Mehr Raum für den Verkehr

Quelle: Jahrbuch der Stadt Wädenswil 2013 von Adrian Scherrer

WIE SICH AM BAHNHOFPLATZ DIE URBANISIERUNG WÄDENSWILS SPIEGELT

Nirgends lassen sich in Wädenswil die Etappen der baulichen Entwicklung so direkt ablesen, wie am Bahnhofplatz und seiner Umgebung. Einst war das Bahnhofquartier eine dicht bebaute Gegend mit schmalen Gassen. Im Lauf des 20. Jahrhunderts verlangte der Verkehr nach immer mehr Raum. In mehreren Schritten fielen zahlreiche Häuser den breiteren Strassen und grösseren Plätzen zum Opfer. Mit dem Abschluss des Bahnhofumbaus und der Sanierung der Unterführung kam diese Entwicklung im Jahr 2013 zu einem vorläufigen Abschluss.
Lediglich die Zukunft des Hauses zum Zyt ist noch offen. Das Wohn- und Gewerbehaus an der Seestrasse 107 stammt im Kern aus dem 18. Jahrhundert, wurde aber mehrfach aus- und umgebaut.
Haus Zyt mit Velohandlung Adolf Meier, um 1910.

Der nordwestliche Anbau entstand 1876, die eingeschossige Zinne gegen Südosten 1905. Seinen Namen hat das Haus von den Uhrmachergeschäften Otto Vollrath und später Tischhauser, die es seit den 1920er-Jahren beherbergte. Seit mittlerweile zwei Jahrzehnten wird über seine Zukunft diskutiert. Eines der frühesten Projekte für einen Ersatzbau stammte von Stararchitekt Justus Dahinden. Die Baubewilligung für ein monumentales Glasgebäude auf Säulen wurde 1991 erteilt, doch zog sich der Investor angesichts der beginnenden Rezession Mitte der 1990er-Jahre zurück.1 Die Folge war eine lange Debatte über die Zukunft des Hauses, die bis heute andauert. Politische Diskussionen über das Machbare und das Wünschbare rund um den Bahnhof sind freilich nichts Neues. Seit die Eisenbahnlinie 1875 eröffnet wurde, ist die Gestaltung des Bahnhofs und seiner Umgebung ein Dauerbrenner auf der politischen Agenda.

Das Bahnhofquartier um 1920.

25 JAHRE DEBATTE UM DEN BAHNHOFNEUBAU

Der erste Bahnhof Wädenswils stand unmittelbar neben dem Güterschuppen, unweit vom historischen Verkehrsknotenpunkt am Plätzli und direkt vor dem heutigen «Du Lac». Abgebrochen wurde er 1934, nachdem ein Vierteljahrhundert lang über verschiedene Erweiterungen und Umbauten debattiert worden war.2 Das erste Projekt hatten die SBB schon im August 1906 vorgelegt. Es sah noch keine Verlegung des Bahnhofgebäudes vor, sondern dessen Erweiterung. Platz gewinnen wollte man, indem zwischen Seeplatz und Rothus Land aufgeschüttet und der Güterschuppen ins Rothus verlegt werden sollte. Das Projekt hatte von Anfang an einen schweren Stand, weil es sehr unterschiedliche Interessen tangierte: Der Gemeinderat – damals präsidiert von Brauerei-Besitzer Fritz Weber – verlangte einen Ersatz für den Brauerei-Hafen, der Regierungsrat tat sich mit der Verbreiterung der Seestrasse als Zufahrt zum geplanten Güterbahnhof schwer und die Südostbahn war von der Verlegung des Güterschuppens nicht angetan.3
Bahnhof Wädenswil in den 1880er Jahren.

