Erinnerungen an den «Hirschen»

Quelle: Jahrbuch der Stadt Wädenswil 1978 von Peter Friedli / Peter Ziegler

Das Dorfwirtshaus

An kein Haus in einer Gemeinde sind so viele Erinnerungen geknüpft wie an ein Dorfgasthaus. Im Wirtshausleben spiegeln sich viele Volkssitten und Bräuche. Rechte und Pflichten des Wirtes sind seit Jahrhunderten genau umrissen. Der tägliche Trunk nach getaner Arbeit, ein kleines Mahl nach bestimmten Amtshandlungen oder Geschäften, ein Gespräch unter Freunden oder Berufskollegen sind als Selbstverständlichkeit in unserer Gesellschaft verwurzelt. Hochzeitsessen und Leichenmahlzeiten sind ohne einen stattlichen Gasthof kaum denkbar. Die Stammgäste eines Wirtshauses gehören meist irgendeinem Dorfverein an. Hier sind denn auch die Vereinsfahnen und alle die Trophäen von Wettkämpfen, Sängerfesten, ferner Patensektionsgeschenke und würdige Fotographien von Gründern und Gönnern hinter Glas ausgestellt. Manches Gespräch nach vollbrachter Probe dreht sich um Erinnerungen an rauschende (oder berauschte) Feste. Am Wirtshaustisch wird auch häufig politisiert. Beim Bier oder beim «Halbeli Rotem» kann mancher seinen Ärger über den Staat oder die böse Steuerbehörde hinunterschwemmen oder mit Kameraden (ver)diskutieren. Undenkbar ist ein Wirtshaustisch ohne grünen Jassteppich, um den die Spieler sitzen. Dieses Spiel ist meist eine recht ernsthafte Angelegenheit, werden doch nach Tagen noch bestimmte Stiche oder «Matsche» verhandelt.
Aushängeschild des Gasthofs «Hirschen»
Die Ausschlaggebenden eines Gasthauses sind jedoch der Wirt und sein Personal. Mit diesen Menschen steht und fällt der gute Ruf eines Gasthauses. Für manchen Bürger ist der Wirt oder eine tüchtige Serviertochter ein Seelendoktor; Kummer und Sorgen, Freude und Erfolg werden ihnen anvertraut. Oft leben Wirtsleute anonym; ihre Probleme kennt meist keiner.

Wann wurde der «Hirschen» gebaut?

