ERSTE KINOZELTE AN DER CHILBI
Am 28. Dezember 1895 projizierten die Gebrüder Auguste und Louis Lumière in Paris erstmals mit ihrem Cinématographe ein Filmprogramm vor zahlendem Publikum. Rasch verbreitete sich die neue Maschine, welche als Kamera und Projektor Filme aufnehmen und wiedergeben konnte, in aller Welt und auch in der Schweiz. Angefangen bei Genf, wo ab 7. Mai 1896 während der Landesausstellung im Palais des Fées regelmässig Vorstellungen stattfanden, wurden bis Ende 1896 in allen grösseren Schweizer Städten Filme und Projektoren präsentiert, meist von Vertretern der diversen Herstellerfirmen.
1 Dass aus der neuen Technologie sofort ein neues Unterhaltungsmedium entstand, ist aber einer alten Branche zu verdanken, den professionellen Schaustellern. Ihre reisenden Zeltkinematographen waren die erste Grossform von Kino, ebenso populär wie spektakulär, mit luxuriösen Chapiteaux, Orgeln und Orchester und mächtigen «Dampflokomobil-Generatoren».
2 Auch die Wädenswiler sahen zum ersten Mal Filme in einem solchen Kinozelt, im «Theater-Cinematograph» des Bielers Georges Hipleh-Walt (1857-1940) an der
Chilbi 1899.
3 Kino trat nicht als etwas völlig Neues auf, sondern als eine neue Schaustellung unter den ehemals neuen, den «Panoptikums, Panoramas mit Ansichten neuester Kriegsereignisse, Menagerien, Caroussels mechanischen und elektrischen Betriebs, Schaukels, Photographier-Ateliers, Phonographs usw.» auf dem Budenplatz. Sensationelle «lebende Photographien» kündigte ein Inserat im «Allgemeinen Anzeiger vom Zürichsee» an.
4 Der Kinematograph war offensichtlich ein Anziehungspunkt. Denn ein Jahr später, als das Kinogeschäft wiederum die Chilbi besuchte, empfahl auch die Redaktion einen Besuch und erläuterte: «Mittels des Kinematographen ist es bekanntlich gelungen, Vorgänge des Lebens in getreuer Kopie, wie sie sich abspielen und in voller Aktivität, in bildlicher Wiedergabe an die Wand zu werfen, so dass man glaubt, vor dem wirklichen Leben zu stehen.»
5 Doch Neuheit schwindet schnell. Schon 1908 heisst es im Chilbibericht bloss, der Kinematograph biete «auch heute noch» genussreiche Stunden; in dieser Saison war «die wahrsagende Wunderspinne» noch nie dagewesen – und Aufmerksamkeit erregte die «mit 1000000 Nadelstichen» volltätowierte Miss Arabella.
