass sie auch offen sind, um sich in unserem Land richtig zu integrieren. Ich wünsche mir, dass sie sich auch bemühen und die Hilfe der Behörden oder von Aussenstehenden annehmen.
Ich bekomme immer mehr mit, dass die Eltern der Jugendlichen sich nicht für unser Land und unsere Sprache interessieren und deswegen die Kinder auch Hemmungen haben, mit ihren Eltern über die Schule oder Sonstiges zu sprechen. Klar sind nicht alle Eltern so, aber ich wünsche mir einfach, dass sie ihre Kinder unterstützten bei dem, was sie tun oder tun wollen.»

Souzana

Souzana Ali ist 15 Jahre alt und lebt seit 4 Jahren in der Schweiz. Vorher hat sie bei ihrer Grossmutter in Ägypten gelebt. Sie schrieb mir:
«Jetzt lebe ich hier mit meiner Mutter Rasha, meinem Stiefvater Ahmed, meinem Bruder Mustafa, 10, meiner Schwester Yasmine, 8, und meiner kleinen Schwester Linda. Sie ist erst 3½. Mein leiblicher Vater, den ich nicht kenne, ist Italiener. Ich habe sieben Jahre bei meiner Oma in Ägypten gelebt. Dann wollte mich meine Mum meinen Halbgeschwistern vorstellen und endlich mit der ganzen Familie zusammenleben. Also bin auch ich in die Schweiz umgezogen.
Manchmal habe ich die neue Umgebung gehasst, da alles ungewohnt war. Ich kannte niemanden und alle redeten eine andere Sprache. Das war sehr schwierig – alles war sehr schwierig. Aber ich musste mich daran gewöhnen, das ist nun mal jetzt mein neues Leben. Die Schule hier ist besser, die Lebensqualität ist eigentlich ok, trotzdem wünschte ich, ich wäre noch in Ägypten.
Die kulturellen Unterschiede waren anfangs schwierig für mich, aber ich habe nicht aufgegeben und jetzt habe ich mich gut eingewöhnt. Allerdings finde ich es ziemlich blöd, dass ich mich nicht so anziehen darf wie die Anderen oder keinen Freund haben kann, weil meine Mutter sagt, dass Gott das so will. Ich musste lernen damit umzugehen und muss es heute noch. Aber bis jetzt hab ich es gut geschafft.
Souzana Ali.
Vieles war anders hier und komisch für mich, schon von der Sprache her ist es krass und auch dass hier alle so freizügig herumlaufen ist auch ganz anders. Ich kann es nicht schlucken, dass manche immer noch etwas gegen Moslems haben. Ich meine, es ist doch einfach egal, ob jemand in der Kirche oder in der Moschee betet!
Im Grossen und Ganzen fühle ich mich ganz gut aufgenommen. Ich finde alle sind hier ganz ok. Die meisten sind auch total nett. Das hat sich aber erst nach 3 Jahren so richtig gezeigt. Neue Freunde zu finden und sich auch den Anderen anzupassen, fiel mir anfangs wirklich schwer. Jetzt ist es ganz leicht. Das Wichtigste ist, dass man offen ist und positiv denkt. Man muss auch mal loslassen können, nicht nur nach neuen Menschen suchen, sondern auch nach neuen Betätigungen.
Zu allererst muss man aber die Sprache lernen! Die sollte man gut beherrschet. Dann sollte man Ziele haben und für etwa leben, um dem Leben einen Sinn zu geben. Die Haltung, dass einem alles scheissegal ist, solange man nicht verhungert, finde ich schlecht. Für uns Jugendliche ist das alle wohl einfacher. Man lernt schneller und leichter.
An den Schweizern mag ich besonders, dass sie offen sind und ehrlich ihre Meinung sagen, auch wenn sie meistens extrem zurückhaltend sind. Meiner Erfahrung nach sind Schweizer entweder total nett oder dann extrem unsympathisch. Ich wünsche mir, dass man mir einfach normal begegnet. Die Menschen müssen nicht ihre Schokoladenseite hervorkehren, sich irgendwie verstellen, sondern einfach natürlich und sich selber sein. Hier werden Jugendliche respektvoller behandelt und anders als Erwachsene. Ich finde es wichtig, dass auch wir respektiert werden und nicht nur Schweizer Kinder.
Mir ist bewusst, dass ich hier viel sicherer leben kann, alleine in der Stadt herumlaufen kann ohne das Gefühl zu haben, jemand würde mich belästigen oder mir etwas Schlimmes antun.
Ich kann hier auf der Schule besser und mehr lernen und es macht mir mehr Spass. Klar, möchte ich eigentlich wieder in meine Heimat zurück, aber hier ist es mir möglich, eine Zukunft zu planen und aufzubauen.»