Im Lauf der Diskussionen wurden Stimmen aus der Bevölkerung und verschiedenen Parteien laut, die eine bergseitige Verlegung der gesamten Bahnlinie verlangten. So liess der Gemeinderat zwei Gegenprojekte ausarbeiten: Die Studie Hilgard und die Studie Lüchinger, beide nach den jeweiligen Experten benannt. Das Projekt Hilgard ging davon aus, dass der Güterschuppen am Standort bleibt, den er bis heute behalten hat. Um Aufschüttungen zu vermeiden und trotzdem Platz zu gewinnen, schlug es eine Verlegung des Bahnhofgebäudes auf den heutigen Parkplatz Weinrebe vor. Diese Studie hatte auf alle späteren Planungen Einfluss. Sie war die erste, die eine Verlegung des Bahnhofgebäudes anregte.
Die Studie Lüchinger verfolgte hingegen einen radikaleren Ansatz. Sie schlug vor, die gesamte Bahnlinie vom Gwad bis zur Richterswiler Gemeindegrenze bergseits zu verlegen – teilweise in Tunneln. Der Bahnhof war auf dem heutigen Schwanenplatz vorgesehen. Auf diese Weise hätte Wädenswil den direkten Seeanstoss zurückgewonnen. Die SBB-Generaldirektion lehnte beide Projekte ab, weil sie weit mehr als das Doppelte ihres eigenen Projekts gekostet hätten. Darauf sammelten Vertreter der Freisinnigen Partei nicht weniger als 757 Unterschriften für eine Motion, die vom Gemeinderat verlangte, an der bergseitigen Verlegung der Bahnlinie festzuhalten. «Mit zunehmendem Verkehr [wird] der Zugang vom Dorf zum See immer mehr abgeschnitten», lautete eine der Begründungen.4 Am 9. April 1912 wurde die Motion eingereicht. Die Folge: Unmittelbar vor dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs waren die Verhandlungen festgefahren.

RUTSCHUNGEN ALS STETE BEDROHUNGEN

Nach dem Krieg brachte der Gemeinderat die Verhandlungen wieder in Gang, indem er Ende 1919 eine weitere Studie vorlegte. Sie ging im Wesentlichen vom ursprünglichen SBB-Projekt aus, schlug aber umfangreichere Aufschüttungen vor, um neue Hafen- und Quaianlagen zu errichten. Um eine Lösung zu finden, stiegen die SBB darauf ein. Denn die Erweiterung des Bahnhofs Wädenswil war inzwischen dringend geworden, da der Ausbau auf Doppelspur und die Elektrifizierung der linksufrigen Bahnlinie anstanden. Wäre die Bahnhoferweiterung blockiert geblieben, hätte dies den gesamten Ausbau der Bahnstrecke behindern können. Doch die Lage blieb vertrackt: Probebohrungen im Seegrund und Versuchsschüttungen hatten 1921 gezeigt, dass die Gefahr von Abrutschungen nicht auszuschliessen war.5

Der instabile Baugrund war stets ein wichtiges Argument in allen Diskussionen rund um das Bahnhof-Areal. Bauen in Ufernähe gehört bis heute zu den grossen Herausforderungen der Ingenieure. Gegnern von Projekten liefert dies willkommene Argumente: Bauten sind teuer und die Gefahr von Rutschungen ist durchaus real. In Horgen rutschten 1875 Teile des Bahnhofareals in den See, was die Eröffnung der linksufrigen Bahnstrecke um ein halbes Jahr verzögerte.6 Zu den dramatischsten Beispielen gehört Zug: Dort rutschte 1887 die gesamte Vorstadt mit über 30 Häusern in den Zugersee, nachdem eine Seepromenade aufgeschüttet worden war. 11 Tote waren zu beklagen, 650 Menschen verloren Hab und Gut.7

Im September 1975 rutschte das Gebiet des Bahnhofs in den Zürichsee ab.

Häuser am Bahnweg, 1933.

Abbruch des Hauses «Schiffli, 1931.

