PFLANZEN ZWISCHEN NATURWISSENSCHAFT UND MAGIE

Quelle: Jahrbuch der Stadt Wädenswil 2011 von Regula Treichler

DIE GÄRTEN UND PFLANZENSAMMLUNGEN DER ZHAW IM GRÜENTAL

Für eine der dichtest besiedelten Regionen der Schweiz sind die Gärten und Pflanzensammlungen des Instituts Umwelt und Natürliche Ressourcen IUNR ein wichtiges Naherholungsgebiet. Besucher sollen sich auf dem hoch über dem Zürichsee liegenden Campus willkommen fühlen und sich hier informieren können oder inspirieren lassen. Der besondere Wert der Gärten besteht darin, dass auf anschauliche und unmittelbare Art Zusammenhänge vermittelt und begreifbar gemacht werden können. Die Gärten sind unser Übungsfeld, wo der Umgang mit Pflanzen geübt und Beziehungen und Verknüpfungen der Natur konkret beobachtet werden. Sie helfen also mehr zu verstehen − das macht sie so wertvoll.
Teilbereich Arzneipflanzenbeet innerhalb des Hexengartens.

Der schonende Umgang und die nachhaltige Nutzung natürlicher Ressourcen, der Respekt und die ganzheitliche Verantwortung gegenüber Mensch und Umwelt bestimmen Lehre und Forschung am Institut. Im Zuge der weltweiten Diskussionen um die Bedrohung der Artenvielfalt haben Gärten und Pflanzensammlungen als Archive der Biodiversität hohe Bedeutung. Wer die Gärten besucht, soll für die Anliegen seiner Umwelt begeistert und zu einem verantwortungsvollen Umgang bewegt werden.

VERMITTLUNG VON NATURWISSEN IM FOKUS

Für die Kommunikation in den Gärten wurde das Konzept «exterior − neugierig auf Natur» mit seinen fünf Welten geschaffen: Sich erholen, kultivieren, staunen, lernen, forschen. Fünf Einladungen, die Aktivitäten und Projekte des Instituts Umwelt und Natürliche Ressourcen kennenzulernen, welche ausgewählte Arbeits- und Themenfelder unserer Zentren und Fachstellen widerspiegeln und Einblicke in unsere neusten Ideen gewähren.
Als Bildungsort ist dem IUNR eine innovative Lernkultur mit aktuellsten Lehrformen und Techniken ein Muss. Schliesslich nutzen rund 450 Studierende der Fachrichtung Umweltnaturwissenschaften unsere Gärten und Pflanzensammlungen. In den Gärten wird einerseits auf ganz klassische Weise mit Informationssäulen, Merkblättern, Schildern oder Pflanzenetiketten informiert. Andererseits werden für die Vermittlung digitale Kommunikationsmittel wie Blog oder BeeTagg und der Informationsabruf per Mobilephone ausprobiert.

EIN GARTEN FÜR PFLANZEN MIT AUSSERGEWÖHNLICHEN EIGENSCHAFTEN

Welche Merkmale muss eine Pflanze aufweisen, um in den Ruf zauberischer Eigenschaften zu kommen? Vom Ungewöhnlichen bis zum Geheimnisvollen ist es meist nur ein kleiner Schritt − deshalb haben Pflanzen, die aus der Reihe tanzen unsere Einbildungskraft und Fantasie schon immer beflügelt. Schon in grauer Vorzeit waren die Menschen überzeugt, dass Pflanzen verborgene Kräfte besitzen. So dienten sie nicht nur als Nahrungs- und Heilmittel, sondern auch als Vermittler zwischen dem Irdischen und dem Göttlichen. In fast allen Gegenden der Erde verwendete man Pflanzen für kultische oder rituelle Zwecke, und jede Kultur hatte ihre eigenen magischen Gewächse − Pflanzen, welche zu unterschiedlichen Zeiten in Religion, Kulturgeschichte oder Heilkunde eine Rolle spielten und die bereits vor Tausenden von Jahren verwendet und die rund um die Erde für verschiedenste Zwecke angebaut oder gesammelt wurden.
Die Faszination über die Mythologie, den Volksglauben und das überlieferte Wissen um solche Pflanzen waren der Grund, wieso wir den «Hexengarten» im Jahre 2006 inmitten des Campus Grüental angelegt haben. In neun thematischen Abteilen wird seither eine kleine Auswahl von ungefähr 200 verschiedenen Pflanzenarten als Sammlung kultiviert. Da viele giftige Pflanzen darin stehen, wird der Garten durch einen Flechtzaun aus Weiden abgegrenzt.
Teil der Pflanzensammlung mit geflochtenem Weidenzaun im Hintergrund.