Die drei ältesten Gasthäuser im Dorf Wädenswil waren das Gemeindehaus bei der Kirche, die «Krone» und der «Engel». Im 18. Jahrhundert kam als vierter Gasthof der «Hirschen» dazu. Wann das Haus gebaut wurde und in welchem Jahr man den Gasthofbetrieb aufnahm, soll im folgenden erörtert werden.
Aus den Grundbuchprotokollen kann man erschliessen, dass die nachmalige Liegenschaft «Hirschen» ursprünglich den Namen «Heimgarten» getragen hat. Unter dieser Bezeichnung wird sie im Besitz des Färbers Ulrich Eschmann und von dessen Bruder, Hauptmann Hans Eschmann, im Jahre 1720 erwähnt. Das Areal grenzte an den Töbelibach und die Landstrasse sowie bergwärts an den Gemeindeplatz. Zum Besitz der Eschmann gehörte auch das Gebäude «Raspermund», das eine Färbereieinrichung und eine Trotte enthielt. Später wurde jenes Gebäude zum Wohnhaus umgestaltet (heute Schönenbergstrasse 1). 1755 wurde der «Heimgarten» an Leutnant Schneider verkauft, und von diesem kam der Besitz im Jahre 1766 an Caspar Hottinger auf Untermosen. Anlässlich der letzten Handänderung wurde festgehalten, zum Verkauf gehöre nebst 1/6 Nutzungsrecht am Brunnen «die Tavernengerechtigkeit, zum Hirtzen genannt». Damit wird erstmals der Name «Hirschen» fassbar. Der neue Besitzer lässt sich zugleich als erster bekannter Gastwirt nachweisen. 1771 ist nämlich die Rede vom Hirschenwirt Hans Caspar Hottinger. Dieser verkaufte im genannten Jahr dem Tischmacher Rudolf Reiner «ein Haus mit angebautem Rossställi und hinterm Schopf, genannt Heimgarten». Zum Verkauf gehörten auch das Seil und die Bank in der Metzg, das Tavernenrecht zum Hirschen sowie 1/6 Brunnenanteil.
Im Jahre 1807, nach dem Tod von Hirschenwirt Ryner, wurde der Schwager des Verstorbenen, der Schuhmacher Jakob Eschmann, Eigentümer der Liegenschaft «Heimgarten». Eindeutig lässt sich nun belegen, dass mit «Heimgarten» um diese Zeit das kleine direkt oberhalb des «Hirschen» gelegene Haus gemeint war. Von ihm wird 1777 gesagt, es liege «beym Hirzen». Allem Anschein nach dürfte der «Hirschen» als Gasthof in den 1760er Jahren entstanden sein und allmählich den älteren Namen «Heimgarten» auf einen Teil der Liegenschaft zurückgedrängt haben, der sich dann seit 1845 im Besitz der Familie Huber befand.
Die Häuser wurden im alten Wädenswil nicht mit Strassennamen und Hausnummern bezeichnet. Für die genaue Lokalisierung einer Liegenschaft innerhalb des Dorfes ging man von Fixpunkten aus, die einem weiteren Bevölkerungskreis vertraut waren. Man erwähnte beispielsweise öffentliche Bauten − Kirche, Gemeindehaus, Schulhaus, Schützenhaus − und fügte bei, in welcher Richtung man zum weniger bekannten Haus gelangte. Man präzisierte aber noch nicht mit Himmelsrichtungen, sondern mit «vorn» und «hinten», «oben» und «unten». Wie allgemein am Zürichsee bedeutete auch in Wädenswil «vorn», was näher gegen Osten oder Süden lag, «hinten» was eher westlich oder nordwärts gelegen war; «unten» bezeichnete die Richtung gegen den See, «oben» jene gegen den Berg. Wenn ab etwa 1800 auch der Hirschen als Fixpunkt für Lagebezeichnungen umliegender Gebäude erscheint, darf daraus geschlossen werden, dass der Name des Gasthofs sich bereits gut eingebürgert hatte.
Am 15. Oktober 1807 wurde Gemeindewirt Heinrich Haab Eigentümer der Liegenschaft «Heimgarten» und des Tavernenrechts zum Hirschen. Es scheint, dass Haab nun den dreigeschossigen Baukörper mit Walmdach errichtet hat, der im 19. Und 20. Jahrhundert noch wiederholt umgestaltet worden ist. Darauf deutet mindestens ein Eintrag im Grundbuchprotokoll von 1829 hin. Als die Söhne des im Mai 1829 verstorbenen Hirschenwirts Heinrich Haab das väterliche Erbe veräusserten, hielten sie fest, es handle sich um «das unlängst neuerbaute Gasthaus zum Hirschen mit Pferdestall daran und Zinnenanbau mit Metzg». Und ergänzend wurde beigefügt, «an obigem Gasthaus ist ein neues Saalgebäud erstellt worden». Ob nur der Saalanbau oder auch der Gasthof aus der Zeit des Hirschenwirts Heinrich Haab stammt, ist nicht ganz klar. Der dreigeschossige Baukörper mit Walmdach könnte sehr wohl erst um 1807 und nicht schon in den 1760er Jahren entstanden sein. Denn gerade in den ersten Jahren nach 1800 wurden in Wädenswil verschiedene Bauten mit Walmdach erstellt, so 1811 der «Freihof» und der «Friedberg» 1814/15 die «Gerbe».
Ein Blick in die gemütliche Gaststube im alten «Hirschen».

Im Verlauf des 19. Jahrhunderts wechselte der «Hirschen» wiederholt den Eigentümer. Er gehörte von
1829-1852 Heinrich Haabs Erben
1852-1863 Gottfried Haab
1863-1890 Georg Hausammann
1891-1897 Johann Jakob Hürlimann
1898-1905 Fritz Meier
1905-1909 Robert Pfister
ab 1909 Karl Kessler.
Im Jahre 1862 war der «Hirschen» während einiger Wochen auch Schulhaus. Als in jenem Jahre an der Sekundarschule Wädenswil-Schönenberg eine besondere Mädchenabteilung gegründet wurde, hatte man Mühe, ein geeignetes Lokal zu finden. Denn auch die Knabenabteilung war ja nicht in einem Sekundarschulhaus, sondern in Räumen der Liegenschaft «Freihof» untergebracht. Schliesslich war die Schulpflege froh, dass sie für die Mädchen den Hirschensaal mieten konnte. Die lebhafte, bisweilen übermütige Schar machte aber dem Wirt schwer zu schaffen. Schon nach einem Vierteljahr kündigte er der Mädchensekundarschule wieder, worauf die «Töchterschule» in den «Grünenhof» umzog. Mit dem Bau des ersten Sekundarschulhauses der Gemeinde in den Jahren 1867/68 konnte dann auch auf dieses Provisorium verzichtet werden.