Carlos

Carlos möchte im Vornherein nicht zu viel preisgeben. Lieber will er in der Gruppe über sich und seine Ansichten sprechen. Er schrieb mir:
«Mein Name ist Carlos Martins, ich komme aus Angola (Afrika), aber ich bin in Portugal aufgewachsen. Ich habe eine schöne, grosse Familie mit vier Schwestern Alice, 23, Neusa, 21, Cleusia, 19, Ich, 17 bin der einzige Sohn und Rute, 10, und die Eltern André, 51 und Rosa, 47. Aufgrund der finanziellen Lage in Portugal kam mein Vater in die Schweiz, um Arbeit zu finden. Ein Jahr später kam meine Mutter und nochmals ein Jahr später kamen Rute, Cleusia und ich. Alice und Neusa blieben in Portugal, da sie die Universität besuchen. Diese Trennung war ein bisschen traurig für uns, aber schnell hatte ich es überwunden. Ich dachte einfach: „Die Tränen können die Situation nicht ändern!“ Wir mussten uns auch von unseren Freunden, Klassenkollegen und von den lieben Geschwistern von unserer Kirchgemeinde verabschieden.
Zurzeit lebe ich hier schon seit drei Jahren. Nach den Sommerferien werde ich die neunte Klasse wiederholen, aber in der Sek A, im neuen Schulhaus Rotweg. Der Anfang war ein bisschen schwierig, wir mussten Deutsch lernen, neue Freunde finden und die Schweizer Kultur kennenlernen ...
Carlos Martins.
aber mit der Zeit wurden wir immer besser darin und wir genossen alle Gelegenheiten, die uns gegeben wurden. Jetzt fühle ich mich gut hier.»

