Aus der Gründungszeit des Waisenhauses Wädenswil

Quelle: «Zürichsee-Zeitung» Bezirk Horgen, Freitag, 9. Oktober 1998, Text und Bilder Peter Ziegler

Vor 150 wurde das Waisenhaus eingeweiht

Heute erinnert in Wädenswil nur noch der Name Waisenhausstrasse daran, dass das stattliche Gebäude bergseits dieses Strassenzugs gegenüber den Neubauten im Eichweidquartier einst als Waisenhaus erstellt wurde. Vor 150 Jahren, am 9. Oktober 1848, fand die Einweihung statt.
Dies sei Anlass zu einem Rückblick in die Geschichte dieser in der Gründungszeit modellhaften sozialen Einrichtung.

Waisenhaus Wädenswil. Darstellung aus der Zeit um 1850.

Keine Waisen mehr im Armenhaus!

Bis zu Beginn des 19. Jahrhunderts wurden Waisenkinder in Wädenswil «vertischgeldet», das heisst Verwandten oder Fremden gegen eine Entschädigung an Kost gegeben. Als Reaktion auf das Hunger- und Teuerungsjahr 1816/17 baute man im fortschrittlich eingestellten Dorf ein geräumiges Armenhaus. Es stand am Plätzli und wurde Ende 1818 bezogen. Neben armen, alten und gebrechlichen Frauen und Männern fanden hier fortan auch Waisenkinder Unterkunft und wurden von «Armenhäuslern» beaufsichtigt. Ab 1837 waren Kinder und Erwachsene mindestens in getrennten Räumen untergebracht. Die Altersdurchmischung befriedigte aber je länger je weniger. Das Urteil der Waisenkommission Wädenswil lautete: «Die alljährlich sich mehrende Zahl der im Armenhause zu versorgenden Personen erregte schon längst die Aufmerksamkeit der hiesigen Behörden und menschenfreundlichen Privaten, und besonders mussten die vielen der Armenanstalt anvertrauten Kinder jeden gut gesinnten und denkenden Bürger mit Besorgnissen erfüllen, da die Überfüllung des Hauses es der Verwaltung durchaus unmöglich machte, den Kindern die nötige Sorgfalt zuzuwenden und sie vor jedem Umgange mit den erwachsenen, zum grössten Teil sittlich verdorbenen Bewohnern des Hauses zu bewahren.» Abhilfe tat darum Not.

Pestalozzis 100. Geburtstag als Anstoss

1845 regte die Lesegesellschaft Wädenswil an, den im Januar 1846 zu feiernden hundertsten Geburtstag des Erziehers und Jugendfreunds Heinrich Pestalozzi zum Anlass zu nehmen, in Wädenswil ein Waisenhaus zu gründen. Da jedoch kein geeignetes Lokal erworben werden konnte, liessen die gemeinnützig denkenden Wädenswiler ihren Plan wieder fallen. Sie begnügten sich damit, einen «Hülfsverein zur Bekleidung armer Schulkinder und zur Unterstützung armer Kranker» - den heutigen Pestalozziverein Wädenswil - zu gründen.
In der Nacht auf Pfingst-Dienstag, 9. Juni 1846, brach in den «Huber-Häusern» ob dem Dorf Feuer aus. Beide Wohnbauten waren - teils wegen «sehr mangelhaftem» Einsatz der Feuerwehr - nicht mehr zu retten. 28 Personen aus fünf Haushaltungen wurden obdachlos.
Wenige Tage später waren die Brandruinen zum Kauf ausgeschrieben. Alt Gemeindepräsident Caspar Rellstab auf dem Leihof regte an, dieses Areal als Bauplatz für ein Waisenhaus zu erwerben. Eine Versammlung von 48 Bürgern beschloss im Juni 1846 in diesem Sinne. Als Käuferin sollte die Gemeinde auftreten, doch waren die Geldmittel zunächst durch zinsfreie Aktien beizubringen und später etappenweise zurückzuzahlen. Eine private Gesellschaft rief deshalb zur Aktienzeichnung auf und erwarb für 15 600 Gulden von vier verschiedenen Grundeigentümern 33 Jucharten Wiesen und Äcker, eine grosse und zwei kleine Scheunen, zwei Jucharten Ried- und Torfland sowie eine Jucharte Wald. Am 8. November 1846 genehmigte die Gemeindeversammlung die von der privaten Gesellschaft und vom Gemeinderat getätigten Landkäufe. Für den Erwerb der Liegenschaft, den Bau und die Einrichtung bewilligte sie einen Gesamtkredit von 30 000 Gulden und beschloss, die 800 ausgegebenen Aktien zu 25 Gulden seien ab 1849 bis spätestens Ende 1857 zurückzuzahlen. Dies geschah denn auch, wobei man die zur Rückzahlung fälligen Aktien durch das Los ermittelte.