Es mag vordergründig gewagt erscheinen, wenn eine Hochschule, die den Grundsätzen der Naturwissenschaft verpflichtet ist, Themen wie Hexenpflanzen aufgreift. Es signalisiert aber die Erkenntnis, dass Pflanzen mehr sind als lediglich eine Ansammlung von Molekülen, mehr als nur Nahrungsmittel oder Gestaltungselemente. Dass sich Mensch und Pflanze näher sind als wir auf den ersten Blick ahnen, zeigt uns gerade dieser Garten mit seinen thematischen Schwerpunkten auf, die in den folgenden Abschnitten kurz erläutert werden.

SCHUTZ UND ZAUBER ABWEHRENDE PFLANZEN

Pflanzen, die gegen das Verhexen oder Verzauberung dienten, wurden auch als Beschrei- oder Berufkräuter bezeichnet. Der Ausdruck kommt von «berufen» und meint von bösen Hexen oder Geistern verhext worden zu sein. Eine Krankheit galt häufig als angetan, also von bösen Geistern, Hexen, Teufeln oder Übel wollenden oder von Zauberei besessenen Menschen angezaubert. In früheren Zeiten, als die Menschen noch keine Erklärungen für ungewöhnliche Phänomene fanden, lag es nahe, hinter allem Bösen das Wirken des Teufels oder der Hexerei zu vermuten. Die Angst vor bösen Dämonen und Hexerei sass besonders bei der mittelalterlichen Bevölkerung tief. In einer Zeit, wo das Wissen um Zusammenhänge fehlte und die meisten Menschen weder lesen noch schreiben konnten, konnten Missernte, Unwetter und plötzliche Todesfälle oft nur so erklärt werden. Aus dieser Ohnmacht gegenüber bösen Kräften wuchs der Abwehrzauber. Dieser sollte nicht nur vor finsteren Mächten, sondern auch vor Naturkatastrophen oder Viehseuchen schützen. Eine besondere Rolle zur Abwehr schädlicher Einflüsse und Dämonen kam den Pflanzen zu. Vielfach wurden bestimmte Kräuter als Kranz gewunden, an Türen genagelt oder als Kräuterbündel im Haus aufgehängt. Der volkstümliche Brauch der Kräuterweihe hat sich bis heute vor allem in katholischen ländlichen Regionen erhalten. Dabei werden an Maria Himmelfahrt (15. August) bestimmte Kräuter zu einem dicken Strauss gebunden und in der Kirche geweiht. Diese geweihten Kräuter dienten zum Schutz von Heim und Stall, sorgten aber auch für Eheglück, Kindersegen und vieles mehr.
Stimmungsvolles Herbstbild mit Audiosäule.

Bösen Zauber fernhalten sollten auch Bettstrohkräuter wie beispielsweise Quendel, Frauenmantel, Johanniskraut, Labkraut und andere. Mit duftenden, antiseptischen Kräutern wurde der Gebärenden ein Lager zubereitet, welches Mutter und Kind vor Krankheit und Dämonen schützte und zur körperlichen und seelischen Entspannung diente.