Im Gespräch über die Schule, Langeweile und das Aufgehobensein

Am 21. August, an einem warmen Sommerabend, haben wir uns mit Michelle Tenger von der Jugendarbeit in der Sust Wädenswil zur Gesprächsrunde getroffen. Zwei weitere eingeladene Jugendliche haben abgesagt. Auch Angst kann die Nähe und das Vertrauen behindern, das es braucht, um offen und ehrlich über seine Situation zu sprechen. Schlussendlich waren wir zu sechst: Carlos, 17, Jessica, 15, Anastasija, 17, Souzana, 15, Michelle und ich, 53, Mutter von drei Kindern im Alter von 22 und 25.
Ich habe ein paar zusätzliche Fragen, die mir vorgängig durch den Kopf gingen, mit dabei. Ich trage sie in meinem gedanklichen Handgepäck: Was ist uns in der Schweiz wichtig? Unsere Sprache? Unsere Kultur? Menschenrechte? Frauenrechte? Wie weit lässt sich darüber diskutieren? Wo geht es um Toleranz dem Anderen, dem Fremden, gegenüber? Wo müssen oder wollen wir Schweizer klare Grenzen setzen, um unsere eigene Kultur und unsere Rechte in diesem Land zu wahren und zu schützen? Kann dies ein Rahmen sein, um Neuankömmlingen die Chance zu geben, sich «richtig» zu verhalten. Lernen dies nicht gerade die Jungen am schnellsten?
Junge Migranten gehen sofort in die Schule und treffen dort auf Gleichaltrige. Vielleicht sind sie sich alle sowieso ähnlich in ihren Anliegen und in ihrer jugendlichen Phase des Umbruchs. Wir haben uns zusammengesetzt und uns ausgetauscht, darüber was sie, die Jungen, brauchen, was sie bereit sind zu tun und was sie von ihrer Umgebung erwarten, was sie sich erhoffen oder einfach, wie sie sich hier bei uns fühlen.
Die Erfahrungen in der Schule sind für alle prägend. Dabei zeigt sich, dass die Sprache ein unabdingbares Erfordernis ist. Sobald die drei ihre Lehrer und Mitschüler besser verstanden haben, konnten sie anfangen zu lernen und Freundschaften zu knüpfen.
Anastasija, 17, aus der Ukraine, erzählt als Erste, wie schwierig der Anfang hier war. Für sie war es besonders schwer. Sie kommt aus der Ukraine und hat zuerst die Sprachschule in Zürich besucht, um Deutsch zu lernen. Sie empfand diese Zeit als sehr schwer, weil sie mit niemandem reden konnte, und niemand konnte russisch. Sie fühlte sich einsam. Die Sprachbarriere blieb gross, sodass sie nicht ihrem eigentlichen Können entsprechend geschult werden konnte. Sie wurde in die Sekundarschule C eingeteilt. In der Ukraine habe sie viel mehr Fächer gehabt, zum Beispiel Chemie und Physik schon in der 5. Klasse. In Mathematik und Geometrie sei sie immer sehr gut gewesen.
Anastasija macht jetzt eine Lehre im Detailhandel, von der sie nicht vollends überzeugt ist. Es scheint, als gehe so viel mehr in ihrem Kopf ab, als sich momentan entfalten kann und auch ihre kreativer Energien werden durch den täglicher Kampf beschnitten. Sie hofft auf eine Zukunft mit weiteren Ausbildungschancen in einer Richtung, die ihr eher entspricht Anastasija ist kritisch und sie denkt über vieles nach. Sie langweilt sich oft, weil sie niemanden hat, mit dem sie darüber reden kann. Ein Lehrer, sagt sie, hat ihr sehr geholfen, weil er als Serbe aus einem ähnlichen Kulturkreis kommt und ihre Sprache verstanden hat. Doch: «Besonders schön war es, als mein Freund noch hier war. Wir haben viel zusammen unternommen. In dieser Zeit ging es mir sehr gut und so war auch meine Motivation grösser. Dann musste er zurück in die Ukraine. Jetzt ist alles wieder so ... » ihr fehlen die Worte. In der Ukraine seien die Menschen viel offener und lebendiger. In den Städten sei immer etwas los auf den Strassen. «Mein Leben hier findet auf der Arbeit statt und dann im Bus nach Hause», meint sie etwas frustriert.
Jessica fragt nach Hobbys, doch Anastasija fühlt sich zu kraftlos dafür. Sie malt gerne, aber auch dazu fehlt ihr die Energie. Die Schweizerin Jessica kann das verstehen. Auch sie findet es streng in ihrer KV-Lehre. «Ich gehe morgens arbeiten, dann gehe ich heim, esse und dann ist schon Zeit fürs Bett. Manchmal gehe ich zu meinem Pferd, aber wir mussten eine Hilfe engagieren, weil ich nicht mehr jeden Tag Zeit dazu habe. Es kommt mir vor, als lebe man nur für die Arbeit und dann vielleicht noch für die Ferien. Hier in der Schweiz muss man sich so früh entscheiden und dann binden. Es fängt ja schon in der fünften Klasse an. Da müssen wir schauen, dass wir möglichst in die Sek A kommen.
Anastasija.