6 Jahr um Jahr mussten sich die an der Chilbi gastierenden zwei Kinematographen bemühen, dem Publikum immer das Neueste zu bieten, wobei Hipleh-Walt sich gegenüber den Konkurrenten klar als Marktführer profilierte mit «hunderten von neuen kolorierten lebenden Bildern in künstlerischer Farbenpracht», einer «vollständig neuen, modernen Ausstattung» oder – als «letzte Neuheit» und «Wunder der
Technik» – den «lebenden, sprechenden, singenden, musizierenden Photographien».7 Das waren so genannte Tonbilder, bei denen Schallplatten und Film synchron gespielt wurden: gewissermassen die ersten Musik-Clips. Fast jährlich änderte Hipleh-Walt den Namen seines Riesen-, Salon-, Phono-, Theater-Cinématographe «Moderne Excelsior». «Grösstes und beliebtestes Kinematographen-Unternehmen der Schweiz – 800 Sitzplätze – eigene Musikkapelle – Kolossal-Bildfläche 40 Quadratmeter», bewarb er sein Unternehmen in Inseraten.8 Von allen Schaustellern gab er die grössten Anzeigen auf. Vielleicht auch ein Grund dafür, dass die Redaktion der «Nachrichten vom Zürichsee» 1912 nicht an Lob sparte: «Es ist kaum fasslich, was die heutige Technik alles fertig bringt. Mit offenem Munde sitzen sie, Gross und Klein, und staunen auf die weisse Leinwand, wo alles lebendig ist.»9
UNHALTBARE BEDÜRFNISKLAUSEL
An der Chilbi gastierten Zeltkinos noch viele Jahre. Doch schon früh gab es auch Projekte für ein Ortskino. Ein erstes Gesuch um Bewilligung eines dauernden Kinobetriebes in Wädenswil traf im November 1909 beim Gemeinderat ein, zwei weitere kamen im Lauf des Jahres 1910. Alle drei beantwortete der Gemeinderat abschlägig. Er hatte beschlossen, «dass der hiesigen Einwohnerschaft genügend Gelegenheit geboten ist, an der Kirchweih und bei anderen Anlässen Kinematographen zu besuchen, weshalb kein Bedürfnis für Einrichtung eines ständigen Kinematographen in hiesiger Gemeinde besteht.»15 Dem Kino eilte kein guter Ruf voraus. Dem Bildungsbürgertum an der Wende zum 20. Jahrhundert war diese Art der Unterhaltung suspekt. In der ablehnenden Haltung der Behörden – weit verbreitet bei Bildungsbürgern und Obrigkeiten in jenen Jahren – lag eine Bevormundung des Publikums. Vergnügungen und Geldausgaben der Bevölkerung, zumal jene der Arbeiter, Frauen und Kinder, versuchte man zu kontrollieren. «Krisenzeiten», lautete ein beliebtes Argument. Scheiterten die Konzessionsgesuche nicht an den komplizierten kantonalen Bewilligungsverfahren, so wurden sie von den lokalen Behörden mit der Bedürfnisklausel, die im kantonalen Markt- und Hausiergesetz verankert war, blockiert. Die Situation änderte sich, als am 10. Februar 1911 der Bundesrat die Beschwerde der Luzerner Kinobetreiber Meyer und Hofmann schützte und aufgrund des Artikels 31 der Bundesverfassung die Handels- und Gewerbefreiheit über die Bedürfnisfrage stellte.16 In der Folge boomte die Kinobranche landesweit, und auch der Wädenswiler Gemeinderat unter dem Präsidium von Brauereibesitzer Franz Weber-Hauser musste umdenken und auf das nächste Konzessionsgesuch eingehen. Der Rapperswiler Willy Leuzinger (1878–1935) hatte am 25. Januar 1912 ein solches eingereicht und erhielt prompt eine Bewilligung.17 Leuzinger, ein junger Mechaniker mit Spezialisierung auf die damals neue Elektromechanik, hatte 1901 ins Wirtefach gewechselt und 1904 in Rapperswil das Gasthaus zum Hecht gekauft, wo er, vielleicht schon 1906, ganz sicher aber ab Anfang 1909, regelmässig am Wochenende Filme zeigte. Ab Mitte 1910 hiess das Säli im ersten Stock «Kinotheater zum Hecht» und bald vornehmer «Elektrisches Lichtbild-Theater». Von hier aus baute Leuzinger ohne Kapital, dafür mit umso mehr Ideen und Schwung, ein kleines Kino-Imperium auf, das heute noch besteht. Mit seinen drei Töchtern