Aktie Nr. 154 der Waisenanstalt Wädenschweil, mit zwei Ansichten des Waisenhauses und dem Bienenkorb, Signet des Sparkasse Wädenswil. Lithographie von Johannes Brupbacher, Wädenswil.

Bau des Waisenhauses

Eine Kommission von 13 Mitgliedern erhielt den Auftrag, den Bau in die Wege zu leiten und einen tüchtigen Lehrer als Verwalter zu suchen. Zunächst galt es, den Brandschutt wegzuräumen und eine Strasse anzulegen. Der zürcherische Architektenverein und die Wädenswiler Baumeister wurden eingeladen, nach vorliegendem Raumprogramm ein Waisenhaus zu planen. Im März 1847 trafen verschiedene Baupläne ein. Die Kommission konnte sich für kein Projekt entscheiden und legte ein eigenes vor. Um die selbe Zeit gingen Pläne des Zürcher Architekten Ferdinand Wilhelm Holzhalb (1824-1880) ein, welche sich am Städtischen Pfrundhaus orientierten, das Leonhard Zeugheer 1840 bis 1842 in der Stadt Zürich gebaut hatte. Dieses Projekt gefiel allgemein, und Holzhalb erhielt den Auftrag. Allerdings hatte er die veranschlagten Baukosten zu senken - die Geschosshöhen wurden um einen Fuss vermindert, und statt rundbogigen Fenstern sah man viereckige vor. Die Bauausführung übertrug die Kommission zwei Wädenswilern: dem Steinmetz Heinrich Blattmann-Hauser (1813-1880) und Zimmermann Jakob Bachmann-Hauser (1820-1891).
Im Juni 1847 wurde mit den Bauarbeiten begonnen. Sie kamen gut voran; am 24. Juli konnte im Beisein der gesamten Waisenhauskommission der Grundstein gelegt und kräftig begossen werden. Als der erste Boden verlegt war, gab es wieder ein Fest. Die Arbeiter erhielten als Spende einen halben Eimer Wein, acht Laib Brot und einen halben Käselaib. Die Fertigstellung des zweiten Bodens im November wurde dann nicht mehr gefeiert: Es waren die Tage des Sonderbundskrieges. Das Werk wuchs ohne Zwischenfälle und «unter den Segenswünschen der Bevölkerung» und war im Herbst 1848 planmässig vollendet.

Die Einweihung

Am Montag, 9. Oktober 1848 konnte das Waisenhaus Wädenswil feierlich eingeweiht werden. Punkt neun Uhr versammelten sich die von der Festkommission Geladenen im Dorfschulhaus in der Eidmatt: Ehrengäste, Waisenhauskommission, Gemeindebehörden, vom Frauenverein «diejenigen Frauenzimmer, welche teils bisher für die Waisenanstalt Arbeiten geliefert haben oder ferner zu liefern gedenken», dazu der Sängerverein. Von hier aus zog man zu kurzem Gottesdienst in die Kirche und anschliessend - mit den über 50 Waisenkindern und in Begleitung «des zahlreichen Volkes» - unter Glockengeläute zum neuen Waisenhaus hinauf. Dort schilderte Gemeindepräsident Oberst Ulrich Hauser «zum Sonnenhof» als Festredner die Entstehung des Neubaus. Dann erläuterte Dekan Friedrich Häfelin «die innere Bedeutung der Anstalt», und der Leiter, Waisenlehrer Tschudi, «erging sich über den Zweck des Hauses und die Mittel, denselben zu erreiche».
Nach der Besichtigung des Innern begab sich der Zug wieder ins Dorf hinunter. Die Männer - Ehrengäste, Behördenmitglieder, Aktionäre und Sänger - versammelten sich im Gemeindehaus («Sonne») «zu frohem Mahle». Neben den offiziellen Gästen hatten auch die Spender von freiwilligen Gaben Zutritt zum Festbankett. Sie mussten jedoch die Bankettkarte aus eigener Tasche bezahlen. Die Damen des Frauenvereins «labten» sich gleichzeitig im Hotel «Seehof» «am süss duftenden Kaffee».
Seeseitige Fassade mit ursprünglicher Eingangspartie. Postkarte um 1910.
 