Das geologische Gutachten zum Bahnhof Wädenswil von 1921 bedeutete einen Neustart der Planungen. Die SBB konzentrierten sich nun auf den Ausbau der Bahnstrecke auf Doppelspur und planten die Gleise mit dem bestehenden Bahnhof. Vorgärten und teilweise sogar Anbauten an Häusern wurden dem zweiten Gleis geopfert, damit möglichst nicht in den See hinaus gebaut werden musste. Noch heute ist dies am Bahnweg sichtbar, wo die Gebäude sehr nah an den Gleisen stehen. 1925 wurde die elektrifizierte Doppelspur schliesslich eröffnet.
Erst nachdem der Gemeinderat bei den SBB wiederholt die Bahnhoferweiterung verlangt hatte, legten diese 1929 ein neues Projekt vor. Nach mehreren Verhandlungsrunden, die rund neun Monate dauerten, konnte man sich schliesslich einigen. Das Projekt für den heutigen Bahnhof war geboren und wurde am 23. Februar 1930 von den Wädenswiler Stimmberechtigten an der Urne genehmigt. Bis 1932 wurden 16 Häuser abgerissen, darunter das legendäre Restaurant Schiffli. Der neue Bahnhof samt Mittelperron und Unterführung, der Bahnhofplatz und der Kronen-Block wurden im Herbst 1932 eingeweiht.8 Danach folgte der Abriss des alten Bahnhofs vor dem «Du Lac».
Das Bahnhofgebäude ist einer der ganz wenigen Bahnhöfe in der Schweiz im Stil des Neuen Bauens.
Abbruch des alten Bahnhofs, 1934.
Der neue Bahnhof im Einweihungsjahr 1932.

Es besticht durch klare, einfache Formen und grosse Fenster, die teilweise in Bändern angeordnet sind. Dass sich die Funktionen des Gebäudeinneren am Äusseren ablesen lassen, gehört zu den charakteristischen Zügen des Neuen Bauens. Am Bahnhofgebäude ist dies auf der Seite des Bahnhofplatzes besonders gut am senkrechten Fensterband des Treppenhauses sichtbar. Die neuen Anbauten von Meletta Strebel Architekten lassen diese Eigenschaften der Fassade, die heute unter Denkmalschutz steht, wieder deutlicher als vor dem Umbau zur Geltung kommen.

ZWEI DOMINANTEN AM BAHNHOFPLATZ

Ebenso modern wie der Bahnhof war der zeitgleich gebaute Kronen-Block (Seestrasse 112), in dem sich von Anfang an die Konditorei Brändli mit Café im ersten Obergeschoss einmietete. Der Stil des Neuen Bauens ist besonders gut an den einfachen Linien der Balkone erkennbar. Im Gegensatz zum Bahnhof wurde das Gebäude von einheimischen Architekten geplant: Heinrich Bräm und Albert Kölla. «Die gerade Linie als Dominante verleiht der grossen, gegen den Bahnhofplatz gerichteten Fassade einen ruhigen, in gewissem Sinne etwas strengen Charakter, der aber durch eine geschickte Dimensionierung und Gliederung der Fensteröffnungen und der Balkone auf den Beschauer angenehm wirkt», erläuterte die Lokalpresse zur Eröffnung.9

Der Tonfall macht deutlich, dass die Zeitgenossen den für damalige Verhältnisse hochmodernen und urbanen Bahnhofplatz als grossen Wurf betrachteten. Als der Bahnhof und der Kronen-Block 1932 eingeweiht wurden, war bereits die Wirtschaftskrise ausgebrochen, die weltweit als Folge des Börsen-Crashs von New York im Jahre 1929 zu spüren war. Die Planungen stammten aber noch aus der Aufbruchstimmung der späten 1920er-Jahre. Offensichtlich war man damals bereit, für Neubauten historisch bedeutsame Gebäude zu opfern. Denn seinen Namen erhielt der Kronen-Block vom traditionsreichen Gasthof Krone, in dem 1790 die Lesegesellschaft gegründet worden war.10 Während der Gasthof für den Neubau abgebrochen wurde, blieb der Saalbau dahinter noch bis 2005 stehen. Er wurde erst 2005 zusammen mit der Central-Garage abgerissen.

Die zweite Dominante am Bahnhofplatz war und ist das Haus Merkur (Seestrasse 104), das in den Jahren 1903 bis 1906 erbaut wurde. Auch dieses Gebäude stammt aus einer Phase des Aufschwungs. Hier befand sich in den Ladenlokalen an der Seestrasse Wädenswils erstes Warenhaus. Hinter der üppigen Fassade mit zeittypischen, neoklassizistischen Elementen, verbarg sich modernste Technik: Wädenswils erster Lift. Das Innere des Hauses Merkur bestimmt ein raffiniert angelegter Lichthof.