betrieb er dauernd oder zeitweise Säle in Rapperswil, Wädenswil, Rüti, Altdorf, Arth, Einsiedeln, Frauenfeld und Buchs. Parallel dazu führte er bis 1942 ein abspielstarkes Wanderkino und ging gelegentlich auf Saaltourneen mit speziellen Grossfilmen wie der ersten «Ben Hur»-Verfilmung (1929). Von Bedeutung für die Schweizer Filmgeschichte ist insbesondere Leuzingers beachtliche Filmproduktion. Er machte in den 1920er-Jahren rund hundert Aufnahmen von öffentlichen Ereignissen im Tourneegebiet zwischen Bodensee und Gotthard und zeigte sie als besondere Attraktion in seinen Kinozelten und -sälen. Während Hipleh-Walts frühe Produktion weitgehend verloren ist, blieben rund siebzig Aktualitätenfilme Leuzingers im Rapperswiler Firmenarchiv erhalten. Dieser einzigartige Bestand ist heute, nach erfolgter Restaurierung, öffentlich zugänglich und vorführbar.18
«LICHTBILD-THEATER» AM REBLAUBENWEG
Leuzingers «Elektrisches Lichtbild-Theater» in Wädenswil, das «erste Etablissement dieses Genres auf dem Platz», eröffnete am 23. November 1912 am Reblaubenweg. Es befand sich in einem Gebäude direkt hinter dem «Engel», welches an das Haus Alpina angebaut war, an der Stelle des heutigen Hauses Seestrasse 120 stand und 1963 abgerissen wurde. Es gehörte damals
Adolf Stutz, Buchdrucker und Verleger der «Nachrichten vom Zürichsee». Die Einrichtung des Saales mit 100 Plätzen finanzierte ein Simon Führer-Disler aus Wädenswil mit 2500 Franken, wie ein erhaltener Vertrag belegt.
19 Der Gemeinderat hatte die Betriebsbewilligung mit zahlreichen Auflagen versehen. Leuzinger durfte nur an Samstagen und Sonntagen Vorstellungen geben und musste die Filme vorgängig von der Polizeikommission begutachten lassen. Monatlich hatte er ausserdem 50 Franken Konzessionsgebühr in die Gemeindekasse zu bezahlen.
20 In Zeitungsinseraten kündigte Leuzinger sein Programm gross an. Die Komödien «Ein Idyll im Gutshof» mit Max Linder und «Das Pony des Obsthändlers» gehörten zu den ersten Programmen, aber auch das Drama «Treu bis in den Tod», der Western «Der Kampf mit Rothäuten» und reich kolorierte Naturfilme wie «Opossumjagd in Australien».
21 Leuzinger zeigte mehrheitlich französische Produktionen, ab und zu auch einige deutsche Filme – vor allem wenn damalige Kinostars wie Albert Bassermann mitspielten –, und regelmässig auch eine Wochenschau. Im «Elektrischen Lichtbild-Theater» gab es, wie damals üblich, «ununterbrochen Vorstellungen, Eintritt zu jeder Zeit», und an jedem Spieltag lief ein neues Programm mit mehreren kürzeren Filmen. Langspielfilme wie «Die letzten Tage von Pompeij» oder «Les Misérables» waren die Ausnahme. Leuzinger organisierte seine zwei Wochenend-Kinos so, dass das Wädenswiler Samstagsprogramm am Sonntag in Rapperswil lief und umgekehrt. Pro Jahr kamen in beiden Ortschaften auf diese Weise in etwa hundert verschiedenen Programmen einige hundert Filme der neuesten internationalen Produktion zur Aufführung. Die Begriffe Kino und Film waren damals noch nicht allgemein üblich, und in den zeitgenössischen Texten findet man eine Vielfalt von Bezeichnungen: Kinematograph, Lichtbühne, Lichtspiele oder Lichtbild-Theater. Es liefen nicht Filme, sondern es wurden Bilder gekurbelt. Das von «Kinematograph» abgeleitete Kino war übrigens lange (und ist gebietsweise noch) maskulin, also der Kino. Obwohl Leuzinger sein Kino in den Inseraten als «Familienkinematograph» bezeichnete, hatten Kinder und Jugendliche ausser zu besonderen Schülervorstellungen grundsätzlich keinen Zutritt. Diese waren selten, denn die Dorfschulpflege hatte beim Gemeinderat durchgesetzt, «Schülervorstellungen im Kinematographentheater aufs tunlichste zu beschränken und höchstens alle ein bis zwei Monate eine solche zu gestatten».