ARZNEIPFLANZEN – ALLTAGSWISSEN VERGANGENER ZEITEN

Schon die Urmenschen haben Jahrtausende vor unserer Zeitrechnung die heilenden Kräfte der Pflanzen erkannt und für ihre Gesundheit genutzt. Die alten Hochkulturen der Chinesen, Inder, Ägypter, Griechen und Römer haben den Grundstein zur Pflanzenheilkunde gelegt. Ihre Erfahrungen kamen den Menschen späterer Jahrhunderte zugute, und im Laufe der fortschreitenden Entwicklung wurden immer mehr pflanzliche Arzneien durch Beobachtung, Eingebung oder Erfahrung entdeckt.
Im frühen Mittelalter erlitt der medizinische Fortschritt durch die christliche Auffassung, Krankheit sei eine Bestrafung für Sünden, einen schweren Rückschlag. Nur in den Klöstern wurde durch das Abschreiben antiker Texte das Wissen über die Heilkräuter bewahrt.
Die Pflanzenheilkunde oder Phytotherapie gehört zu den ältesten medizinischen Therapien und ist auf allen Kontinenten und in allen Kulturen verbreitet. Sie basiert auf traditioneller Medizin und in ihr spielen Erfahrungswerte und überliefertes Wissen eine wichtige Rolle. Viele Wirkungen von Heilpflanzen waren lange Zeit nicht wissenschaftlich belegt, sondern das Wissen wurde einfach von Generation zu Generation weitergegeben. Heilpflanzen hatten im Volk immer eine wichtige Stellung und fanden im Alltag in gesunden und kranken Tagen Verwendung.
Unzählige Pflanzen liefern bis heute wertvolle Wirkstoffe, welche zur Herstellung von zahlreichen Medikamenten verwendet werden. Die Phytomedizin erfreut sich heute, im Zeitalter der High-Tech-Medizin, zunehmender Beliebtheit, und immer mehr Menschen verlangen nach sanften Alternativen aus der Natur.

APHRODISIAKA – FÜR LIEBE, LUST UND LEIDENSCHAFT

Als Aphrodisiaka werden seit der Antike all jene Mittel bezeichnet, welche die Liebeslust steigern. Dazu zählen vor allem Kräuter und Gewürze, psychoaktive Pflanzen und alkoholische Getränke, aber auch einige tierische Produkte und bestimmte Mineralien.
Aphrodisiaka, benannt nach Aphrodite, der griechischen Göttin der Liebe und Schönheit, haben eine lange Tradition. In allen Ländern und Kulturen versuchten die Menschen ihre Lust, ihr Verlangen und ihre Liebeskraft mit Hilfe von geeigneten Zutaten zu steigern. Mythologie und Aberglaube spielten dabei eine ebenso grosse Rolle wie überliefertes Wissen um bestimmte Pflanzen, von denen man heute weiss, dass ihre Inhaltsstoffe durchblutungsfördernde oder anregende Wirkung haben.
Grundsätzlich kann zwischen Aphrodisiaka mit medizinischer Wirkung und solchen mit fragwürdiger oder eingebildeter Wirkung unterschieden werden. Die erste Gruppe sind Pflanzen mit physiologischer, also körperlicher Wirkung und solche mit psychologischer Wirkung, die einen Einfluss auf die Seele und auf das Bewusstsein haben. Die Wirksamkeit dieser Pflanzen beruht auf bestimmten Inhaltsstoffen, deren Effektivität sich wissenschaftlich nachweisen lässt. Zu ihnen gehören beispielsweise der Schlafmohn oder das Bilsenkraut. Die zweite Gruppe sind suggestiv wirkende Präparate, deren Wirkung vergleichbar mit der von Plazebo ist. Diese haben keinen wissenschaftlich nachweisbaren Einfluss auf das Lustempfinden oder die Potenz. So galt beispielsweise das heimische gefleckte Knabenkraut lange Zeit als Aphrodisiakum, da seine knollenförmigen Wurzeln an die männlichen Hoden erinnern. Auch der Granatapfel, dessen erotisierende Wirkung auf die Vielzahl der Samen in den Früchten zurückgeführt wurde, wird wegen seines Aussehens als Aphrodisiakum genutzt, obwohl er keine nachweislich lustfördernden Inhaltstoffe besitzt.
Als Gegenspieler gab es aber auch Anaphrodisiaka, also Mittel, welche den Geschlechtstrieb schwächten oder dämpften. Diese wurden gegen die «verwerfliche Fleischeslust» eingesetzt und waren besonders bei Ordensleuten zum Einhalten ihres Keuschheitsgelübdes beliebt. Mönchspfeffer, lateinisch Vitex agnus-castus, wurde beispielsweise im Mittelalter zur Abschwächung des Geschlechtstriebs angewendet.

