ZUR GLIEDERUNG DES ZÜRCHER SPRACHRAUMS

Quelle: Jahrbuch der Stadt Wädenswil 2010 von Heinz Gallmann

In grösseren Sprachräumen – vor allem im mundartlich stark gegliederten Oberdeutschen – sind einzelne Dialekträume auszumachen. Innerhalb der schweizerdeutschen Dialekte hat das Zürichdeutsche einen besonderen Stellenwert, nicht nur wegen der Zahl der Sprecher, sondern auch, weil es in der schweizerdeutschen Sprachlandschaft eine Scharnierfunktion innehat. Aber angesichts seiner territorialen Ausdehnung ist der Zürcher Sprachraum auffallend schwach gegliedert, und die hörbare Binnengliederung ist keineswegs eindeutig.

DER ZÜRCHER MUNDARTRAUM

Das Gebiet des Kantons Zürich wird nur teilweise von natürlichen Grenzen gesäumt: Der Rhein bildet im Norden eine natürliche Grenze, das Rafzerfeld liegt aber jenseits des Flusses, und im Nordosten befindet sich ein thurgauischer Streifen zwischen den Weinländer Gemeinden und dem Rhein. Die Thur bildet nur auf einer kurzen Strecke bei Thalheim – Altikon die Kantonsgrenze. Im Osten verläuft die Kantonsgrenze im Wesentlichen von Bichelsee über den Gebirgszug zum Schnebelhorn und Tössstock, aber nur zu einem geringen Teil auf markanten Kreten. Eine Teilstrecke der Sihl bildet die Grenze südlich von Schönenberg und Hirzel, ein kurzes Teilstück der Reuss die Kantonsgrenze westlich von Obfelden und Ottenbach. – Bei fehlenden natürlichen Aussengrenzen des Kantons können auch keine markanten Mundartgrenzen mit der Kantonsgrenze zusammenfallen, in den offenen Grenzbereichen sind gegenseitige Beeinflussungen alltäglich.
Von der topographischen Gliederung her ist einzig die Thur als markante Mundartgrenze innerhalb des Sprachraums von Bedeutung, bildete doch das Sumpfgebiet des Thurtals über Jahrhunderte eine deutliche Barriere; die Korrektion der Thur erfolgte im Kanton Zürich 1855 bis 1861, Überschwemmungen blieben aber auch danach häufig.
Einige Aufschlüsse zur Binnengliederung gibt die historische Entwicklung der Verkehrswege:1 Der Vergleich der alten Römerstrassen mit dem Verkehrsnetz um 1700 und um 1850 zeigt übereinstimmend strahlenförmig von Zürich ausgehende Strassen bzw. Schifffahrtswege und ein markantes Strassenkreuz bei Winterthur. Diesen Verkehrswegen folgten auch die wirtschaftliche und kulturelle Ausstrahlung und damit die mundartliche Prägung. Der Zürichsee war immer Verkehrsfläche, die Ufer auch sprachlich miteinander verbindend.
Die herrschaftlichen Besitzverhältnisse geben bis ins 16. Jh. ein vielfältiges Bild an klösterlichen und weltlichen Besitzungen, die aber die Dialektgliederung nur wenig beeinflusst haben. Die territorialen Herrschaftsverhältnisse, etwa die Vogteien und Gerichtsherrschaften, sind vom 15. bis zum 18. Jh. unter sich vergleichbar, haben aber wenig mit der Sprachraumgliederung gemein. Interessanter sind die alten kirchlichen Dekanatsverhältnisse, die sich auch in den Pfarrkapiteln nach der Reformation widerspiegeln; diese territoriale Gliederung entspricht teilweise der Binnengliederung des zürcherischen Sprachraums.
 

Karte 1

VERDUMPFUNG VON MHD. â

Das verdumpfte aa ist weitgehend eine zürcherische Eigenheit, darüber hinaus kommt es selten vor im Aargau beidseits der Lägern, verbreitet im Raum Glarnerland – Walensee, aber auch in den Kantonen Schwyz, Uri, Graubünden. Sonst hören wir in der Nordostschweiz (TG, SG, AI/AR, SH) und im AG eindeutig òò, in BL/BS und SO oo.