22 Ursprünglich unterstand das Kino den Markt- und Hausierergesetzen und interessierte die Behörden nur hinsichtlich Feuerschutz und Patenttaxen; es gab keine Altersbeschränkungen. Gerade 1912 aber waren selbst ernannte Kinoreformer, meist Lehrer und Geistliche, am Werk, um die zarten Kleinen vor Schundfilmen und der verderblichen Kinosucht zu schützen. Schliesslich trat am 16. Oktober 1916 im Kanton Zürich eine restriktive Kinoverordnung in Kraft und machte der Freiheit der ersten zwanzig Jahre Kino ein Ende.
23 Dem «Elektrischen Lichtbild-Theater» war kein langes Leben beschieden. Das erste ständige Kino in Wädenswil schloss mit Ausbruch des Ersten Weltkriegs Anfang August 1914 seine Türen.
24 Leuzinger war zum Militärdienst einberufen worden. Bis 1922 wieder ein ständiges Kino eröffnet wurde, war die Chilbi erneut der einzige Ort, wo Filme vorgeführt wurden. Die beiden Wanderkinobetreiber Heinrich Weidauer
25 und Philipp Leilich, beide schon lange im Geschäft, waren auch während der Kriegsjahre unterwegs. 1919 kehrte auch Willy Leuzinger zurück mit Vorstellungen im Saal des «Engels» und mit einem neuen Zeltkino, seinem «Schweizer National-Cinema». Er hatte ins Reisegeschäft expandiert und übernahm diesen Markt nach und nach, während die anderen Schausteller aufgaben.
Zähes Bewilligungsverfahren
Die Bemühungen, in Wädenswil wieder ein Kino zu eröffnen, setzten unmittelbar nach dem Ende des Ersten Weltkriegs ein. Ende 1918 schrieb Xaver Geisser dem Gemeinderat, er wolle auf seinem Grundstück an der Schlossbergstrasse ein Kino errichten. «Da sich in dieser Gemeinde von 10000 Einwohnern noch kein Kino-Theater befindet, wird es sich schon lohnen, der Einwohnerschaft von Wädenswil auch ein Vergnügen zu bereiten», begründete er sein Vorhaben.26 Der Gemeinderat – inzwischen vom Unternehmer Emil Hauser-Hottinger präsidiert – antwortete umgehend, er erachte es mitten in der Wirtschaftskrise, die dem Ersten Weltkrieg folgte, als ungünstig, ein Kino zu eröffnen, und legte Xaver Geisser nahe, das Gesuch zurückzuziehen.27 Xaver Geisser liess aber nicht locker. Zusammen mit seinem Bruder Meinrad reichte er im November 1919 kurzerhand ein Baugesuch für ein Kinogebäude ein. Dieses beantwortete der Gemeinderat abschlägig. Eine Baubewilligung könne nicht erteilt werden, da nach dem Bau der Etzelstrasse ein Quartierplanverfahren laufe, das neue Strassenverbindungen zwischen Etzel- und Seestrasse vorsehe. Solange es nicht abgeschlossen sei, gebe es keine Baubewilligungen.28 Die Gebrüder Geisser rekurrierten gegen diesen Entscheid beim Bezirksrat in Horgen, waren indessen chancenlos. Das laufende Quartierplanverfahren war für den Gemeinderat freilich nur ein vorgeschobener Grund. Dass er grundsätzlich gegen ein Kino in Wädenswil eingestellt war, hielt er fest, nachdem Xaver Geisser erneut ein Gesuch eingereicht hatte. Im Protokoll vom 3. März 1921 heisst es deutlich, es bestehe kein Bedürfnis für ein Kino und gehe nicht an, «dass von der Behörde aus der bereits stark über Hand genommenen Vergnügungssucht noch mehr Vorschub