Papagei, gemalt von Anastasija.
Dann geht es weiter in der Oberstufe, mit Schnuppern und Lehrstellensuche.» Sie empfindet die Anforderungen, die an sie und ihr junges Leben gestellt werden, als hoch. «Wie viel schwieriger ist es dann wohl für die Migranten?», fragt sie.
Carlos ist positiv und sieht es entspannter, obwohl er sich mit seinen 17 Jahren in der Sek schon ein wenig alt fühlt. Seine ersten Erfahrungen mit der Sprache waren nicht so schlimm, da er vorher in Portugal gelebt hat und portugiesisch spricht. «Spricht man eine lateinische Sprache, ist es einfacher. Man kann sich in Italienisch, Spanisch, auch auf Französisch einigermassen gut unterhalten. Auch für ihn war die erste Zeit in der Schule eine Herausforderung, aber: «Das hat halt mit uns selber zu tun, weil wir aus einem anderen Land kommen. Da muss man irgendwie durch, es aushalten, lernen, dann wird es besser und es lohnt sich. Meiner Meinung nach ist das System in der Schweiz sehr gut, viel besser als in Portugal. Die Lehren, die man hier machen kann sind anspruchsvoll und qualitativ gut.»
Michelle: «Aber es stimmt schon, hier leben wir, um zu arbeiten. Das ist manchmal ganz schön anstrengend. Das geht wohl oft auf Kosten dieser Lebendigkeit, die ihr jungen Leute hier vermisst.» Auch Souzana beklagt den Mangel an Lebendigkeit und erzählt vom Leben, das sich in Ägypten auf den Strassen abspielt, von den Läden, die immer geöffnet sind, den Cafés, in denen man sich trifft. Da sind die Mädchen mit dabei – natürlich in Begleitung! Hier in Wädenswil darf sie nach 18.00 nicht mehr auf die Strasse und muss um 21.00 Uhr im Bett sein, weil nur unanständige Mädchen noch draussen sind. Sie darf auch nicht bei einer Freundin übernachten.
Anastasijas Langeweile und ihr Bedauern über die fehlende Lebendigkeit hier rufen wehmütige Erinnerungen hervor an gesellige Abende an ukrainischen Stränden, wo Jugendliche sich treffen, sich zueinander setzen und musizieren und singen. «Dazu braucht man kein Geld, nur ein paar Leute und Musik.»
Carlos verweist auf sein Aufgehoben-Sein in einer christlichen Glaubensgemeinschaft und die Wichtigkeit, irgendwo dazu zu gehören. Und somit kommen wir auf den Einfluss der Religion zu sprechen. Alle sind sich sehr schnell einig, dass niemandem ein Glaube aufgedrückt werden sollte: dass man für den rechten Glauben kein Kriege führen oder Menschen unterdrücken und verachten darf.
Souzana arrangiert sich mit den muslimisch motivierten Vorschriften, die ihr von ihrer Mutter gemacht werden. «Ich darf einfach keine kurzen Shorts tragen, kann mich aber doch stylish kleiden. Dass ich keinen Freund haben darf und eine eigene Wohnung erst, wenn ich einen Mann habe, der Moslem ist, das nervt. Aber es gibt ja auch hübsche Moslemmänner!» Sie ist erst fünfzehn. Sie spricht fliessend und akzentfrei Schweizerdeutsch, ist aufgeweckt und intelligent. Vielleicht wird sie sich eines Tages von allen Vorschriften befreien. Den Hass auf Moslems lehnt sie ab, aber auch ihre fundamentalistischen Glaubensbrüder und -schwestern. «Die sprechen nicht mal mit mir! Sie verderben unseren Ruf.»
Für Carlos, der einmal Priester werden will, geht es vor allem um Liebe. Er sieht darin ein übergeordnetes Glaubens-Prinzip, das nicht an eine Religion gebunden sein muss. In seiner christlichen Glaubensgemeinschaft fühlt er sich aufgehoben. Man lebt zusammen, hilft einander, singt, betet, feiert Feste. «Was wir Menschen aus unserer Religion machen, ist unsere Verantwortung. Natürlich finden wir es auch besser, wenn jemand einen Partner desselben Glaubens heiratet, aber das ist nicht obligatorisch. Jeder sollte selber entscheiden. Wir Menschen sind alle gleichberechtigt.» Carlos sieht auch seine Integration hier in diesem Licht. Er kann sich nicht erinnern, je wegen seiner dunklen Hautfarbe diskriminiert worden zu sein. Im Gegenteil. Die Mädchen fänden sein Aussehen interessant und exotisch, bemerkt er mit schalkhaftem Grinsen. Carlos übernimmt die Verantwortung für sein Glück. Sein Glas ist halbvoll und er sieht viele Chancen.
Und so kommen wir schnell zum nächsten Thema: Gleichberechtigung! Frauenrechte? «Für unsere Generation kein Thema mehr!», meint Jessica. Souzana sagt: «Mein Stiefvater macht nichts, wenn er keine Lust hat. Aber ansonsten ist es hier für Frauen schon besser». Michelle Tenger macht auf die immer noch nicht durchgesetzte Lohngleichheit aufmerksam. Doch das Thema scheint für die jungen Frauen noch zu weit weg zu sein. Die eigenen nächsten Schritte und Möglichkeiten sind präsenter.
Draussen ist es schon dunkel, als wir uns verabschieden an diesem lauen Abend. Wir sind alle glücklich, dass diese Gesprächsrunde so überaus spannend und anregend verlaufen ist.

