Elternkurs «Einführung in die Mengenlehre»

Quelle: Jahrbuch der Stadt Wädenswil 1978 von Ernst Wolfer

Als das neue Lehrmittel von Professor Hohl «Arithmetik und Algebra» an der Sekundarschule eingeführt wurde, waren manche Eltern überrascht, wenn nicht konsterniert, konnten sie doch schon die erste Aufgabe im neuen Buch nicht mehr lesen, geschweige denn verstehen. So wurde der Wunsch nach Erläuterungen für die Eltern laut. In der Folge unterbreitete der Konvent der Sekundarlehrer der Oberstufenschulpflege den Vorschlag, einen Elternkurs «Einführung in die Mengenlehre» durchzuführen.
Der erste Kurs wurde für das Frühjahr 1977 organisiert. Um die umfangreiche Arbeit auf verschiedene Schultern zu verteilen, beschlossen wir, dass je ein Lehrer einen der fünf Abende des zusammenhängenden Programms übernehmen soll. Vor der Ausschreibung im «Allgemeinen Anzeiger» sagten wir uns: «Wenn weniger als zwanzig Anmeldungen eingehen, führen wir den Kurs nicht durch.» Wir erkannten jedoch bald, dass nicht das Zuwenig, sondern ein Zuviel an Anmeldungen Probleme bringen werde. Schliesslich drängten sich über 110 Personen, darunter zahlreiche Ehepaare, am ersten Kursabend im Singsaal des Sekundarschulhauses. Mit Interesse lauschten die Hörer den Erläuterungen des Lehrers und machten sich mit Eifer an das Lösen der Aufgaben, Theorieheft und Kursunterlagen recht unbequem auf den Knien balancierend. Bei der breiten Streuung des Publikums − vom Hilfsarbeiter bis zum Akademiker − war es nicht zu vermeiden, dass das Unterrichtstempo dem einen etwas zu langsam, dem andern zu schnell vorkam − aber dies wurde verstanden und akzeptiert. Ebenfalls wurde klar, dass es nicht möglich ist, die Neue Mathematik in fünf Abenden voll zu erlernen. Aber darum ging es ja auch nicht. Vielmehr sollte ein Einblick vorab in das Kapitel «Mengenlehre» gegeben werden, damit die Vorurteile diesem Unbekannten gegenüber schwinden, und damit die Eltern imstande sind, die Aufgaben ihrer Sprösslinge zu verstehen.
Schon vor Jahren erhoben sich zahlreiche Einwände gegen die traditionelle Mathematik: Der Lehrstoff basiere auf der Antike, bestenfalls auf dem 19. Jahrhundert. Die neuen Erkenntnisse unseres Jahrhunderts würden kaum beachtet. Es würden Techniken erlernt, die ihre Bedeutung verloren haben oder sonst fragwürdig geworden sind. Endlose Zahlenkolonnen zu addieren, sei im Zeitalter des Taschenrechners kaum mehr sinnvoll. Der Schüler bleibe unselbständig, er könne nichts selber entdecken.
Hier will die Neue Mathematik (von der die Mengenlehre nur ein Teil ist) Abhilfe schaffen. Was ist der Nutzen der Neuen Mathematik? Versuchen wir es mit einem Vergleich: Der Nutzen des Fachs «Turnen» lässt sich wohl kaum in Franken und Rappen ausdrücken. Dennoch leuchtet es jedermann ein, dass ein trainierter und gesunder Körper bei den meisten Tätigkeiten von Vorteil ist. Ebenso verhält es sich mit der Mengenlehre: Das geistige Training, das sie vermittelt, ist in jedem Beruf von Vorteil.
Der Kanton hat verhältnismässig spät auf die Neue Mathematik umgestellt (zum Beispiel lange nach Bern), hat jedoch in einer bewundernswerten Aufholjagd wieder die Spitzengruppe erreicht. Heute verlassen nur noch Schüler die Sekundarschulen im Kanton, die nach dem neuen Lehrbuch ausgebildet sind. Es gibt daher keine Anschlussprobleme mehr an den Berufsschulen oder den Mittelschulen. Einzig jene Betriebe aus Gewerbe, Handel und Industrie, welche eigene Aufnahmeprüfungen für die Lehrlinge durchführen, sollten beachten, dass gewisse Kapitel der traditionellen Mathematik in der Schule nicht mehr behandelt werden.
Eine so rasche und zugleich gründliche Einführung eines neuen Lehrmittels hat es im Kanton wohl noch nie gegeben. Dabei haben es die Verfasser (ein Lehrerteam unter Leitung von Prof. Walter Hohl) vorzüglich verstanden, das Neue dosiert einzuführen. Nur etwa ein Fünftel des Stoffes ist Neue Mathematik, in den restlichen vier FünfteIn wird der konventionelle Stoff weiterhin behandelt, wenn auch zeitlich etwas gedrängter. Nur wenige unbedeutende Kapitel sind der Reform zum Opfer gefallen. So konnten die negativen Erscheinungen, über die man sich andernorts beklagt, vermieden werden.
Die Erfahrungen der ersten Jahre haben auch gezeigt, dass mit dem neuen Lehrmittel (mit der Mengenlehre am Anfang) weder die Selektion an der Sekundarschule noch die Aufnahme an der Mittelschule erschwert worden ist. Oder einfacher gesagt: Wegen der Mengenlehre strauchelt kein Schüler an der Sekundarschule!
Der grosse Erfolg der ersten Veranstaltung verpflichtete zur Weiterführung. Im Frühjahr 1978 wurde der Kurs grundsätzlich gleich gestaltet, so galt es, einige Mängel zu beheben: Dank der Ausdehnung auf sechs Abende musste der Stoff weniger gedrängt werden. Mit der parallelen Durchführung im Schulhaus Steinacher kam man der Bevölkerung der Au entgegen und schuf zugleich eine Ausweichmöglichkeit für jene, die an einem bestimmten Abend verhindert waren. Vorab aber galt es, in Wädenswil ein Kurslokal zu finden, wo jeder Teilnehmer einen Tisch zur Verfügung hafte, um Theorieheft, Kursmaterial und Schreibpapier richtig platzieren zu können. Dank dem Entgegenkommen von Herrn Prof. Dr. R. Fritzsche konnte der grosse Hörsaal in der Eidgenössischen Forschungsanstalt im Schloss benutzt werden. Obwohl sich die Einladung grundsätzlich an die Eltern der Erstklässler richtet, können nun auch Personen teilnehmen, die nicht zu diesem Kreis gehören.
In diesem Frühjahr besuchten über 130 Personen unsern Elternkurs. Solange diese eindeutige Nachfrage anhält, fühlen wir uns verpflichtet, den Kurs auch in den kommenden Jahren anzubieten.




Ernst Wolfer