Sorge tragen zu unseren Dächern

Quelle: Jahrbuch der Stadt Wädenswil 1979 von Peter H. Blattmann
Bedingt durch technischen Fortschritt, neue Konstruktionsmöglichkeiten und die grosse Auswahl neuentwickelter Baumaterialien lag in den vergangenen Jahrzehnten die Versuchung nahe, in der Formgebung und Gestaltung sämtlicher Baukörper neue Wege zu beschreiten.
Wir sind gewissermassen «erwacht» und haben uns − geleitet durch einen unerschütterlichen Fortschritts- und Zukunftsglauben − von jahrzehntealten Erkenntnissen und Erfahrungen im Bauwesen losgelöst und sind dazu übergegangen, rationell, wirtschaftlich, zweckmässig und renditebewusst zu planen und zu bauen.
Diese Entwicklungen gipfelten beispielsweise in Wädenswil in Überbauungen, wie Eichweid, Hangenmoos, Alterssiedlung «Bin Rääbe» und anderen mehr, besonders in der «bauboomgeplagten» Au.
Seit einiger Zeit aber zeichnet sich glücklicherweise ein Trend ab, der gewissermassen «einen Weg zurück» sucht. Mag sein, dass dieser Trend in der Tendenz modisch oder gar nostalgisch ist, aber er ist zweifellos als eine Reaktion zu verstehen, weil uns die futuristischen Visionen moderner Architektur weder menschlich bereichern konnten, noch qualitativ zu befriedigen vermochten. Die technische Faszination hat ihre Blüten getrieben, ohne dass der Mensch dieser Entwicklung in seinem Wesen, seinen Empfindungen oder gar in den Wohn- und Lebensgewohnheiten auch nur halbwegs gefolgt wäre.
 

Die Funktion des Daches

Primäre Aufgabe und Bedeutung des Daches ist ohne Zweifel jene eines umfassenden Schutzes.
Der Regen soll abfliessen, der Schnee wegrutschen oder mindestens vernünftig wegschmelzen, die Sonneneinstrahlung abgeschwächt werden können, oder anders ausgedrückt, Aufgabe des Daches ist es, die klimatischen Einflüsse in ihrer Gesamtheit nur im gewünschten Ausmass auf das Gebäudeinnere wirken zu lassen.
So begünstigt ein vorspringendes Dach im Sommer die erforderliche Beschattung von Fassaden und Fenstern, und im Winter ermöglicht es durch den veränderten Stand der Sonne eine bedingte Erwärmung durch direkte Einstrahlung.
Ausreichende Dachvorsprünge schützen Mauerwerk, Verputz und Fenster vor mannigfachsten Witterungseinflüssen und Staub. Bei Flachdachhäusern ist es keine Seltenheit, dass schon nach fünf Jahren neue Fassadenanstriche angebracht werden müssen und bei Fugen und Fenstern die ersten Schäden zum Vorschein kommen, wogegen ein ausreichend überdachtes Haus erst nach zwanzig oder mehr Jahren einer ausgedehnteren Kontrolle oder Renovation bedarf.
Beim Innern steht der Schutz der Wohnqualität im Vordergrund. Über Estrich und Dachstuhl wird ein «Atmen des Hauses» ermöglicht. Diese unbestrittene Notwendigkeit wird heute oft zu leichtfertig in den Wind geschlagen. Durch die Belüftung des Dachstockes und des Daches im speziellen wird ein Ausgleich an die äusseren klimatischen Bedingungen, wie Luftfeuchtigkeit oder Temperatur, sichergestellt. Das Dach hat somit eine wesentliche funktionelle Bedeutung.
Neuer Wohnblock Speerstrasse / obere Leihofstrasse.

Blick durch die Bachtelstrasse gegen Wohnblock Speerstrasse / Tobelrainstrasse.

Alterssiedlung «Bin Rääbe».

Rötiboden.

Büelen.

Renoviertes Altersheim Au an der Schellerstrasse.

Die ästhetische Wirkung eines Daches kommt ganz besonders bei grösseren Gebäuden, wie Schlössern, Patrizierhäusern, öffentlichen Bauten (Stadtverwaltung an der Florhofstrasse) oder alten, noch freistehenden Bauerngehöften, sehr schön und wirkungsvoll zum Ausdruck. Daneben muss doch ein «Haus ohne Dach» (Flachdach) wie ein «Mensch ohne Kopf» wirken.
Welch prächtiges Bild kann Ihnen ein Ausblick über einige schöne Ziegeldächer hinweg vermitteln. Achten Sie einmal auf die Wirkung eines mit alten, handgeformten Biberschwanzziegeln gedeckten Daches (Kirche, Pfarrhaus, Eidmattschulhaus, Haus Schönenbergstrasse 6). Selbst die neuen Nachahmungen dieser alten Ziegel, wie sie beim Eindecken des renovierten «Anke-Huuser»-Hauses an der Türgass verwendet wurden, vermögen Bild und Eindruck des althergebrachten Ziegeldaches erstaunlich gut wiederzugeben.
Schon beim Betrachten alter Fotos von Wädenswil fällt auf, wie harmonisch die weitere Umgebung der Kirche um 1880 und 1900 zu wirken vermochte. Manch altes «unpassendes» oder nicht mehr wirtschaftlich zu führendes Haus, welches wir heute wahrscheinlich unter Schutz stellen würden, wurde Presslufthammer und Bagger geopfert. Der Ersatz hat kaum irgendwo zu befriedigen vermocht. Wie «Zahnlücken» wirken die schlechtproportionierten Baukuben inmitten der wenige alten und schönen Dächer (ABM, Hischen, EKZ, MMM).
Wie enorm wichtig ein gutes Zusammenspiel aller Linien von Dachformen, Ziegelarten und Farben, kleinen Vordächern, Anbauten, Lukarnen von Dachaufbauten, Zinnen oder gar Türmchen ist, vermag das Bild vieler intakter Altstädtchen zu illustrieren. Dort nämlich wird uns erst recht klar vor Augen geführt, wie massgeblich die Dächer das Gesamtbild einer Stadt oder eines Dorfkerns mitprägen.
Reformierte Kirche, Turnhallen Eidmatt.