geleistet oder dieselbe bei der Jugend allzu früh geweckt wird». Als Willy Leuzinger von den Bemühungen der Gebrüder Geisser Wind bekam, beeilte er sich, selbst um eine Bewilligung nachzusuchen. «[Ich möchte] nicht versäumen, den geehrten Gemeinderat höflich anzufragen, ob meine Bewilligung, die mir im Jahr 1912 erteilt und bis heute noch nie entzogen wurde, noch in Kraft ist», schrieb er im Februar 1921. Er schlug vor, zwei Tage pro Woche im Engelsaal zu spielen und den Bau eines eigentlichen Kinogebäudes erst in Erwägung zu ziehen, «wenn bessere Zeiten kommen». «Die langjährige Geschäftsverbindung mit den grössten Filmhäusern in Europa, mit denen ich Verträge abgeschlossen habe, gewähren Ihnen die Sicherheit, nur mit tadellosem Film zu arbeiten», betonte Leuzinger.29 Der Gemeinderat wimmelte Leuzinger ab. Das kantonale Gewerbepatent, das Kinobesitzer benötigten, werde nur an im Kanton Niedergelassene erteilt, antwortete der Gemeinderat dem Rapperswiler. «Da aber in unserer Gemeinde grosse Wohnungsnot herrscht, könnten wir Ihnen hier niemals eine Wohnung zuteilen.»30 Dass Leuzingers tüchtige älteste Tochter Mathilde Ende 1921 in Thalwil ein Zimmer nahm und eine Zürcher Niederlassung erwarb, könnte damit in Zusammenhang stehen. Zwischen 1919 und 1921 sind darüber hinaus vier weitere Gesuche um Einrichtung eines Kinos in Wädenswil aktenkundig. Drei auswärtige Kinobetreiber und der Pächter des Hotels Engel bemühten sich ebenfalls, eine Konzession zu erhalten. Der Gemeinderat beantwortete alle abschlägig.31
KAMPF GEGEN KONKURRENZ
Auch wenn nun Wädenswil über ein ständiges Kino verfügte, kam Willy Leuzinger weiterhin mit seinem Wanderkino zur Chilbi und zahlte dafür Jahr um Jahr ein Platzgeld von 200 bis 220 Franken – wesentlich mehr als alle anderen Schausteller.37 Gleich im ersten Betriebsjahr starteten die Gebrüder Geisser einen Konkurrenzkampf gegen ihn, der je länger, je gehässiger und verbissener werden sollte. Vor der Chilbi 1922 schrieben sie dem Gemeinderat: «So viel wir wissen, kommt Leuzinger mit seinem Kino, obwohl es nicht nötig gewesen wäre. Denn wenn man solche Gebühren zu entrichten hat wie wir, hätte man ihn schon fern bleiben lassen dürfen.»38 Ein Jahr später versuchten sie, mit einem unverfrorenen Geldangebot Leuzingers Spielbewilligung zu hintertreiben. Meinrad Geisser offerierte dem Präsidenten der Polizeikommission «für den Platz, wo das Kino jeweilen steht, noch 50 Franken mehr als Sie bis jetzt erhalten haben. Sie können ganz gut auf diesen Platz ein anderes Geschäft stellen [...], für die Differenz des Platzgeldes werde ich also aufkommen, da es logisch ist, dass ein anderes Geschäft keine 450 Franken bezahlen kann.»39 Die Behörden lehnten ab, unter Verweis auf die Gewerbefreiheit. Jahr für Jahr spielte sich das gleiche Spiel ab. Erhalten ist eine informative Stellungnahme der Polizeikommission vom November 1926. Sie erinnerte daran, dass seit der Jahrhundertwende stets «zwei solche Reisekinos anlässlich der hiesigen Kirchweih gastierten und zwar einer auf dem Seeplatz, der andere