GIFTPFLANZEN – SOKRATES COCTAIL AUS GEFLECKTEM SCHIERLING

Erfahrung hat den Menschen im Laufe der Zeit gelehrt, giftige von ungiftigen Pflanzen zu unterscheiden, stärkende für seine Ernährung zu nutzen und todbringende für Jagd und Krieg einzusetzen. Pflanzen lassen sich jedoch nicht einfach in giftige und nützliche unterteilen. Der noch heute gültige pharmazeutische Grundsatz von Paracelsus lautet: «Alle Dinge sind Gift und nichts ohne Gift, allein die Menge macht das Gift.»
Die Angst vor Giftpflanzen ist aber uralt. Da viele Giftkräuter Krämpfe, Verwirrtheit oder Sinnestäuschung hervorrufen können, glaubte man lange Zeit, dass Hexen andere Menschen mit Pflanzen verrückt gemacht hätten. Das berühmteste Beispiel einer Vergiftung mit Pflanzen ist dem griechischen Philosophen Sokrates widerfahren. Er musste wegen seiner unbeugsamen Haltung gegenüber den griechischen Göttern und wegen seines angeblich verderblichen Einflusses auf die Jugend den Schierlingsbecher trinken, dessen Inhalt aus dem Saft des gefleckten Schierlings bestand. Das im Schierling enthaltene Gift Coniin bewirkt eine von den Füssen aufsteigende Lähmung des Rückenmarks, welche zum Tod durch Atemlähmung führt. Der Vergiftete erstickt bei vollem Bewusstsein.
Damit ein Pflanzengift seine Wirkung entfalten kann, muss es entweder die Funktion des Nervensystems oder die Stoffwechselprozesse des Körpers beeinflussen. Einige Pflanzengifte zerstören auch die roten Blutkörperchen, hemmen die Zellbildung oder reizen die Hautoberfläche und die Schleimhäute. Manche Pflanzengifte wirken ganz speziell auf einzelne Organe und können deren Funktion kurzfristig beeinträchtigen oder dauerhaft schädigen.
Detailaufnahme aus Beet mit Reizgift-Pflanzen.

REIZGIFTE – VORSICHT, NICHT BERÜHREN

Viele Pflanzenarten, vor allem aus der Familie der Doldenblütler, bilden photosensibilisierende, das heisst lichtempfindliche Substanzen, sogenannte Furanocumarine aus. Diese rufen bei Hautkontakt insbesondere in Kombination mit Sonnenlicht phototoxische Reaktionen hervor. Bereits blosse Berührungen und Tageslicht können bei Menschen zu schmerzhaften und schwer heilenden Verbrennungen führen. Die Hautreizungen bzw. Blasen können wochenlang anhaltende nässende Wunden verursachen und zu irreparablen Hautschädigungen führen. Auch Fieber, Schweissausbrüche und Kreislaufschocks können die Folge des Umgangs mit solchen Pflanzen sein. Furanocumarine können in allen Pflanzenteilen, also auch im Wurzelsystem, vorkommen. Der Riesenbärenklau ist beispielsweise eine solche Pflanze mit einem erheblichen gesundheitlichen Risiko. Sie hat sich zudem als invasiver Neophyt einen schlechten Ruf eingehandelt, indem sie über einen aussergewöhnlichen Ausbreitungsdrang verfügt und schnell grosse Flächen besiedelt. Bei Sonnenschein ist der Kontakt mit solchen Pflanzen deshalb zu vermeiden.