Ein Fazit der Sozialpädagogin

Im Anschluss an diesen Abend möchte ich von der Sozialpädagogin Michelle Tenger wissen, wie sie unser Treffen mit den Jugendlichen erlebt hat:
 
Was für einen Eindruck hat unser Gespräch mit den Jugendlichen bei Dir hinterlassen?
Die Gefühle während des Gesprächs haben sich von Trauer, Mitgefühl zu Freude und Tatendrang gewandelt. Das Gespräch empfand ich als sehr wertvoll. Alle haben ihre eigene, individuelle Geschichte und doch gibt es Situationen, die alle ähnlich erlebt haben. Jedoch ist der Umgang damit sehr unterschiedlich. Ich denke, die Vorgeschichte wie auch die vorhandenen Ressourcen und Handlungsmöglichkeiten kommen bei jedem individuell zum Tragen. So kommt jemand gestärkt aus einer Situation heraus – und für eine andere Person war es ein Tiefschlag.
 
Irgendwie sind doch alle gleich in ihren Träumen und Hoffnungen! Siehst Du das auch so? Was ist Deine Erfahrung in der Jugendarbeit?
Ja, das ist mir auch aufgefallen. Es spielt keine Rolle, dass die Jugendlichen aus den unterschiedlichsten «Ecken» dieser Welt kommen. Dies zeigte das Gespräch auf eine so wunderbare Art und Weise: Die jungen Menschen haben dieselben Bedürfnisse und Wünsche. Zum Beispiel möchten sie glücklich und unbeschwert sein, Freunde haben und ihr junges Leben geniessen. Sie gehen durch die gleichen Lebensphasen, haben ähnliche Themen, die sie beschäftigen. Dies sehen wir auch in der Jugendarbeit.
 
Was brauchen gerade Jugendliche mit Migrationshintergrund? Was brauchen sie am dringendsten, wenn sie in die Schweiz kommen?
Die Hürden, die es zu nehmen gilt, sind: Die Sprache ist eine Brücke, die ungemein wichtig ist, um sich mitteilen und Kontakte knüpfen zu können. Oder auch die Schule: Einige haben die Situation in der Lilo (Lernlandschaft) geschildert. Sie sassen da und wussten überhaupt nicht, was von ihnen verlangt wird. Dann wissen sie oft nicht, ob sie in der Schweiz bleiben können. Oder sie sorgen sich um die Eltern (was wirklich nicht ihr Problem sein sollte). Das alles belastet und zeigt, dass junge Migrantinnen und Migranten viele Herausforderungen bestreiten müssen. Und dennoch: Sie möchten teilhaben, sich am Leben hier in Wädenswil beteiligen und ein Teil davon sein. In der Jugendarbeit merken wir schon auch, dass sie Anschluss suchen. Sie kennen am Anfang kaum jemanden und die fehlenden Sprachkenntnisse erschweren die Kontaktaufnahme. Sie sind meist sehr neugierig und möchten wissen, wie hier alles funktioniert. Wir versuchen auch, sie darin zu begleiten oder sie an die richtigen Stellen zu verweisen. Der Austausch und die Zusammenarbeit zum Beispiel mit der Asylkoordination ist hierbei sehr wichtig. Ich denke wenn sie neu in die Schweiz kommen, brauchen sie auch mal Informationen: über ihre Rechte und Pflichten hier in der Schweiz. Sie brauchen Anknüpfungspunkte: Man stelle sich vor: Man kommt in ein Land mit völlig anderen Werten und Normen. Man kennt niemanden und kann sich nur knapp verständigen! Dabei würden gerade die Kontakte zu Gleichaltrigen das Ankommen in der Schweiz erleichtern. Und genau dieses Bedürfnis spüren wir bei vielen junge Migrantinnen und Migranten.
 