SPRACHGRENZEN UND SPRACHLICHE BINNENRÄUME

Während sich eine Grenze üblicherweise als Linie darstellt, die oft an topographische Gegebenheiten angelehnt ist, sind sprachliche Grenzen nicht als Linien, sondern als Streifen oder Grenzzonen zu sehen, in denen oft interessante Widersprüchlichkeiten festzustellen sind, in denen aber auch ein teilweiser Ausgleich stattfinden kann. Es gibt kleinräumige Ausnahmen, für die eine historische Erklärung möglich ist: So ist man sich in Ossingen und Stammheim bewusst, zwar zum Weinland zu gehören, weiss aber um deutliche sprachliche Unterschiede. Das erklärt sich daraus, dass die alte Römerstrasse von Winterthur über Hettlingen, Thalheim, Stammheim und um den Stammerberg herum nach Stein am Rhein führte, also Ossingen nicht berührte, was zur Folge hatte, dass sich Stammheim dialektal weit mehr gegen Norden öffnete. Eine entsprechende Öffnung nach Osten stellen wir bei Ellikon an der Thur fest, das an der alten Römerstrasse Winterthur–Pfyn liegt.
Mundartliche Binnenräume charakterisieren sich vor allem durch spezifische Lautungen und weniger durch einzelne Ausdrücke. Karte 12 zeigt den signifikanten Lautunterschied bei der Verdumpfung von mhd. â: Im grösseren Teil des Kantons hören wir für «Abend»› die Lautung Aabig, im Oberland bis westlich von Brütten Oobig, im Weinland nördlich der Thur Òòbig. Weitere gleichlautende Beispiele: Aadere «Ader», gaa «gehen», Haagge «Haken», Saame «Samen», Spaa «Span», spaat «spät». Mit Karte 1 wäre eine einfache, eingängige Binnengliederung gegeben, bei der sich das Zürcher Oberland und das Zürcher Weinland mit dem Rafzerfeld und dem Grenzstreifen Ellikon – Hagenbuch absetzen.
Eine spezielle lautliche Ausprägung nördlich der Thur und im Streifen Ellikon – Hagenbuch, z.T. auch im Rafzerfeld, wird auch deutlich, wenn wir Karte 2 mit der «Speckgrenze» betrachten: Im Weinland und Rafzerfeld, aber auch östlich anschliessend im Kanton Thurgau und teilweise im Kanton St.Gallen, hören wir Spèck mit einem Vokal, der dem hochdeutschen ä entspricht, im übrigen Kanton Zürich Späck mit dem überoffenen charakteristischen ä. Weitere Beispiele: Chräps «Krebs», Mässer «Messer», Wäschpi «Wespe».
Deutlich andere lautliche Gliederungen gehen aus den beiden Karten 3 und 4 hervor: Einmal haben wir in einem Gebiet von Winterthur an nördlich für «Säge» die Form Sagi, südlich davon Saagi – dasselbe gilt für das Verb «sägen».
Wieder eine andere Gliederung des Sprachraums ist mit der Karte «Tanne» illustriert: Die deutlich hörbare Geminierung (entsprechend der hochdeutschen Schreibung) hören wir im Weinland und im Rafzerfeld, aber interessanterweise auch im Knonauer Amt.
Weitere Beispiele: bräne «brennen», Brune «Brunnen», Hame «Schinken», Wane «Wanne».
Eine teilweise ähnliche Erscheinung haben wir im lexikalischen Bereich bei den Begriffen für den «Flachkuchen mit Belag»› (Karte 5): Im grösseren Mittelteil des Kantons sagt man dafür Wèèe oder Wèèije, im Norden zum grösseren Teil Tünne, das aber auch im Knonauer Amt und neben Wèèe bis nach Wädenswil und Richterswil auftaucht.
Zwar können wir vom Gehör her einigermassen unterscheiden, ob jemand aus dem Oberland, aus dem Raum Winterthur oder aus dem Weinland kommt bzw. dort seine Sprache erworben hat. Mit den vorangehenden Beispielen ist aber belegt, dass die Zuordnung zu einzelnen Dialekträumen komplexer ist. Dies gilt auch für den

