1939/40 aus der Sicht einer Wädenswiler Sekundarschülerin

Quelle: Jahrbuch der Stadt Wädenswil 1989 von Elisabeth Locher

Als 1939 der Zweite Weltkrieg ausbrach, besuchte Elisabeth Locher in Wädenswil die zweite Klasse der Sekundarschule bei den noch verbleibenden Lehrern Jakob Eugster, Johannes Schläpfer und Emil Stäuber. Sie führte damals ein privates Tagebuch, aus dem sie die nachstehenden Auszüge zur Verfügung stellt. Zusammen mit Abschnitten aus ihren Schulaufsätzen und mit Notizen über den Einsatz im Landdienst im Kriegsjahr 1940 vermitteln diese persönlichen Aufzeichnungen einer Jugendlichen lebensnahe Eindrücke aus gefahrvoller Zeit.

Freitag, 25. August 1939

Gegenwärtig herrscht eine politische Spannung in Europa. Was wird wohl mit Danzig, was mit Polen geschehen? Wird es ohne Krieg ablaufen? Deutschland und Russland sind nun verbündet. Was werden Frankreich und England tun? Es kommt mir vor wie beim Mühlespiel: Der Überlegene ist derjenige, der an allen wichtigen Orten seine Steine (Stützpunkte) gesetzt hat. Seltsam, einstige Feinde verbünden sich. So ändert die Weltgeschichte. Hitler ist in seinem Willen mit Napoleon zu vergleichen. Welches wird einst sein Ende sein? Wir können an der Sache nichts ändern. Wollen wir das Beste hoffen, den Mut nicht verlieren, auf Gott vertrauen und Sonne im Herzen haben.

Montag, 28. August 1939

Dieser Tag hinterlässt in mir verschiedene Eindrücke. Ich war entzückt über den Luganer- und den Langensee. Ich freute mich am sonnigen Tessin. Ich las das Neuste in den Zeitungen. Ich hörte Chilbimusik vom Tanzrad, hörte den Trommler, der ausrief, morgen müsse der Grenzschutz einrücken. Die Bundesversammlung wird einberufen, ein General soll gewählt werden.

Freitag, 1. September 1939

Ein Datum, wovon man später noch lange reden wird! Ja, heute begann zwischen Deutschland und Polen der Krieg. Hitler sagte: «Gewalt gegen Gewalt!» Wenn Polen keinen friedlichen Anschluss ans Reich wolle, müsse dies erzwungen werden. Er will einfach seinen Kopf durchsetzen. Danzig gehört nun auch zum Reich.
Beim Mittagessen wurde politisiert. Man wusste noch nichts von diesem Schrecklichen. Da ertönte die Trommel. Man rannte ans Fenster. Herr Arnold Hauser rief aus, morgen sei Mobilmachung. Zettel wurden aufgeklebt. Die Kirchenglocken läuteten Sturm. Alle Leute waren sehr aufgeregt. Bald sah man auch schon Militär. Papa eilte zum Bahnhof (wo er arbeitete), um dort alles für den Luftschutz bereitzustellen. Die Primarschule wird für vierzehn Tage geschlossen. Als ich ins Sekundarschulhaus trat, respektive in meine Klasse, waren einige Mädchen sehr traurig, andere weinten. Ich bin froh, in der Schweiz, einem neutralen Land, zu sein. Henri Guisan ist unser General geworden.
In der ersten Deutschstunde nach der Mobilmachung lasen wir das Gedicht «Die Grenadiere» von Heinrich Heine. In der Diktatstunde diktierte uns Herr Stäuber das ergreifende Prosastück «Das Vaterland»:
Es sind elende und kalte Klügler aufgestanden in diesen Tagen; die sprechen in der Nichtigkeit ihrer Herzen: «Vaterland und Freiheit, leere Namen ohne Sinn, schöne Klänge, womit man die Einfältigen betört! Wo es dem Menschen wohl geht, da ist sein Vaterland; wo er am wenigsten geplagt wird, da blüht seine Freiheit.»
Der Mensch aber soll lieben bis in den Tod und von seiner Liebe nimmer lassen, noch scheiden. Darum, O Mensch, hast du ein Vaterland, ein heiliges Land, ein geliebtes Land, eine Erde, wonach deine Sehnsucht ewig dichtet und trachtet.
Wo dir Gottes Sonne zuerst schien; wo dir die Sterne des Himmels zuerst leuchteten; wo seine Blitze dir zuerst seine Allmacht offenbarten und seine Sturmwinde dir mit heiligem Schrecken durch die Seele brausten: da ist deine Liebe; da ist dein Vaterland.
Henri Guisan nach der Wahl zum General, 30. August 1939.
Und seien es kahle Felsen und öde Inseln, und wohnen Armut und Mühe dort mit dir, du musst das Land ewig lieb haben; denn du bist ein Mensch und sollst es nicht vergessen, sondern behalten in deinem Herzen.
Auch ist die Freiheit kein leerer Traum und kein wüster Wahn, sondern in ihr lebt dein Mut und dein Stolz und die Gewissheit, dass du vom Himmel stammst.
Da ist Freiheit, wo du leben darfst, wie es dem tapferen Herzen gefällt; wo du in den Sitten und Weisen und Gesetzen deiner Väter leben darfst; wo dich beglücket, was schon deine Ureltern beglückte; wo keine fremden Henker über dich gebieten und keine fremden Treiber dich treiben, wie man das Vieh mit dem Stecken treibt.
Dieses Vaterland und diese Freiheit sind das Allerheiligste auf Erden, ein Schatz, der eine unendliche Liebe und Treue in sich schliesst, das edelste Gut, das ein guter Mensch auf Erden besitzt und zu besitzen begehrt.