dagegen auf dem Sustplatz, also auch diese mussten sich eine Konkurrenz schon damals gefallen lassen. [...] Leuzingers Kino hat zudem schon früher als Geisser mit seinen Vorstellungen aufgewartet. Die Gebrüder Geisser werden sich halt wohl oder übel wie jedes andere Geschäft eine solche Konkurrenz gefallen lassen müssen, die sie ja zudem nur während der Kirchweih, und nicht wie andere das ganze Jahr, über sich zu ergehen haben.» Dann zog sie den Schluss: «Solange Leuzinger um die Bewilligung einkommt, sind wir einstimmig der Ansicht, ihm diese auch inskünftig zu erteilen, andernfalls müssten wir eventuell noch riskieren, dass andere Geschäfte mit ähnlichen Begehren aufwarten würden.»40
Nicht nur bei den Behörden, auch bei der Bevölkerung machten die einheimischen Kinobesitzer per Inserat Druck, ihr Geschäft zu berücksichtigen, das hier Gebühren und Steuern zahle. Sie lockten die Kinder mit Geschenkversprechungen und mahnten die Eltern, für die Kinder sei ein Kino mit WC gesünder. Auch vor anonymer Geschäftsschädigung schreckten sie nicht zurück. Als 1925 Leuzinger an zwei aufeinander folgenden Abenden die beiden Teile von Fritz Langs «Nibelungen» – insgesamt fünf Stunden lang – zeigte, erschien ein Inserat in der Zeitung: «Achtung! Achtung! Der Film Nibelungen ist ein Serienfilm.»41
Anmerkungen
1 Vor Dezember 1895 hatten bereits einige geschlossene Vorstellungen des Cinématographe Lumière in wissenschaftlichen Zirkeln stattgefunden. Für eine genaue Chronologie der ersten Filmprojektionen in der Schweiz siehe: Les images animées en Suisse 1895-1896: une chronologie. In: Equinoxe No. 7, revue romande de sciences humaines, Printemps 1992, S. 151-158. Dazu auch Jacques et Marie André, L'ouverture internationale de la Cinématographe Lumière. In: Roland Cosandey (Hg.), Cinéma sans frontières. Lausanne 1995.
2 Anne Paech, Zirkuskinematographen: Marginalien zu einer Sonderform des ambulanten Kinos, KINtop, Jahrbuch zur Erforschung des frühen Films, Bd. 9. Frankfort 2000, S. 82-89. Joseph Garncarz, Über die Entstehung der Kinos in Deutschland 1896-1914, KINtop, Bd. 11. Frankfort 2002, S. 144-158.
3 Die Vorstellung vom 21. August 1899 ist derzeit die früheste durch ein lnserat dokumentierte; eine frühere ist aber nicht ganz auszuschliessen, da oft nur mit Handzetteln und Aushang Reklame gemacht wurde. Vgl. Peter Ziegler, Wädenswil, Bd. 2. Wädenswil 1971, S. 226, und Max Stoop, S'isch Chilbi-Ziit. Stäfa 1997.
4 Allgemeiner Anzeiger vom Zürichsee, Nr. 95, 19.8.1899.
5 Allgemeiner Anzeiger vom Zürichsee, Nr. 98, 25.8.1900.
6 Allgemeiner Anzeiger vom Zürichsee, Nr. 97, 21.8.1908.
7 Allgemeiner Anzeiger vom Zürichsee, Nr. 98, 25.8.1900; Nr. 97, 23.8.1907, und Nr. 97, 21.8.1908. Neben Hipleh-Walt spielten bis 1910 die Unternehmen Praiss, Weidauer-Wallenda, Leilich, Rosenburg-Lowinger und Gwinner-Rosenburg in Wädenswil.
8 Allgemeiner Anzeiger vom Zürichsee, Nr. 120, 22.8.1913. Ab 1909 wird die Geschäftsführung des «Excelsior» mit «vorm. Hipleh-Walt» angegeben, 1910 und 1911 unterzeichnen Gwinner und Rosenburg die Inserate.
