Mein Wädenswil

Quelle: Jahrbuch der Stadt Wädenswil 2008 von Jürgen Dunsch

Es ist ein Ort, wo die Strassen Leigass oder Buechenrain heissen, wo die Leute Namen wie Brändli oder Zollinger tragen, wo die Chilbi, der grösste Jahrmarkt der Region, das Ende des Sommers einläutet und im Winter der «Maroni Toni» aus dem Tessin seine Esskastanien feilbietet. Robert Walser hat in seinem bekanntesten Roman «Der Gehülfe» der Gemeinde zu literarischem Rang verholfen. Wädenswil ist unverkennbar schweizerisch und doch kein Ort wie jeder andere. Die Lage am Zürichsee lädt zum Wohnen ein, die Nähe zur Wirtschaftsmetropole des Landes tut das übrige, um die Stadt mit ihren 20 000 Einwohnern attraktiv erscheinen zu lassen. Das bleibt nicht ohne Folgen, sie sind vielmehr überall greifbar: Wädenswil steckt im Zwiespalt, ob es seinen ländlichen Charakter, so weit es geht, bewahren, oder sich entschlossen der nahen Grossstadt öffnen soll.
Blick vom Rötibodenholz auf Wädenswil, Oktober 2008.

Die Gemeinde trägt zwar die offizielle Bezeichnung «Stadt», aber die Einheimischen gehen immer noch ins «Dorf» und sagen nicht Wädenswil, sondern «Wädi» oder «Wädischwil». Wer innerorts durch die Türgass schlendert entlang der alten Fachwerkhäuser, die so eng beieinander stehen, als suchten sie gegenseitig Schutz, wähnt sich in einer Idylle. Aber dies würde Wädenswil nicht gerecht, denn die kleine Stadt blickt auf eine lange Industrietradition zurück. Am Rand des Ortes hat der amerikanische Konzern Cargill die frühere Stärkefirma Blattmann übernommen, und im Vorort Au die deutsche BASF schon vor Jahrzehnten ihre Zentrale für die Schweiz eingerichtet. Im Ortszentrum liegt der Rosenmatt-Park mit der ehemaligen Villa des Seidenindustriellen Gessner, wuchtigen alten Bäumen und einer herrlichen Azaleen-Blüte im Frühjahr. Die kleine Hausbrauerei «Wädi-Bräu» erinnert an die lange Brauereitradition in dem einstigen Fischerort.
Blick vom Furthof auf Wädenswil, Oktober 2008.

Unweit davon haben junge Leute im Hafen die MS Glärnisch zu einem kleinen Restaurant gemacht, wo man abends Pasta oder einen Drink genießen und im Abendlicht über den See hinweg dem fernen Säntis im Appenzell entgegenträumen kann. So geht man durch Wädenswil als Wanderer zwischen den Welten, und die Gegensätze erscheinen stärker als in den meisten deutschen Gemeinden, obwohl keiner der beiden Weltkriege im 20. Jahrhundert und kein «Wirtschaftswunder» den Ort durchgeschüttelt haben. Immer noch umgeben sind viele Häuser von kleinen Wiesen umgeben, auf denen regelmässig Schafe grasen. Drei Bäche durften ihre tiefen, baumgesäumten Schluchten bis nahe ans Zentrum behalten. Hinter den letzten Häusern strebt der Wanderweg «Himmelsleiter» auf den Höhenrücken, der zu einem Ausblick über den gesamten See verhilft. Doch am Himmel tauchen morgens und abends in kurzer Folge die lärmenden Jets im Anflug auf den Zürcher Flughafen auf. 200 Meter jenseits des romantischen Aussichtspunktes donnern die Autos und Lastwagen über die Autobahn nach Chur und zum San Bernardino. Die zweite Abschnürung findet sich unten am See. Dort läuft die Bahnlinie entlang und beschränkt die Badegelegenheiten auf einen schmalen Uferstreifen. Sie bietet andererseits den Vorteil, dass Wädenswil über einen Fernbahnhof mit Direktverbindungen bis nach Dortmund und Hamburg verfügt.
An der Wädenswiler Chilbi 2007.

Die Autobahn oberhalb des Ortes wirkt wie eine unsichtbare Grenze. Dahinter liegt keine 500 Meter Luftlinie entfernt eine Schule für die Kinder der umliegenden Bauernhöfe. Zwergschule würde man in Deutschland sagen. «Hier fühlt man sich wie zu Zeiten des Dichters Jeremias Gotthelf», findet der Lehrer im üppig blühenden Garten des Gebäudes, das Schule und Wohnhaus in einem darstellt. Unterhalb des Autobahnstrangs ist vieles anders. In einem der schönsten Fachwerkhäuser von Wädenswil hat sich eine Private-Equity-Gesellschaft eingerichtet. Unweit des Bahnhofs sollen auf einem ehemaligen Industrieareal Luxuswohnungen mit dem begehrten Seeanstoss entstehen, wahrscheinlich in jenem zur Zeit so gefragten nüchternen Stil, der für Grün wenig und für Schnörkel schon gar keinen Raum lässt.
Bis vor kurzem bildeten Luxusimmobilien einen Fremdkörper für Wädenswil. Denn die Gemeinde liegt an der sogenannten «Pfnüslküste» des Zürichsees, frei übersetzt die «Schnupfenküste». Wer es sich leisten kann, wohnt auf der anderen Seeseite, der «Goldküste», die nicht nur teurer ist und mit Abendsonne wirbt, sondern sehr viel mehr Prestige verspricht. Das ist wichtig für die Wohlhabenden, die es immer zahlreicher an den Zürichsee zieht. Abgesehen davon zählt Wädenswil nicht gerade zu den steuergünstigen Gemeinden in der Schweiz. Reiche mit dem entsprechend hohen Steuersatz siedeln sich dann lieber fünf Kilometer weiter in Wollerau im Kanton Schwyz an, wo sie vom «Millionärshügel» aus den See überblicken können.
Papiersammlung, jeden ersten Samstag im Monat.