ORAKELPFLANZEN – ER LIEBT MICH; ER LIEBT MICH NICHT, ER LIEBT MICH…

Das Rupfblumenorakel, welches schon Gretchen in Goethes Faust zur Befragung der Zukunft anwendete, ist sozusagen alltagstaugliche Magie für den Sofortgebrauch. Ein Orakel ist im Grunde nichts anderes als die Befragung höherer Mächte zu konkreten Anliegen, welche die Zukunft betreffen. Man kann die Zukunft zum Beispiel aus Knochen lesen, aus dem Kaffeesatz, aus dem Flug der Vögel, aus Karten oder häufig auch mit Hilfe von Blumen und Pflanzen. Orakelpflanzen sollen helfen, Zukünftiges oder Verborgenes zu erfahren um, wenn nötig, aktiv korrigierend eingreifen zu können. Das vierblättrige Kleeblatt ist beispielsweise in Sachen Liebe und Glück die Orakelpflanze schlechthin. Durch eine Laune der Natur bringt die normalerweise dreiblättrige Kleepflanze ab und zu ein vierteiliges Blatt hervor. Ein solches Blatt zu finden, ist im wahrsten Sinn des Wortes reine Glückssache.
Aber auch das Wettergeschehen wollte man gerne beeinflussen oder zumindest voraussehen. So wurde zum Beispiel das Zwiebelorakel für das Wetter des kommenden Jahres angewendet. Dies ging so: In der Nacht zu Neujahr zerschnitt man eine Zwiebel in zwölf Schalen, schrieb die Namen der Monate auf den Tisch, legte zu jedem Monatsnamen eine Zwiebelschale und streute Salz darauf. Je nachdem, wie viel Wasser bis zum nächsten Morgen aus der Zwiebelschale floss, so viel Regen sollte es im betreffenden Monat des kommenden Jahres geben.

WETTERPFLANZEN KÜNDEN REGEN AN

Über Generationen beobachteten die Menschen Rhythmen der Natur und versuchten daraus Regelmässigkeiten herauszufinden. Das Wettergeschehen war vor allem für die Bauern überlebenswichtig, daher entstanden wohl auch die Bauernregeln, die sich häufig mit pflanzlichen Wetter- und Wachstumsphänomenen befassten.
Da die Pflanzen in direktem Einklang mit der Natur stehen, können sie Veränderungen wie beispielsweise Luftdruckschwankungen, Temperaturänderungen und Witterungseinflüsse wahrnehmen und darauf reagieren. Pflanzen mit einem empfindlichen Organismus sprechen auf einen Wetterumschwung deutlicher an und können unter Einfluss des Wetters die Stellung gewisser Pflanzenteile wie Blätter, Zweige oder Grannen ändern. Bewegungen wie zum Beispiel das Zusammenfalten der Blätter dienen häufig dem Selbstschutz der Pflanze und bewahren sie vor grösseren Unwetterschäden.