9 Nachrichten vom Zürichsee, Nr. 99, 23.8.1912.
10 Herve Dumont, Geschichte des Schweizer Films. Lausanne 1987, S. 20 ff.
11 Nachrichten vom Zürichsee, Nr. 97, 23.8.1902. - Im redaktionellen Teil des Allgemeinen Anzeigers vom Zürichsee, Nr. 97, 27.8.1902: «Besonders gut besucht war der Cinematograph des Hrn Hipleh-Walt und die verschiedenen Karussell. Einige wohlgetroffene photographische Aufnahmen von Wädensweil, deren gutes Gelingen konstatiert werden muss, bildete für den Cinematographen eine gute Reklame.» Zu den Filmaufnahmen aus Richterswil am 23.8.1902: «Der Besitzer ist stets bemüht dem Publikum immer das Neueste zu bieten. So hat Herr Hipleh-Walt, als er an der Kirchweih in Richtersweil war, die erste Feuerwehr-Kompagnie in voller Ausrüstung mit den Gerätschaften in Aufmarschstellung abgenommen und seinem Bilderrepertoire einverleibt. Das Bild muss trotz der schlechten Witterung, die bei der Aufnahme herrschte, recht gut ausgefallen sein und es wird in unserer Nachbargemeinde manchen Spass hervorrufen, da recht viel bekannte Kollegen vom Feuerwehrkreis sich darunter befinden.»
12 Allgemeiner Anzeiger vom Zürichsee, Nr. 97, 20.8.1909. Vgl. zum Festumzug: Im Fluge der Zeit, Bilder aus der Geschichte von Wädenswil, Fasnacht 1908.
13 Gemeindechronik Flawil, 10.11.1914.
14 Paech, a.a.O., S. 88.
15 Schreiben Gemeinderat an W.R. Hegetschwyler, 21.12.1910, Stadtarchiv 1.15.5.
16 Paech, a.a.O., S. 88.
17 Protokolle Gemeinderat, 30.1.1912, 19.11.1912, Stadtarchiv IV B I.
18 Verleihkopien 35 mm: Cinematheque Suisse, Lausanne. Konsultation Video: Kantonsbibliothek St. Gallen. Restaurierungs- und Forschungsprojekt: Mariann Lewinsky für Memoriav/Nationalfonds.
19 Vertrag vom 1.10.1912 mit Simon Führer-Disler. Diese Schulden verfolgten Leuzinger bis in die 1930er-Jahre, wie diverse Stundungen und Wechselscheine belegen. Firmenarchiv Leuzinger LA 896.
20 Protokoll Gemeinderat, 30.1.1912, Stadtarchiv IV B I. Ursprünglich wollte der Gemeinderat eine Gebühr von 100 Franken verlangen. Konzessionserteilung publiziert in Allgemeiner Anzeiger vom Zürichsee und Nachrichten vom Zürichsee vom 22.11.1912.
21 Erstes Inserat: Allgemeiner Anzeiger vom Zürichsee, Nr. 137, 22.11.1912.
22 Protokoll Gemeinderat, 3.12.1912, Stadtarchiv IV B I.
23 ln der Stadt Zürich erliess der Polizeivorstand am 15.4.1909 eine Verordnung, laut der Kindern nur noch in Begleitung Erwachsener der Zutritt gestattet sei. Sie wurde weder von den Kinobetreibern noch den Kindern und ihren Eltern befolgt. Am 20.8.1912 legte die kantonale Justiz- und Polizeidirektion ein generelles Zutrittsverbot für Jugendliche bis zum vollendeten 15. Altersjahr fest. Hipleh-Walt und Speck rekurrierten erfolglos, erst ein zweiter Rekurs wurde vom Obergericht geschützt, das befand, es gebe keine Gesetzesgrundlage für Schutzalterbestimmungen. Die späten Kriegsjahre 1917–1918 mit ihren Notverordnungen wurden von den Behörden vielerorts dazu benutzt, Kinos und andere Vergnügen drakonisch einzuschränken. An der Chilbi Wädenswil waren auch nach 1916 die Kinder nur von den Abendvorstellungen ausgeschlossen.