Die Aera Kessler

Im April 1909 übernahm Karl Kessler, der in Amerika gelebt hatte und dann in Köln als Concierge tätig gewesen war, von der Familie Pfister den Wädenswiler Hirschen. Langsam aber sicher begann der Gasthof unter der Leitung des neuen Eigentümers aufzublühen. Interessant sind die damaligen Preise: Ein Liter Herrliberger Weisswein kostete 90 Rappen, wogegen für eine Flasche Bier 50 Rappen bezahlt werden mussten. Verhältnismässig teuer war der Kaffee mit 30 Rappen pro Glas. Für einen gewöhnliches Mittagessen bezahlte man üblicherweise 80 Rappen. Als Karl Kessler jedoch einen Franken verlangte, blieb ihm eine Zeitlang nur noch Herr Brändli von der Tanne am Mittagstisch treu. Karl Kessler war immer bestrebt, den Gästen das Beste anzubieten; so zog er selbst ausgesuchten Wein eigenhändig in Flaschen ab. Die eigenen Weinetiketten wurden mit Eiweiss – einem früher oft verwendeten Klebstoff – auf die Flaschen geklebt.
Fröhliche Erlebnisse wussten die letzten Besitzer des alten Hirschen, die Geschwister Rosy und Gret Kessler, 1973 zu erzählen: von der Fasnacht, vom Chilbimontag und vom Sausersonntag. Dann fand sich allenthalben viel tanzfreudiges Volk ein. Vor lauter Tanzvergnügen wurde der Holzboden dermassen aufgerauht, dass man die grösste Mühe gehabt haben soll, richtig zu tanzen. Um dem Übel abzuhelfen, wurden rasch ein paar Handvoll Griess oder Mais auf dem Boden ausgestreut, und schon war der Boden wieder rutschig. In den 1920er Jahren konnte man sich im Hirschen an den Maifesten ergötzen. Um 1922 erschienen so viele Leute, dass man in der Brauerei eilig Tische holen musste, die man auf der Terrasse aufstellen konnte. Die Musik spielte auf, der ganze Hirschen war ein klingendes, tanzendes Haus.
Im «Hirschen» wurde manch fröhliches Fest gefeiert, wie etwa diese Hochzeit.

