Erinnerungen an das alte Wädenswil

Quelle: Jahrbuch der Stadt Wädenswil 1984 von Jakob Baumann

Das Leben vor 75 Jahren war aus der heutigen Sicht recht primitiv. Die Wohnungen in den Arbeiterhäusern waren klein und ohne Wohnungsabschluss, und Badezimmer kannte man nicht. Die hölzerne Toilette, damals «Abtritt», lag in der Regel im Treppenhaus, hatte einen Holzdeckel und keine Wasserspülung. Bei warmem Wetter musste man bei betreten die Nase zudrücken, keine Veilchendüfte!
Unsere Strassen, auch die See- und Zugerstrasse, waren richtige Schotterstrassen, im Sommer mit Staub dick belegt, der bei jedem Windstoss aufgewirbelt wurde und auch durch die offenen Fenster in die Wohnungen drang. Für uns Buben war es immer ein besonderer Genuss, wenn der mit Pferden gezogene Spritzenwagen durch die Staubbedeckten Strassen fuhr; da konnten wir in dem gelben Brei unser Allotria treiben. Es war herrlich, wenn der nasse Staubdreck zwischen den Zehen hervorquoll. Es war selbstverständlich, dass wir «Buebe» und «Maitli» vom Frühling bis Herbst barfuss liefen. Welche Erleichterung für die Mutter, keine Socken flicken, weniger Wolle verbrauchen und für uns keine Schuhe putzen zu müssen. Wenn die gewaltige, schwere Dampfwalze erschien, hatten wir Buben ein Fest. Wie war es so schön, wenn sie mit schwarzer Rauchfahne polternd und dröhnend hin und her fuhr. Die Mütter schlossen sofort die Fenster, damit die Möbel und Vorhänge nicht voll Russ wurden. Wenn dann die Dampfungeheuer endlich abzogen, freuten wir uns auf die neue «Salonstrasse».
Waschküchen waren selten. Vom Frühling bis zum Herbst wuschen unsere Mütter die «farbige Wäsche» am See, auf dem Seeplatz, da waren die grossen Seifenklötze noch das einzige Material. Uns Buben war der Transport mit dem Leiterwägeli aufgetragen. Wenn ein Eisenbahnzug einfuhr, war es eine Freude für uns, auf der Verbindungspasserelle ob dem Schienennetz des Bahnhofes im Rauch und Dampf des abfahrenden Eisenbahnzuges zu stehen. Je dichter der Rauch und Dampf, desto lustiger war es. Von Luftverschmutzung wussten wir noch nichts.

Der noch locker überbaute Wädenswiler Dorfkern. Ausschnitt aus der Gemeindekarte von 1900.

Wenn ich an die heutige geregelte Kehrichtabfuhr und an die frühere denke, welch ein krasser Unterschied! Die Leute des Armenhauses fuhren mit einem von zwei Kühen oder Ochsen gezogenen Brückenwagen mit aufgestellten Seitenbrettern durch unsere Strassen. Die offenen Blechkübel oder Holzkisten, gefüllt mit dem Hausgüsel, vor allem mit Asche aus den Öfen und Küchenherden, mussten von den armen, nicht kräftigen Burschen auf den Wagen gehoben werden. Sie können sich ausdenken, wie sie bei Wind und Regen aussahen, voll von Russ und Asche, fast nicht mehr erkennbar. Die Güselleute waren für die Gläser mit dem damaligen sauren Most dankbar, der ihnen von Einwohnern angeboten wurde. Leider war dies hie und da doch zuviel, so dass die Männer vom Armenvater nach Hause gebracht werden mussten. Das Armenhaus stand damals mitten im Dorf, auf dem heutigen Sparkassen- und alten Postplatzareal.

Fischende Knaben auf der Mauer der Engelhaabe, 1927.

Papier und Karton war nicht im Güsel. Dies brauchte man zum Heizen, auch gab es nicht viel im Verhältnis zu heute. Die Frage: «Wohin mit dem Güsel?» gab damals keine Probleme, wir wohnten ja am See. Der östliche Teil des Seeplatzes, der damals viel breiter war – ein Teil wurde beim Bau des zweiten Geleises schmäler - , war der Schuttablagerungsplatz. Er wurde in vielen Jahren zirka 80 bis 100 m länger.
Die kleinen Läden von anno dazumal, die für das Leben nur das Notwendigste führten, sind mir immer noch gut in Erinnerung. Keine hellen Ladenräume, eng, mit tannenen Holzböden, keine Sicherheits- und Diebstahlanlagen, der gute, alte oft rauchende Holz- und Kohle-Zylinderofen, an dem man die kalten Finger wärmen konnte, verbreitete Wärme. Die grossen Jutesäcke mit Mais, Mehl, Zucker, Bohnen standen auf dem Boden, offen natürlich, damit der Kunde die benötigte Waren mit einer grossen Blechschaufel selbst in die grauen Papiersäcke einfüllen konnte. Das Petrolfass,  notwendig für Beleuchtung und Kochen, stand ebenfalls im Raum. Ja, hier kamen verschiedene Gerüche durcheinander, niemand reklamierte, man wusste ja keine andere Spezereiladen-Art. Käufer und Verkäufer kannten sich persönlich. Neuigkeiten wurden hier ausgetauscht, es war ein Zusammenleben, eine eigentliche Verbundenheit. Da die Leute wenig Zeit hatten, wurde nicht nur 100-gramm-weise eingekauft. Der Laden war an sechs Tagen von morgens sieben Uhr bis neun oder zehn Uhr abends geöffnet; Ladenvorschriften kannte man nicht. Die damalige Konkurrenz war auch vorhanden und sorgte dafür, dass man sich voll in den Dienst des Kunden stellte.