LEGENDÄRE PFLANZEN

In diesem Abteil stehen Pflanzen, um die sich besonders wilde Geschichten aus alten Zeiten ranken, wie beispielsweise der Riesenfenchel, lateinisch Ferula communis. Im Altertum wurde er einerseits als Spazierstock genutzt und andererseits dienten die in Wasser eingeweichten Stängel auch zur Züchtigung von Sklaven. Einer Sage nach soll Prometheus einen trockenen, hohlen Stängel eines Riesenfenchels verwendet haben, um das Feuer vom Olymp zu rauben und als göttliche Gabe zu den Menschen zu bringen. Er nahm den langen Stängel des markigen Riesenfenchels, näherte sich mit ihm dem vorüberfahrenden Sonnenwagen und setzte so den Stängel in glostenden Brand. Mit diesem Feuerzunder kam er hernieder auf die Erde, und bald loderte der erste Holzstoss gen Himmel. Für diese Tat büsste Prometheus hart: Zeus liess ihn an einen Felsen anschmieden, wo ihm ein Adler täglich bei lebendigem Leib die Leber herauspickte, die des Nachts wieder nachwuchs.

ZAUBERMITTEL MIT RISIKO – ÜBER HEXEN- ODER FLUGSALBEN

Bis auf den heutigen Tag ist die berühmte Flug- oder Hexensalbe eines der umstrittensten und geheimnisvollsten Zaubermittel des Mittelalters. Mit Hilfe der Flugsalbe soll es möglich gewesen sein, sich an entfernt gelegene Örtlichkeiten zu begeben, den Körper zu verlassen oder sich in Tiere zu verwandeln. Ob diese Erlebnisse in der Wirklichkeit oder in einem veränderten Bewusstseinszustand stattfanden, ist nicht abschliessend bekannt. Hexensalben haben, wie kaum ein anderes pharmazeutisches Präparat, Weltruhm erlangt, ohne dass ihre genaue Zusammensetzung je bekannt wurde. Bei allen Rezepturen aus dem 15. bis 17. Jahrhundert fehlten präzise Angaben über die Dosierung und das richtige Verhältnis der verschiedenen Zutaten, deshalb bargen sie wohl auch so viel Gefahr. Die äusserliche Anwendung der Hexensalbe erfolgte vor allem durch Einreiben von Stirn, Schläfen, Armbeugen, Hand- und Fussflächen. Flugsalben bewirken nicht das schwerelos Werden des Körpers, sondern täuschen infolge der Vergiftungserscheinungen einen flugähnlichen Zustand vor, der von wilden Träumen begleitet wird. Möglicherweise glaubten die damaligen Nutzer nach dem Wiedererwachen, tatsächlich körperlich geflogen zu sein. Viele psychoaktive und halluzinogene Nachtschattengewächse wie beispielsweise Tollkirsche, Tabak, Bilsenkraut oder bittersüsser Nachtschatten sind Bestandteile der Flug- oder Hexensalben.

Ob der alte Besen wohl zum fliegen taugt?

EINE ENTSPRECHENDE AUDIOSÄULE IM HEXENGARTEN

Als neuste Art der Vermittlung können Geschichten zu ausgewählten Pflanzen im Garten angehört werden. Geschichten, die sich im 16. Jahrhundert tatsächlich an diesem Ort zugetragen haben könnten. Um überleben zu können, mussten die Menschen damals die Eigenarten von Blüten, Blättern, Früchten und Wurzeln sehr genau kennen, denn was um sie herum wuchs, war für sie unmittelbare Lebensgrundlage. Aber das Besondere, das an den im Garten stehenden Pflanzen einmalig ist, sieht man ihnen ja beim Betrachten nicht einfach an. Mit der Audiosäule haben wir versucht, ausgewählte Pflanzen in einen kulturhistorischen Kontext zu stellen und so ihre traditionelle Anwendung und Wirkung vorzustellen.
An der solarbetriebenen Audiosäule können Geschichten gehört werden.