Wo kann die Jugendarbeit ansetzen? WI vermitteln? Was sind eure Angebote?
Die Jugendarbeit kann Anknüpfungspunkte schaffen, Migrantinnen und Migranten mit anderen Jugendlichen in Kontakt bringen, sie da unterstützen, wo sie Hilfe brauchen, wo sie selber nicht weiter wissen. Wir versuchen sie zu begleiten und zu befähigen, wo nötig. Möglichst so, dass sie danach selber wissen, wo sie sich Informationen und Hilfe beschaffen können. Es ist auch einer unserer Grundsätze, die Beziehung zwischen Jugendlichen verschiedener Herkunft und sozialen Schichten zu fördern. Ein toller Anknüpfungspunkt ist zum Beispiel das Angebot Midnight Ball: Von September bis April findet jeden Samstagabend in der Turnhalle Eidmatt das Midnight Ball statt. Dies ist ein Angebot für alle Jugendlichen ab 13 Jahren. Betrieben wird es von einem jugendlichen Betriebsteam. Sie leiten durch den Abend, legen Musik auf für die gute Stimmung und betreiben einen kleinen Kiosk. Bevor die Türen um 20.45 Uhr öffnen, einigt sich das Team auf das Programm und bereitet alles vor. Momentan steht Fussball hoch im Kurs. Wenn die ersten Jugendlichen da sind, werden Teams gebildet und dann wird gespielt. Kommen Neue dazu, schauen sie zuerst etwas zu, dann werden die Teams vergrössert oder man wechselt aus. Sport verbindet, ob Mädchen, Jungs, ob aus Syrien, Afrika, Asien oder der Schweiz. Der Teamgeist und das gemeinsame Spiel stehen im Vordergrund und verbinden.
Von September bis April findet jeden Samstagabend in der Turnhalle Eidmatt das Midnight Ball statt.

Hättest Du/Ihr noch zusätzliche Ideen? Zum Beispiel ein Fest mit Müttern – Musliminnen, damit sie sehen, dass ihre Töchter nicht gefährdet sind?
Das Thema ist heikel. Dazu wären empirische Informationen und eine vertiefte Auseinandersetzung mit der Kultur nützlich. Interviews zu diesem Thema wären sicher aufschlussreich. Warum dürfen gewisse Jugendliche nicht an gewissen Angeboten teilnehmen? Was müsste erfüllt sein, damit es für die Eltern stimmig ist? Die Frage ist: Wo beginnt Jugendarbeit und wo endet sie? Die Frage, warum zum Beispiel muslimische Mädchen wenig bis gar nicht an unseren oder anderen Angeboten teilnehmen dürfen, beschäftigte mich schon in der Ausbildung ... und vielleicht widme ich mich irgendwann im grösseren Rahmen diesem Thema.

Auf der Suche nach einem gemeinsamen Nenner

Auf der Suche nach einem gemeinsamen Nenner kommen wir zu der einfachen Schlussfolgerung: Im Grunde sind junge Menschen, gleich welchen Ursprungs, alle gleich, haben Hoffnungen und Träume und den Wunsch nach einem selbstbestimmten Leben. Ihre familiären, sozialen und kulturellen Hintergründe sind verschieden und auch ihre Ressourcen, um mit den Problemen, auf die sie hier in der Schweiz treffen, umzugehen. Doch im Grunde genommen trifft dasselbe auf uns alle zu. Was, wenn wir unseren Fokus mehr darauf legen, was uns Menschen verbindet, anstatt auf das Trennende? Was, wenn wir aus den Unterschieden Bindeglieder machen? Mit einer Portion Neugier und vielleicht mit ein wenig mehr Mut und Lebendigkeit befähigen wir uns, aufeinander zuzugehen und uns gegenseitig zu inspirieren für eine neue multikulturelle Zukunft.
Ich danke den jungen Menschen und der Jugendarbeit Wädenswil – im Besonderen Michelle Tenger – für ihre Offenheit und die wunderbare Zusammenarbeit.
 




lngrid Eva Liedtke