Dienstag, 5. September 1939

Noch kann ich's nicht glauben. Die Weltmächte − England und Frankreich − erklärten letzten Sonntag Deutschland den Krieg. Und doch ist's so! Alles ist aufgeregt. Frauen weinen. Selten sieht man kräftige Männer im Dorf. Viele Lebensmittel werden nicht mehr verkauft. Wohl dem, der Notvorrat angeschafft hat! Nur wenige Züge verkehren für die Zivilbevölkerung. In den Geschäften fehlen Arbeitskräfte. Der Luftschutz ist an der Arbeit. In der Schule herrscht Schichtbetrieb. Zwei bis drei Stunden des Tages müssen wir nur noch zur Schule. Die Mädchen stricken Socken fürs Militär. Viele Soldatenlieder werden gesungen.
Luftschutz Wädenswil bei Befestigungsarbeiten im Rosenmattpark.
 

Freitag, 16. September 1939

Gestern war ich mit Ruth im Berg. Wir mussten in alle Haushaltungen Zettel vom Roten Kreuz verteilen. Morgen müssen sie ausgefüllt sein; wir holen sie dann ab. Und wie soll man diese Zettel ausfüllen? Man trägt ein, ob man vorübergehend Leute bei sich aufnehmen kann, die von den evakuierten Gegenden kommen; ob man etwas verschenken oder ausleihen kann. Wir konnten Menschenstudien machen. Bei wohlhabenden Bauern wurden wir fast abgewiesen, bei armen Leuten freundlich empfangen.

Donnerstag, 7. Dezember 1939

Bei uns in Wädenswil waren welsche Soldaten einquartiert. Das war für die Schulkinder eine Freude, und nur zu oft besuchten sie sie. In der Schule geht alles seinen gewohnten Gang. Man muss eben arbeiten! Wir durften auf Weihnachten einen Brief an einen unbekannten Wehrmann schreiben.

Mai 1940: Landdienst

So schön sich diese Gotteswelt bereitet haben mochte, so war es doch nicht wie andere Jahre. Die Menschen, die sich in Wäldern und Feldern andere Jahre getummelt hatten, lenkten nur vereinzelt ihre Schritte dorthin; ihr fröhliches Lachen und Singen war einem tiefen Ernst gewichen. Das hatte der Krieg gebracht; der schreckliche Krieg, der rücksichtslos Verderben auf die Erde brachte. Im Anfang hatte er mehr im Norden Europas gewütet; als jedoch auch die Niederlande und Belgien in das Ringen hineingezogen wurden, hatte man auch um die Neutralität unseres Landes Angst. General Guisan bot wieder die ganze Armee auf. Das Pfingstfest wurde still und ernst gefeiert.
Inzwischen war die Zeit der Heuernte gekommen. Sorgenvoll dachten die Bauersleute, wie sie wohl dieses Jahr das Heu einbringen würden. Da boten sich die Schüler der oberen Klassen als Hilfe an.
Luftschutz Wädenswil vor dem befestigten Eingang in den Bunker im Keller des Kirchgemeindehauses Rosenmatt.