Mit der Dampfwalze wird 1932 bei der Engelhaabe das Trasse für das zweite Geleise vorbereitet.


Wenn ich die damaligen Metzgereien mit den schönen, hygienischen Geschäften von heute vergleiche, auch die Auswahl betrachte, ist der Wandel ganz gewaltig.
Gemüse, Obst, Eier, oft auch Fleisch, wurden von den Bauern ins Haus gebracht. Es war für uns Kinder stets ein Fest, wenn das alte Zigermandli mit den grünen Schabzigerstöckli aus dem Glarnerland aufkreuzte. Auch das Sandmandli darf ich nicht vergessen, das in seinem Wägeli die 30 Zentimeter hohen, grauen Sandsäcke brachte. Junge Leute werden und fragen: Wozu? Die Hauseingänge, Parterreräume waren noch mit Sandstein-Platten belegt und wurden mit Fegsand gereinigt.

Restaurant und Café Central um 1920.

Wenn ich so an meinem Pult sitze, die alten Zeiten überdenke, aufschreibe, immer mehr zum Vorschein kommt, muss ich wehmütig an die Jugendzeit denken. Sie war primitiv aus heutiger Sicht, doch schön, man lebte miteinander, alle kannten einander. Die Abende im Luftstrassenquartier durften wir mit über zwanzig Nachbarskinder beim Spiel verbringen, doch erst, nachdem wir die Schulaufgaben gemacht, gepostet und im Haushalt geholfen hatten. Wir hatten eine Fülle von Spielen, alle ohne teure Geräte: Ballspiele, Egge-Guggis, Stecklispiel, Räuberlis. Die Seestrasse und die Luftstrasse gehörten uns Kindern, es war ja kein Verkehr. Selten kam ein Pferdefuhrwerk, Autos fuhren sowieso nicht. Dass es auch laut zuging, störte die Eltern und Nachbarn nicht, eher machten sie auch mit. Erklang die Betglocke der nahen Kirche, mussten wir husch ins Haus, nachher durfte sich kein Kind auf der Strasse zeigen.
Die Winterzeit war trotz Kälte ein Eldorado für uns «Buebe» und «Maitli». Vor der Haustüre konnten wir Sport treiben, Damals – um 1910 – hatten wir überall weisse Strassen und Wege, die verkehrsbedingten schwarzen Asphaltstrassen kannten wir nicht.
Im Luftstrassenquartier, dem Quartier vom Plätzli bis zum Wasserfels, von der Seestrasse bis zu den Reben der Forschunganstalt, gab es eine prächtige Schlittelbahn. Ausgangspunkt war die Leigasse. Der erst Seitenweg vom Spital aus führte in das furchterregende «Gygehälsli», das wie der obere Teil einer Sprungschanze aussah. Die Schlossbergstrasse war noch nicht gebaut, Es ging in einer rasanten und tollen Fahrt über die Etzelstrasse, die uns wie ein Sprunghügel weit hinunter katapultierte, dem Buck entgegen, auf dem letzten Steilhang die Buckstrasse hinunter und zwischen «Gambrinus» und «Harmonie» über die Seestrasse bis zum Güterschuppen. Damit die Superschnellen nicht den Kopf an der Güterschuppenrampe einschlugen, wurde hier Sand gestreut.
Ihr werdet mich fragen: War es dann nicht gefährlich, über die Hauptstrasse zu fahren? Ich darf ruhig «nein» sagen. Damals gab es keine Autos, Motorräder, im Schnee auch keine Velofahrer. Die Pferdefuhrwerke, die man ja von weitem sah, waren selten, dazu waren wir Jungen die Verkehrspolizisten, wir wussten uns schon zu schützen.
Es lag doch auch ein Hauch Spannung, Wettbewerbsfieber in uns. Mit der Taschenuhr des Vaters – Uhren kannten die Buben noch nicht, es gab ja nicht einmal Armbanduhren – wurden die Rennzeiten gestoppt. Mit Fähnlisignal wurde die Abfahrt kundgetan. Die Zeiten wurden auch mit dem Bleistift im Schülerkalender notiert. Wenn ich zurückdenke, waren wir ja die Gründer der heutigen Skirennen mit Sekundenbruchteilen!
Die Superfrechen, «Waghalsige» sagte man früher, fuhren auf den alten Kesselschlitten und den damals modernen Davoserschlitten bäuchlings hinunter. Die erzielten Rekordergebnisse kamen damals nicht in unserer Zeitung, dafür waren auf dem Schulhausplatz diese Rennen und Ergebnisse unser Tagesgespräch. Und statt der heutigen Siegerprämien gab es Äpfel und Schoggi. Für uns nicht verwöhnte Kinder war ein solcher Schlittelnachmittag wichtiger und interessanter als die heutigen Fernsehübertragungen.




Jakob Baumann