Auch der Sausersonntag war, wie am ganzen Zürichsee, ein beliebter Festtag. Jeder Wirt kaufte sich den Sauser selber. So bezog Karl Kessler 1916 in Jenins 400 Liter Traubensaft. Zu seinem Leidwesen aber blieb der Saft süss, er kam nicht ins begehrte Stadium. Wochenlang regte sich nichts in den Fässern, bis Rosy um Weihnachten, aus dem Keller kommend, berichtete, dass es jetzt «rausche». Sofort wurde im «Anzeiger» ein Inserat aufgegeben mit dem Hinweis, dass am Silvester ein Sauserfest gegeben werde. Ich kann mir vorstellen, dass dies einer der fröhlichsten Sausersonntage war!
Der Hirschen besass, wie auch der Engel, das Tavernenrecht. Der Wirt durfte also zu jeder Tages- und Nachtzeit ankommende Gäste aufnehmen und bewirten. Die Stallungen beim Hirschen boten für 12 Pferde und Fuhrwerke Platz. Für jedes Pferd bezahlte man im Tag zwei Franken Stallgeld; ein Vierling Hafer war im Preis inbegriffen. Oft machten im Winter Schlittenpartien im Hirschen Halt, um die Wärmeflaschen zu erneuern.
In den Anfängen suchten die Gäste ihr Schlafgemacht noch mit dem Kerzenlicht auf. Bis 1940 feuerte man den grossen Kochherd in der Küche mit Kohle. Bei den vielen Hausarbeiten mussten die Töchter fleissig mithelfen. Für ein Stück Brot putzten sie Messer. Karl Kessler war stets ein aufgeschlossener, für alles Neue interessierter Mensch. Auch in den Behörden war er vertreten; in den 1920er Jahren im Gemeinderat Wädenswil und im Zürcher Kantonsrat.
Der Hirschen war einst Zentrum regen Dorflebens. Gemüsehändler Schnorf aus Männedorf verkaufte vor dem Hirschen einst seine Rüebli und Kabisköpfe, und im Winter bot Marronibrater Zanelli seine dampfenden Früchte feil. Im Haus befand sich lange Zeit auch eine Metzgerei. In ihr Schlachthaus führte man jedes Jahr den festlich mit Blumen bekränzten Ostermuni. Zu Ostern gab es vor dem Hirschen das «Eiertütschis». Pfiffige Leute versuchten bisweilen, ihre Konkurrenten sogar mit Gipseiern zu täuschen. Wurde der Betrug indessen bekannt, hatten die Entlarvten einiges zu erwarten.
Viele Dorfvereine waren im Hirschen als Stammgäste bekannt, der Handharmonikaklub, der Heizer und Maschinenverband, der Zitherklub, das Sängerkollegium und der Fussballklub.
Als 1949 Vater Kessler starb, arbeiteten seine Töchter Rosy und Gret in der gleichen aufmerksamen Art weiter, bis sie am 1. Mai 1973 ihren Hirschen für immer schlossen.
Der «Hirschen» vor dem Abbruch im Winter 1975/76.

Ein modernes Wohn- und Geschäftshaus hat den alten Gasthof verdrängt.

Vom alten Hirschen zum neuen Wohn- und Geschäftshaus

Nun stand das Haus leer, bereit zum Abbruch. Kantonale und lokale Denkmalpflegekommission bemühten sich, den ehemaligen Gasthof Hirschen zu erhalten. Ein im Sommer 1973 ausgearbeitetes kunsthistorisches Gutachten bemerkte über den erhaltenswerten Bau: «Der Gasthof ‚Zum Hirschen‘ wurde wohl in der 2. Hälfte des 18. Jahrhunderts erbaut. Davon zeugen der relativ niedrig gehaltene dreigeschossige Baukörper, das Walmdach, die allseits auskragenden Quergiebel, die geschwungenen Dachuntersichten und die Fensterteilungen. Die Gesimse über der Bel-Etage und die Dreiecksgiebel über den mittleren Fenstern sowie die dafür benötigte Unterbrechung des Daches beim Quergiebel über der Hauptfassade rühren von einem Um- und Ausbau im späteren 19. Jahrhundert her. Das 20. Jahrhundert zeichnet sich durch die Ladeneinbauten im Erdgeschoss ab.
Nach dem oben Gesagten ist der heutige Bauzustand eine Mischung von barockem Baukörper und Modernisierung durch klassizistische Zutaten und Änderungen. Zum eigentlichen Nachbau des Baues trug aber erst der offenbar zu Beginn des 20. Jahrhunderts vollzogene Ausbau der Ladenlokale bei, auch wenn dieser an sich recht vorsichtig vorgenommen worden ist.
Der Gasthof ‚Zum Hirschen‘ steht an hervorragender Stelle an der Einmündung der Schönenbergstrasse in die Zugerstrasse, am Eingang also von der Zugerstrasse zum wichtigen Dorfkern mit der reformierten Kirche als Zentrum. Das Aushängeschild, ein ansprechendes Kunstschmiedeerzeugnis des 19. Jahrhunderts, setzt einen wenn auch kleinen, so doch so belebenden Akzent. Ein Verzicht auf den ehemaligen Gasthof ‚Zum Hirschen‘ bedeutet eine vollständige Änderung des Strassenbildes im Zugangsbereich zum kirchlichen Zentrum Wädenswil.»
Die mahnenden Stimmen wurden überhört; im Winter 1975/76 wurde der «Hirschen» niedergerissen, und an seiner Stelle entstand ein gewaltig dimensioniertes, modernes Wohn- und Geschäftshaus. Es setzt die Akzente deutlicher, als es der bescheidene Landgasthof getan hat, aber nicht unbedingt vorteilhafter!




Peter Ziegler