Stellvertretend für die Abteile im Garten haben wir Geschichten erfunden, in denen je eine Pflanze eine besondere Rolle spielt. In den Geschichten begleitet die fiktive Bäuerin Lina und erzählt aus ihrem Alltag als erfahrene Kräuterfrau. Lina ist eine ältere, warmherzige, vertrauensvolle und bodenständige Bauersfrau, welche im 16. Jahrhundert hier an diesem Ort gelebt hat. Ihr Ehemann ist früh gestorben, was sie zwang, ihre drei Kinder alleine aufzuziehen und sich selbständig durchs Leben zu schlagen. Lina hat für die damalige Zeit viel Lebenserfahrung, glaubt an die Kräfte der Natur, hadert aber mit Gott, da ihr Mann früh verstarb. Als erfahrene Kräuterfrau wurde sie im Dorf bei allen möglichen Gelegenheiten um Hilfe angefragt. Sie hat Lesen und Schreiben vom grösseren Bruder, der Landschreiber in Wädenswil ist, gelernt und ist durch ihn mit den Vorkommnissen im Dorf immer gut vertraut. Lina begleitet durch acht Geschichten, welche durch einen wissenschaftlichen Teil, der Aussehen und Wirkungsweise der vorkommenden Heilpflanze umschreibt, vervollständigt werden.
Die im Garten stehende Audiosäule generiert den nötigen Strom fürs Abspielen mit Solarzellen. Die einzelnen Geschichten werden über eine Tastatur ausgelöst und über einen Lautsprecher wiedergegeben. Sollte die Sonne einmal nicht scheinen, so kann mit einer Handkurbel die nötige Energie für die Tonwiedergabe produziert werden.
 

AUSSICHTEN UND WEITERENTWICKLUNGEN

Die Audiosäule im Hexengarten markiert einen neuen Fokus in unserer Arbeitsweise und Ausgestaltung der Gärten, welchen wir in Zukunft in der Umsetzung neuer Themen anwenden möchten. Wir fassen ihn unter dem Begriff «Narrative Environments», also erzählende Umgebungen, zusammen. Narrative Environments sind gestaltete Umgebungen, welche dem Menschen ein vertieftes Naturverständnis und eine neue Sichtweise auf die Natur im Kontext von Kultur ermöglichen. Es sind kommunikative Umgebungen, in denen Erleben und Lernen auf erzählerische, spielerische oder kontemplative, also betrachtende Weise kombiniert werden. Orte, wo mit Kopf, Herz und Hand an ein Thema herangegangen wird und die Nutzer selber etwas ausprobieren oder einen anderen Zugang zu einem Thema erfahren können.
Der Schlafmohn, Papaver somniferum, lockt Bienen und andere Insekten an.

Eine der kulturhistorischen interessanten Pflanzen - blühende Alraune, Mandragora officinarum.

Beeren der einheimischen Tollkirsche, Atropa belladonna.

Narrative Environments können Erlebnisse schaffen, welche unter entsprechenden Rahmenbedingungen zu Erkenntnissen und Erfahrungen werden. Erfahrungen wiederum tragen dazu bei, dass sich bei den Menschen durch einen entsprechenden Lernprozess ein umweltverträgliches Verhalten herausbildet, was zu einer nachhaltigen Entwicklung beiträgt. Am IUNR werden künftig Umgebungen gestaltet, welche dem Menschen ein vertieftes Natur- und Kulturverständnis ermöglichen. Dies geschieht, indem bei den Besuchenden Denkanstösse initiiert und Neugierde geweckt werden.




Regula Treichler,
Wissenschaftliche Mitarbeiterin im Kuratorium Naturwissen,
Institut Umwelt und Natürliche Ressourcen IUNR,
Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften ZHAW, Wädenswil


Literatur:

Aphrodisiaka aus der Natur; A. Alberts, P. Mullen, Kosmos Verlag 2003
Enzyklopädie der psychoaktiven Pflanzen; Christian Rätsch, AT Verlag 1998
Liebeskraut und Zauberpflanzen; Stefan Haag, Kosmos 2010
Wikipedia, die freie Enzyklopädie
Zauberpflanzen, Hexenkräuter; Gertrude Scherf, BLV 2002
Zauberpflanzen, Pflanzenzauber; Beate Funke, Heyne Verlag 2007
Sagen des klassischen Altertums, Gustav Schwab, Exlibris