Unser Rechnungslehrer, der sonst wenig Umschweife macht und uns mit Formeln und Lehrsätzen der Algebra bekannt macht, verkündete eines Tages, dass wir nun Heuferien hätten, um den Bauern zu helfen. Das gab natürlich viel zu reden. Am folgenden Morgen versammelten wir uns um sieben Uhr beim Schulhaus, um zu erfahren, wohin wir kämen. Leider hatten die meisten noch keine Arbeit, und niedergeschlagen gingen die Sekundarschüler auseinander; man hatte daheim zu früh geprahlt.
In unserer «Verzweiflung» gingen Annursula und ich in die Au, um uns bei einer Bauernfamilie einzustellen. Wir merkten jedoch sofort, dass wir nicht nötig waren, und machten noch einen schönen Spaziergang.
Am andern Morgen, als wir eben die Zeitung holten, trafen wir unseren Rechnungslehrer, Herrn Schläpfer, der uns aufs Arbeitsamt nahm, da inzwischen Arbeit gefunden war. Dort wurden unser Name und das Geburtsdatum eingeschrieben. Man sagte uns auch, dass wir uns sobald als möglich in der Oberen Kalchtaren vorzustellen hätten. Beglückt eilten wir heim, um die Neuigkeit zu erzählen ...
Beim Mittagessen hatte ich keinen grossen Hunger. Ich sah mich schon in Gedanken in einer dunkeln Küche stehen, andächtig in einem Topfe rühren oder die Stube wischen; denn es war uns gesagt worden, dass wir im Haushalt gebraucht würden.
Mit Ungeduld sah ich zum Fenster hinaus, und es schien mir eine Ewigkeit zu dauern, bis Annursula gemütlich um die Ecke bog. Wir machten uns fröhlich plaudernd auf den Weg, und nach dreiviertelstündiger Wanderung hatten wir Stocken erreicht. Wir kamen nicht in die Obere, sondern in die Mittlere Kalchtaren ...
Wir bekamen gleich Heurechen und begannen Mädlein zu machen. Das gelang uns nicht recht. Erst als uns Fräulein Huber die Sache gründlich gezeigt hatte, blieb das Heu nicht mehr am Rechen hängen. Wir arbeiteten, bis uns der Schweiss auf der Stirne stand, und der Orangensirup war uns sehr willkommen. Auch später schenkten wir ihm grosse Aufmerksamkeit, indem wir täglich ein bis zwei Flaschen leerten.
Ein Soldat − die Offiziersordonnanz, die ihr Pferd hier hatte − begrüsste uns «chaud, chaud!» Ich erfuhr, dass die Soldaten in Stocken von Lausanne seien. Bald kamen Vreni und Susanne mit ihren Velos angefahren und meinten, es tue uns gut, auf dem Bauernhof zu arbeiten. Wir bekamen nun Gabeln, und Fräulein Elise zeigte uns, wie wir das Heu wenden mussten. Auf dem holperigen Feldweg rasselten unaufhörlich die Lausanner daher, die alle Auto fahren lernen mussten.
Nach getaner Arbeit stellte sich der Hunger ein, und wir liessen uns das Abendbrot, das Fräulein Aline bereitet hatte, aufs Beste schmecken. Dann schauten wir die zwei Ställe mit den schönen Kühen an. Eine etwas magere hatte bald den Namen «Knochengerüst» erhalten. Die beiden Brüder Huber wurden nun beim Melken beobachtet. Wir halfen die Kühe füttern und das Futter für den Morgen bereitlegen. Dann trugen wir Eier und Milch ins Haus, wir begossen die Blumen und gaben den Kakteen Hühnermist. Nachdem wir noch eine dicke Brotschnitte mit Butter und Konfitüre bestrichen und eine Tasse Milch getrunken hatten, machten wir uns auf den Heimweg.
Am kommenden Morgen machten wir uns um 6¾ Uhr schon auf den Weg, ein Liedlein singend. Es war bei der Morgenkühle angenehm, den Berg hinaufzusteigen. Die Männer waren an der Arbeit, und wir kamen eben recht, um beim Grasen zu helfen. Der Offizier und seine Ordonnanz halfen ebenfalls. Beständig gingen wir mit dem Schlepprechen hin und her. Wir breiteten nun das Gras aus. Ich musste mich beeilen, um in der Reihe der andern zu bleiben. Diese Arbeit kam mir doch ein wenig ungewohnt vor. An den Händen zeigten sich verdächtige Blasen. Darum hatte ich Vorsichtsmassregeln getroffen, indem ich beständig «Heiltafet» in der Schürzentasche umhertrug.
Ein Soldat, der mir durch sein stilles Wesen und fleissiges Arbeiten auffiel, bedauerte mich, und ich redete einiges mit ihm. Er war erfreut, dass ich seine Sprache ein wenig verstand, und erzählte mir gleich, dass er ein «boulanger de la ville de Lausanne» sei.
Bald erschien Annursula mit dem erwünschten Korb voll Getränke. Wir spielten die Servierfräuleins. Als wir nun den Boulanger fragten, ob er Most oder Sirup wolle, rief er «un cidre, un sirop» oder so etwas Ähnliches, worauf wir ihm Wasser, Sirup und Most ins Glas gossen. Er trank, verzog das Gesicht, und als wir fragten, ob er noch mehr wolle, bedankte er sich.
Nach dem Mittagessen begab sich die Gesellschaft im Gänsemarsch, ausgerüstet mit Heurechen, auf die Wiese. Würdevoll zogen Annursula und ich die grossen Schlepprechen den Rain hinauf und hinunter. Unsere Köpfe waren mit einem Tuch bedeckt, worauf das Schweizerkreuz prangte: ein Andenken an die Grenzbesetzung 1914–1918, die unsere Väter mitgemacht hatten. Die beiden Fräulein machten Mädlein, ebenso der Boulanger; die Herren Huber luden das Heu auf, und auf dem Fuder thronte die Ordonnanz, die beständig rief: «Chaud, chaud, c'est chaud, il est chaud!» Doch wir betonten: «Il fait chaud» ...
Am Sonntag bekamen wir Urlaub, gingen aber am Montag mit erneutem Eifer «a l'ouvrage»... Wir machten uns bald wieder auf der Wiese zu schaffen; am Himmel standen drohende Wetterwolken; es wurde dunkel; Blitze zuckten; der Donner rollte; grosse Tropfen fielen. Man hastete und eilte, um wenigstens noch ein Fuder einzubringen ... Durchnässt eilten wir in die Scheune und liessen uns auf dem Rossfutter nieder. Da kam die Ordonnanz und jagte uns hinunter. Das machte uns böse, und wir gönnten ihm den Mittagsschlaf nicht. Alles Mögliche kam hinaufgeflogen ...
Auch Wädenswiler Frauen, hier vor dem Eidmattschulhaus, leisten Luftschutzdienst.