Aber auch Wädenswil lockt immer mehr Besserverdienende an – darunter viele Deutsche. Der Kunde, den die «Coiffeuse» im Friseursalon zur selben Zeit wie mich bedient, kommt unüberhörbar aus Sachsen. Tischnachbar auf dem von der Gemeinde liebevoll gestalteten «Zuzüger-Treffen» ist ein junger Ingenieur mit Diplom aus Aachen, der bei einem mittelständischen Tüftler eine gutbezahlte Anfangsstelle gefunden hat. Einen grossen Schub an Attraktivität hat der Kommune die Internationale Schule gebracht, die hier vor einigen Jahren eröffnet worden ist. Seitdem zieht es nicht zuletzt Amerikaner in den Ort, die für einen der Europa-Ableger internationaler Konzerne im Grossraum Zürich arbeiten. Rund jeder fünfte Einwohner von Wädenswil ist Ausländer. Damit liegt die Stadt ungefähr im Schweizer Durchschnitt. Und es sind beileibe nicht mehr wie früher die Italiener, die unter den Fremden dominieren. In den Supermärkten Coop und Migros tummeln sich vielmehr Menschen aus aller Herren Länder. «Ich brauche drei Fähnchen», sagte die junge Frau in der Migros während der Fussball-Europameisterschaft. «Ich bin Deutsche, mein Mann ist gebürtiger Spanier und meine Kinder fühlen sich als Schweizer.»
Ein Multikulti-Ort ist Wädenswil deswegen noch lange nicht. Schweizerische Gründlichkeit dominiert, auch wenn die jugendlichen Kiffer auf der Hafenmole und die mancherorts ärgerliche Verschmutzung scheinbar dagegen sprechen. Für die monatliche Altpapiersammlung dürfen die Zeitungen nicht in Tüten gestopft, sondern müssen in Bündel geschnürt werden. Kartons werden gesondert entsorgt, für Autos ist gemäss der Verordnung über das «Nachtparkieren» ein Stellplatz nachzuweisen. Zum gelebten Klischee passt, dass Johanna Spyri, die Schöpferin der Romanfigur «Heidi», in Hirzel, einem der Nachbarorte, geboren wurde. Aber Wädenswil ist nicht nur schweizerisch, sondern eigentlich zürcherisch – im Dialekt, in der Tradition Zwinglis. Man ist politisch konservativ, aber wirtschaftlich liberal.
Dies ist kein Zufall. Die auf der alten Burg Wädenswil sitzenden Freiherren verkauften 1287 die Herrschaft an den Johanniterorden, der dort bis nach der Reformation eine Komturei unterhielt. Seit 1549 gehört die Stadt – mit Unterbrechungen – zum Kanton Zürich. Während der Industrialisierung entwickelte sich Wädenswil zur drittgrössten Gemeinde des Kantons. Aber die Industrie ist weitgehend verschwunden, von Zeugen jener Zeit wie der Metallwarenfabrik Blattmann, der Textilfabrik Pfenninger oder dem Mützenhersteller Fürst, dessen Marke in den gleichnamigen Rucksäcken fortlebt, stehen nur noch die Gebäude. Den Strukturwandel hat Wädenswil immer noch nicht völlig verkraftet, obwohl man sich mit einigem Erfolg als Bildungsstandort zu profilieren versucht und als jüngsten Zuwachs eine Einrichtung für das Hotel- und Gaststättengewerbe vermelden kann.
So verströmt der Ort eine Art handfester Bürgerlichkeit, wie sie vielfach in der Schweiz vorherrscht. Am Wochenende ist die nahegelegene, in den Zürichsee hineinragende und von einem Landgasthof gekrönte Halbinsel Au ein beliebtes Ausflugsziel. Dort offenbaren Weinberge plötzlich die liebliche Seite von Wädenswil.
Die Rebstöcke erinnern daran, dass ein gewisser Hermann Müller-Thurgau, aus dem hessischen Rheingau kommend, in der ortsansässigen Eidgenössischen Forschungsanstalt für Obst-, Wein- und Gartenbau Ende des 19. Jahrhunderts die gleichnamige Weinsorte züchtete. Mit dem Landgut Au, erbaut 1651 von dem General Hans Rudolf Werdmüller, lernen die Ausflügler eine weitere Facette ihrer Kommune kennen. Werdmüller war ein Haudegen, der sich um Konventionen wenig scherte. Obwohl verheiratet, brachte er aus Venedig nicht nur einen orientalisch üppigen Haushalt und zwei türkische Sklaven, sondern auch noch eine junge Türkin an seinen neuen Wohnsitz: ein Skandal, den Conrad Ferdinand Meyer in seiner Novelle «Der Schuss von der Kanzel» verwertete. Wädenswil, schweizerisch bieder mit bunten Einsprengseln? Wer nach einem Rundgang auf der Halbinsel am Seeufer sitzt, kommt ins Sinnieren darüber, ob dies für ihn nicht die richtige Mischung ist.
General Hans Rudolf Werdmüller (16141677)



Jürgen Dunsch

 

Dr. Jürgen Dunsch wohnt in Wädenswil. Er arbeitet für die «Frankfurter Allgemeine Zeitung» als Korrespondent für die Schweiz. Obigen Beitrag veröffentlichte er in Nr. 210 vom 8. September 2008 unter dem Haupttitel «An der Schnupfenküste». © Alle Rechte vorbehalten, Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt. Zur Verfügung gestellt von der Frankfurter Allgemeine Zeitung Archiv.