Das Waisenhaus - ein Baudenkmal

Das ehemalige Waisenhaus - ein klassizistischer Bau - ist heute ein Denkmalschutzobjekt von kommunaler Bedeutung. Das langgestreckte Gebäude ist entlang der Waisenhausstrasse orientiert und mit der Hauptfassade gegen den See ausgerichtet. Senkrecht zum Mitteltrakt stehen zwei seitliche Flügel, so dass die Gesamtanlage ein «U» bildet und bergseits einen Hofbezirk einschliesst. Der verputzte Massivbau trägt ein Walmdach; Sockelzone und Eckpartien des Gebäudes bestehen aus Hausteinen. Gurtgesimse über der Sockelzone und zwischen beiden Geschossen betonen die Horizontale. Ein aus Ziegelsteinen bestehendes Zickzackfries begleitet das oberste Gurtgesims, und ein Zierfries in Backsteinornamentik, das Balkenwerk imitiert, betont das Dachgesims. Der seeseitige Eingang mit Freitreppe und dreiteiliger rundbogiger Portalarkade wurde beim Umbau von 1969 entfernt.
Zur Liegenschaft gehören zwei Ökonomiegebäude. Der südöstliche Satteldachbau, mit bretterverschaltem Obergeschoss auf massiv gemauertem Erdgeschoss, stammt aus dem Jahre 1849, die Scheune im Nordwesten von 1873.

Die ersten Heimeltern

Zum ersten Heimvater im neuen Waisenhaus hatte die Kommission bereits am 29. Februar 1848 den Lehrer Tschudi gewählt, den damaligen Gehilfen an der Armenschule der Linthkolonie. Er leitete das Waisenhaus, bis er 1857 zum Direktor der Linthkolonie gewählt wurde. Tschudi erteilte den Waisenkindern Unterricht, leitete sie zur Arbeit an, sorgte für Ordnung und Disziplin, führte die Rechnung über das Hauswesen und verwaltete den Landwirtschaftsbetrieb. Seine Frau unterstützte ihn als Hausmutter. Sie leitete die Geschäfte in Küche und Keller, war für die Kleiderpflege zuständig, führte ein genaues Haushaltungsjournal und lehrte «vornehmlich die Töchter die nötigen weiblichen Arbeiten und den Gemüsebau im Garten der Anstalt».

Waisenkinder im Hof vor dem Waisenhaus, um 1920. (Archiv P. Ziegler)

Jugendheim

Während vieler Jahrzehnte versah das von tüchtigen Heimeltern geleitete Waisenhaus gute Dienste. Mit der Zeit wurde aber der Betrieb im alten Gebäude beschwerlich. Die Armenpflege erwog darum in den 1960er Jahren einen Neubau, musste aber das Vorhaben zurückstellen, weil die Gemeinde mit anderweitigen kostspieligen Aufgaben belastet war. Man entschloss sich daher zu einer gründlichen Renovation des Hauses, die im Herbst 1969 vollendet werden konnte.
1967 wurde die Bezeichnung «Waisenhaus» durch «Jugendheim» ersetzt. Dieser Ausdruck umschrieb Aufgabe und Ziel der gemeindeeigenen Institution wieder zutreffend. Denn seit vielen Jahren hatte das Waisenhaus nur noch eine ganz geringe Zahl von Vollwaisen beherbergt. Die meisten der 30 Kinder, die 1970 im Jugendheim wohnten, waren Sozialwaisen, Kinder aus geschiedenen oder zerrütteten Ehen und stammten nicht nur aus Wädenswil.
 

Durchgangszentrum Wädenswil

1982 wurde das Jugendheim geschlossen und vorübergehend der Ingenieurschule Wädenswil vermietet. Im Auftrag der Sozialbehörde erarbeiteten die Architekten Rüesch & Hatt eine Umbaustudie, welche die Umwandlung des Hauses in preisgünstigen Wohnraum vorsah. Als man an die Detailprojektierung dieses Vorhabens gehen wollte, wurde der Stadtrat angefragt, ob er der Stadt Zürich das Jugendheim für einige Jahre als Durchgangsheim für Asylbewerber zur Verfügung stelle. Der Gemeinderat stimmte der Vermietung für diesen Zweck zu, und so wurde das einstige Waisenhaus auf Anfang August 1984 Durchgangsstation für Asylbewerber. Einem Bericht im «Allgemeinen Anzeiger vom Zürichsee» vom 31. Oktober 1985 war zu entnehmen, dass man im Gebäude maximal 65 Plätze in 17 Zimmern zur Verfügung stellen könne, und dass hier 59 Personen aus 12 verschiedenen Nationen wohnten, von denen die Tamilen die grösste Gruppe ausmachten. Noch heute nutzt die Stadt Zürich als Mieterin das vor 150 Jahren fertiggestellte Haus als eines ihrer Durchgangsheime. Die offizielle Bezeichnung lautet jetzt: «Durchgangszentrum Wädenswil».




Peter Ziegler