ZÜRICHSEERAUM

Wie bereits festgestellt, war der Zürichsee während Jahrhunderten Verkehrsfläche, die beiden Ufer miteinander verbindend. Die verbindenden und die trennenden Elemente zu situieren und die Verbindungslinien herzustellen, ist eine reizvolle Aufgabe, aber auch ein weites Feld, das bisher nicht eingehend beackert wurde. Es seien deshalb nur einige wenige Erscheinungen schlaglichtartig beleuchtet in der Absicht, die Leser dafür zu sensibilisieren.
Zuerst zwei Beispiele für deutliche Unterschiede auf den beiden Seeufern:
Broot/Brood: Das alte t im absoluten Auslaut wird im westlichen Teil des Kantons Zürich, im angrenzenden Streifen des Aargaus, in den Kantonen Luzern, Zug und Schwyz lenisiert. Hier verläuft längs durch den Zürichsee eine klare Trennlinie, indem auf dem linken Ufer Brood, auf dem rechten Ufer Broot gesagt wird oder wurde. Nicht ganz überraschend finden wir in der Stadt Zürich beide Formen nebeneinander, interessanterweise auch in Meilen, über den See hinweg beeinflusst von Horgen.3 Weitere entsprechende Beispiele: si gaat / si gaad «sie geht», er hät gsäit / häd gsäid «er hat gesagt», es staat / staad ere guet «es kleidet sie gut».
Die Trennlinie zwischen Wììs, Wise und Matte ist ebenfalls im Zürichsee zu sehen und folgt nachher der Limmat,4 westlich dieser Linie sagte man Matte, östlich davon Wììs oder Wise.
In Wädenswil ist es selbstverständlich zu sagen: Er häd es Rippi proche, während man im grösseren Teil des Kantons sagte: Er hät es Ripp proche, wobei man heute oft diesem Unterschied ausweicht, indem der Diminutiv Rippli gewählt wird. Der Grenzverlauf zwischen Ripp und Rippi ist interessant, wie aus Karte 65 hervorgeht: hier haben wir die deutliche Übereinstimmung Kilchberg–Küsnacht.
Die lautlichen und lexikalischen Übereinstimmungen über den See hinweg, also etwa Kilchberg–Küsnacht oder Horgen–Meilen waren für das feinere Ohr durchaus hörbar, sind aber als kleinräumige Erscheinungen am Verschwinden. Meine Familie kommt mütterlicherseits aus Meilen, väterlicherseits aus Küsnacht; die feinen Dialektunterschiede aus dieser Herkunft sind mir aus der Kindheit im Ohr.
Die Übereinstimmungen zwischen Wädenswil und Uetikon haben dagegen einen andern Hintergrund: Schon vor 1287 gehörte Uetikon zur Herrschaft der Freien von Wädenswil, von 1287 bis 1549 zur Johanniterkomturei Wädenswil, und von 1550 bis 1798 war es Teil der Landvogtei Wädenswil. Der Zusammenhang wurde unterstrichen dadurch, dass Wädenswiler in Uetikon Rebberge besassen und es auch Eheschliessungen Wädenswil/Uetikon und Uetikon/Wädenswil gab.6
 

Karte 2

SPECKGRENZE

Es wird ganz deutlich unterschieden zwischen dem nordostschweizerischen normal offenen Vokal (aus mhd. ë) und der südlich daran anschliessenden, typisch schweizerdeutsch-überoffenen ä-Lautung.

Karte 3

«SÄGE, SÄGEN»

Karte 4

TANE/TANNE «TANNE»

Die zürcherische Normalform mit -n- (für mhd. nn zwischen Vokalen) ist auch die alleinige oder mindestens verbreitete Form in TG, SG und in der March (SZ). Im Westen und Süden ist die geminierte Form Tanne weit verbreitet, dazu in SH.

Karte 5

«FLACHKUCHEN MIT BELAG»

An Tüne, Tünne, auch im nordöstlichen Aargau, in Schaffhausen und im Thurgau, schliesst sich in der Nordostschweiz Flade in St.Gallen und Appenzell an. Wèèje ist verbreitet in der Nordwestschweiz von Basel bis Luzern und in Glarus. Südlich davon schliesst Chueche an.