Am letzten Tag gab es nicht sehr viel zu tun. Nachmittags setzten wir uns auf die Bank, nachdem wir die Blumen gespritzt hatten, und sprachen Französisch. Beim Füttern sangen wir wie jeden Abend «Roulez tambours!» Dann setzten wir uns auf die Futterkiste und stimmten eine eigene Weise an, nämlich die vom Sternlein, die uns andächtig stimmte. Wohl war uns dieses oder jenes zuerst ein wenig schwer vorgekommen, wohl zeigten unsere Hände in Form von Blasen Spuren der Arbeit, wohl schmerzte uns der Rücken ein wenig, und doch hatte es sich gelohnt, einmal anstatt Schulzimmerluft warme, von Heugeruch erfüllte Luft einzuatmen. Wir hatten in den Ferien die Landwirtschaft, ein äusserst wichtiges Gewerbe, näher kennengelernt. Ohne diese könnten die Bürger in den Städten und Dörfern, die Arbeiter und alle bis zu den reichen Herren und vornehmen Damen, die darüber das feine Näschen rümpfen, nicht leben. Wir hatten einmal praktische Arbeit geleistet, die für uns, die wir immer stillsitzen müssen, gut war. Wir waren im Freien an der Sonne gewesen, die uns eine gesunde, braune Farbe verlieh; wir waren recht fröhlich gewesen und hatten sogar ein wenig Französisch gelernt. Die Tage verstrichen sehr schnell, aber in uns lebt noch die Erinnerung.

Juni 1940

Aufsatz: «Was uns die Heimat so lieb macht.»
Jeder Mensch liebt sein Heimatland, jeder meint, das seinige sei das schönste. Wir Schweizer sind stolz auf unser prächtiges Land. Die Soldaten, die jetzt an der Grenze stehen, tun treulich ihre Pflicht; sie beschützen die liebe Heimat.
In der jetzigen Zeit kommt es uns erst so recht zum Bewusstsein, wie lieb wir unser Vaterland haben. Niemals wollen wir es fremden Händen übergeben. Es ist das Stück Erde, das uns heilig ist, das schon unsere Vorfahren bebaut und bewohnt haben.
Wie schön ist doch unser Schweizerland! Hohe, stolze Firnen sind seine Krone. Daneben gibt es fruchtbare Täler, liebliche Seen, viele muntere Bäche und Flüsse, blumige Matten, kühle Wälder, schmucke, saubere Dörfer und Städte. Obschon wir vier verschiedenen Nationen angehören, obschon wir vier Sprachen sprechen und in den vielen Tälern verschiedene Sitten und Bräuche herrschen, sind wir doch ein Volk, das seine Heimat liebt und unser köstliches Gut, die Freiheit, schützt.
 
O Schweizerland, o Heimat,
Du stehst so stolz und hehr.
Kein and'res Land dir gleicht
Bis an das fernste Meer.
 
Der Fels ragt hoch ins Blau hinaus,
Im Tale fliesst der liebe Rhein.
O Schweizerland, o Heimat,
Wir lieben dich so sehr.




Elisabeth Locher