Neudorf.
 
Siedlungskern ob der reformieren Kirche.


Gerbe.

Bauernhaus Höhn, Rötiboden.

Blick vom Kirchturm auf das alte Eidmattschulhaus.
 
Das Dach muss und wird auch in Zukunft das wichtigste gestalterische Element in der Hand eines Architekten bleiben. Bei modernen Wohn- und Geschäftshäusern aber wird die Bedeutung des Daches immer wieder unterschätzt. Dabei gibt es doch zahlreiche Möglichkeiten, auch bei solchen Bauten das Dach gestalterisch in die umliegenden Dachformen zu integrieren oder im weitesten Sinne dem Dorfbild anzupassen. Dies im Interesse der Beschauer, aus Verantwortungsbewusstsein der Dorfgemeinschaft gegenüber und letztlich im Interesse der Hauseigentümer, denen durch Erhöhung der Wertbeständigkeit und Reduktion der langfristigen Unterhaltskosten einige Sorgen abgenommen werden könnten.
Unbestritten müssen Architekten Neues planen, gestalten und bauen können, weil unsere Zeit trotz der Forderung nach einem intakten Dorfbild nicht stehen bleibt. Wir müssen aber den Mut haben, die «Früchte modern Schaffens» in dazu ausgeschiedene Bauzonen zu verlegen (Mobag/Giessen), wo sie − ob schön oder missfällig − eine bestehende Einheitlichkeit nicht stören. In der Stadt Aarau, die in dieser Hinsicht gesamtschweizerisch wohl die fortschrittlichste Stadtplanung realisiert hat, wird die Trennung von alter und neuer Stadt sehr konsequent betrieben.
Selbst Sommer- und Winterkurorte, die dem Bauboom durch das Erstellen neuer Hotels und Blöcke mit Zweitwohnungen nicht entgehen konnten, haben beachtenswerte ortsplanerische Resultate sicherzustellen vermocht, fällt doch beispielsweise in Flims sehr angenehm auf, dass man weit und breit kein einziges Flachdach zu sehen bekommt.
Nicht ohne Grund besuchen heute Tausende von Touristen schmucke Städtchen, wie Rapperswil, Lichtensteig oder Stein am Rhein, und erfreuen sich dort der Ausstrahlung, Atmosphäre und Geschlossenheit, die eine solche Stadtanlage allein schon vom Baulichen her zu vermitteln vermag. Bestimmt sind auch Sie sich darüber im Klaren, welche zentrale Bedeutung gerade in diesen Fällen dem Aspekt «Dächer» beigemessen werden muss.
Lasst uns daher im Dorfkern jedes alte Dach erhalten! − Sollte dieser Wunsch nicht realisierbar sein, müssten wir im Zuge unserer ortsplanerischen Gesamtverantwortung die Mindestforderung erheben dürfen, dass Firsthöhe und Dachformen optimal auf die im weiteren Umkreis gelegenen Häuser und Dächer abgestimmt beziehungsweise angepasst werden sollen.
Letztlich nimmt die «Liebe zu einem Dach» vielleicht unbewusst ihren Ursprung auch dort, wo bei vielen unter uns «Dach und Estrich» ganz besondere Erinnerungen und Beziehungen wachrufen. Seit Generationen haben sich unter Dächern kostbare Raritäten angesammelt, ist das Dach ein Schutz für trocknende Wäsche, ist ein Estrich hier Spiel- und Tummelbühne für die Kinder, dort Vorrats- oder Grümpelkammer ... oder nennen Sie persönlich jene Assoziationen, die Sie mit Dach und Estrich in Beziehung bringen. Wie dem auch sei, dieser Platz war nie zu feucht, zu trocken, zu warm oder zu kalt, und dies ist letztlich eine weitere, unschätzbare Zweckerfüllung des Daches. Bleibt es doch Wunschtraum aller Sammler jeden Alters, einmal unter einem riesigen, alten Dach auf Entdeckungsreise gehen zu dürfen. Oder glauben Sie im Ernst daran, dass Ihnen Ihre Kinder dereinst von Fledermäusen oder leeren Wespennestern unter einem Flachdach erzählen werden?



Peter H. Blattmann