SPRACHWANDEL

Markante lautliche Kennzeichen, die sprachliche Binnenräume und ihre Bewohner charakterisieren, werden in der Sprachwissenschaft nach dem alttestamentlichen Buch der Richter als «Schibbolet» (hebr. «Flut» oder «Ähre») bezeichnet. Das Buch der Richter berichtet, wie der Anführer der Gileaditer (östlich des Jordans) die von westlich des Jordans eingefallenen Efraimiter in die Flucht schlug. «Und Gilead besetzte die Furten des Jordan vor den Efraimiten. Und wenn ein Flüchtling von den Efraimiten sprach: Ich will hinüber!, sagten die Männer des Gilead zu ihm: Bist du Efraimit? Sagte er dann: Nein!, so sagten sie zu ihm: Sag Schibbolet. Sagte er dann: Sibbolet, weil er es nicht so aussprechen konnte, ergriffen sie ihn und machten ihn nieder an den Furten des Jordan. So fielen zu jener Zeit von Efraim Zweiundvierzigtausend.»7
Wenn man im Zürcher Weinland bei älteren Sprechern noch den charakterisierenden Spruch hört: S hät aane e Zaane voll Saapfe d Laatere durab gschlaapft – also die Lautung aa für ei wie in Teilen des Kantons Schaffhausen8 –, so wäre damit ein solches Schibbolet für das Weinland genannt. Allerdings ist die Zeit bis zu seinem Verschwinden absehbar; bereits heute wird das aa für ei nur noch von älteren Sprechern aktiv gebraucht, jungen Sprechern ist es kaum noch passiv geläufig. Mit dem Schibbolet Laatere käme man heutzutage kaum mehr über die Thur, man müsste dazu mindestens noch die Lèitere kennen.
Eine solche Entwicklung wird als Sprachwandel bezeichnet, eine nicht neue Erscheinung, denn Sprache ist immer im Wandel. Nur hat sich der Sprachwandel in unserem Mundartraum gegenüber früher massiv beschleunigt. Dieser Ausgleich zwischen Mundarträumen, dem spezifische Ausdrücke und Lautungen zum Opfer fallen, folgte immer den Verkehrswegen und war in Gebieten, die verkehrsmässig weniger erschlossen waren, geringer. In unserer Zeit mit hoher Mobilität der Bevölkerung ist er naturgemäss bedeutend stärker und wird wesentlich unterstützt durch den unmittelbaren Einfluss der elektronischen Medien.
Wenn hier von Sprachwandel in unserem Sprachraum gesprochen wird, ist damit nicht die Übernahme von Wörtern aus anderen Sprachen gemeint. Solche Entlehnungen gab es immer, und sie waren bereichernd, wenn die Lehnwörter in die Sprache integriert wurden, was bei neueren Anglizismen und Amerikanismen nicht so häufig der Fall ist.
 

Karte 6

«RIPPE»

Die Grenze zwischen Rippi im Westen und Ripp im Osten verläuft entlang der Limmat, schliesst Wollishofen und Kilchberg aus, quert den See und verläuft entlang der Südgrenze von Küsnacht, Maur, Uster und biegt in Grüt/Wetzikon nach Südosten ab; Hinwil und Dürnten gehören bereits zum Gebiet Ripp.
 




Heinz Gallmann

ANMERKUNGEN

1 Diese und die folgenden Überlegungen basieren auf Paul Kläui/Eduard Imhof, Atlas zur Geschichte des Kantons Zürich, Zürich (Orell Füssli) 1951.
2 Die Karten sind übernommen aus Heinz Gallmann, Zürichdeutsches Wörterbuch, Zürich (NZZ Buchverlag) 2009. Sie basieren auf dem Schweizerdeutschen Sprachatlas (SDS), Bern (Francke) 1962– 1997.
3 SDS II 176.
4 SDS VI 93.
5 SDS I 163.
6 Peter Ziegler, Uetikon am See, Stäfa 1983, S. 46, 55. Staatsarchiv Zürich, C II 14 und C II 15.
7 Buch der Richter 12,5 ff., zitiert nach der Zürcher Bibel, Zürich 2007.
8 Heinz Gallmann, Schaffhauser Mundartwörterbuch, Schaffhausen (Meier) 2003, Karte 10, S. 228.