24 Letztes Inserat: Allgemeiner Anzeiger vom Zürichsee, Nr. 116, 31.7.1914.
25 Stoop, a.a.O., S. 17 f. - Verfügung der Polizeidirektion des Kantons Zürich vom 13.8.1917. Stadtarchiv 1.15.5.
26 Schreiben Geisser an Gemeinderat, 29.12.1918. Stadtarchiv 1.15.5.
27 Schreiben Gemeinderat an Geisser, 16.1.1919, Stadtarchiv 1.15.5.
28 Protokoll Gemeinderat, 25.11.1919, Stadtarchiv IV B I.
29 Schreiben Leuzinger an Gemeinderat, 4.2.1921 und 18.6.1921, Stadtarchiv 1.15.5.
30 Schreiben Gemeinderat an Leuzinger, 28.6.1921, Stadtarchiv 1.15.5.
31 Protokolle Gemeinderat, 23.9.1919, 13.1.1920, 3.1.1921, 23.2.1921, Stadtarchiv IV B I.
32 BGE 47 I 5. Zum Aufschwung der Landkinos im Kanton Zürich, die dem Urteil folgte: Susanne Sorg-Keller, Kino im Zürcher Oberland. In: Heimatspiegel, Beilage zum Zürcher Oberländer, Nr. 8/1985.
33 Protokoll Gemeinderat, 25.7.1921, Stadtarchiv IV B 1.
34 Schreiben Kirchenpflege an Polizeikommission, 28.4.1922, Stadtarchiv 1.15.5.
35 Allgemeiner Anzeiger vom Zürichsee, Nr. 48, 29.3.1922.
36 Zu den Schauspielerinnen und Schauspielern: Dumont, a.a.O., S. 102 ff.
37 Kirchweihabrechnungen, Stadtarchjv 1.6.3.
38 Schreiben Geisser an Gemeinderat, 8.8.1922, Stadtarchiv 1.15.5.
39 Schreiben Geisser an Polizeikommission, 16.2.1923, Stadtarchiv 1.15.5.
40 Schreiben Polizeikommission an Gemeinderat, 5.11.1926, Stadtarchiv 1.15.5.
41 Allgemeiner Anzeiger vom Zürichsee, Nr. 130, 25.8.1925.
42 Allgemeiner Anzeiger vom Zürichsee, Nr. 129, 20.8.1927, und Nr. 130, 23.8.1927, sowie Nachrichten vom Zürichsee, Nr. 128, 20.8.1927.
43 Nachrichten vom Zürichsee, Nr. 129, 23.8.1927.
44 Unklar ist, weshalb Leuzinger den Platz definitiv aufgab. Wurde es ihm vom Schweizerischen Lichtspielverband um des Branchenfriedens nahegelegt? War ihm die Streiterei einfach zuwider? Hatte der Betrieb wegen des Kino-Neubaus in Frauenfeld andere Prioritäten? Nur für 1928 gibt es ein Indiz: Das Cinema Leuzinger war von April bis Ende August 1928 mit einem und nicht wie sonst mit zwei Zelten auf Tournee, denn parallele Gastspiele sind erst wieder im September nachgewiesen. Während der Chilbi Wädenswil im August
1928 gastierte Leuzinger an der Kirchweih Glarus, die jeweils am gleichen Wochenende stattfand und vom Cinema Leuzinger von 1919 bis 1942 jährlich besucht wurde.
45 Schreiben Geisser an Gemeinderat, 20.5.1929, und Antwort Gemeinderat, 9.7.1929, Stadtarchiv 1.15.5.
46 Vgl. im Sinne einer Bestandesaufnahme: Paul E. Spahn, Die Filmtheater in der Schweiz. Diss. Immensee 1942; sowie Hans Willner, Vom Kino in Zürich: 50 Jahre Zürcher Lichtspieltheaterverband. Zürich 1974.