Bis 2007 war der Bahnhofplatz ein geschlossener Raum, gegen die Seestrasse hin abgeriegelt durch das Haus Fortuna und die Konditorei Ammann. Das Haus Fortuna, besser als Dosenbach-Haus bekannt, wurde im Frühjahr 2007 abgebrochen.11 Die Konditorei Ammann, die zwischen Fortuna und Krone stand, musste schon 1960 dem Bau der Unterführung weichen. Die Gestaltung des Platzes entwickelte sich seit den späten 1970er Jahren zum umstrittenen Dauerthema.12 Der Ausbau des Ortsbusses im Hinblick auf die Einführung der S-Bahn machte im Jahr 1989 eine Umgestaltung notwendig. Die Parkplätze, die bis dahin in der Mitte des Platzes lagen und im Kreisverkehr umfahren werden konnten, wurden aufgehoben und an den Rand vor das Dosenbach-Haus verlegt. An ihrer Stelle entstanden drei Busperrons. Dass es nach dieser Umgestaltung nochmals über 20 Jahre dauern würde, bis die Bushaltestelle überdacht werden sollte, ahnte 1989 wohl niemand. Doch die Debatten über die Nutzung des Bahnhofplatzes zogen sich in die Länge.

«Platz frei für den Platz», forderten zum Beispiel programmatisch Raumplanerinnen und Raumplaner der Hochschule Rapperswil in der Lokalpresse.13 Sie hatten den Bahnhofplatz unter architekturkritischen Aspekten untersucht und schlugen Ende der 1990er-Jahre vor, ihn vom Verkehr zu befreien. Der Stadtrat verfolgte jedoch andere Ziele: Seine Haltung, den Bushof auf dem Bahnhofplatz zu belassen, setzte sich schliesslich durch. Im November 2006 genehmigten die Stimmberechtigten die futuristische Überdachung des Bahnhofplatzes. Bis sie eingeweiht werden konnte, dauerte es wegen mehrerer Rekurse nochmals fünf Jahre.14 «Erdauerter Komfort», kommentierte die «Neue Zürcher Zeitung» bissig.15


Häuser Bäckerei Ammann, Fortuna und Merkur.

Der Kronenblock im Einweihungsjahr 1933.

Im 1933 eröffneten Café Brändli.

Alte Krone, abgebrochen 1932, mit Saalanbau.

Haus Merkur von 1903/1906.

Seestrasse, Blick Richtung Zentral. Links Haus Zyt, rechts Häuser Bäckerei Ammann, Johannisburg und alte Krone. Aufnahme von 1930.

Bahnhofplatz Wädenswil, Ansicht von 1936. Im Hintergrund links der Kronenblock von 1933, rechts der Bahnhof von 1932. Ansichten vom Haus Merkur aus.

Der Bahnhofplatz Wädenswil im Jahre 1957.

TEURE UNTERFÜHRUNG

Zwei Argumente tauchten in den Diskussionen um die Nutzung des Bahnhofplatzes seit den späten 1970er-Jahren immer wieder auf, beide verknüpft mit der Unterführung. Wenn argumentiert wurde, der Bahnhofplatz könnte vom Verkehr befreit werden, lautete das Gegenargument, dass die Fussgänger ihn ohnehin direkt unterquerten und er nur von jenen benutzt würde, die mit dem Bus oder dem Auto zum Bahnhof fahren würden. Und wenn als Ersatz für die Parkplätze eine Tiefgarage vorgeschlagen wurde, waren stets die hohen Kosten des Bauens im seenahen Untergrund ein Argument. Die Verlängerung der Unterführung vom Bahnhof in die Gerbestrasse wurde 1960 bis 1962 gebaut. Bis heute ist sie das einzige am Bahnhofplatz realisierte Tiefbauprojekt und kostete 65 Prozent mehr als die ursprünglich budgetierten 460'000 Franken.16 Bis dahin gab es lediglich eine Unterführung vom Bahnhofgebäude auf den Mittelperron und den Seeplatz. Das Bedürfnis, die Seestrasse vom Bahnhof aus direkt zu unterqueren, war eine Folge des zunehmenden Verkehrs in den 1950er-Jahren. Fast 89 Prozent Ja-Stimmen erhielt das Vorhaben an der Urnenabstimmung im Mai 1959.

Bau der Unterführung von der Gerbestrasse zum Bahnhof, 1961.

«Wädenswil schafft Verkehrssicherheit», jubelte die Lokalpresse zur Einweihung im Juni 1962, während das Ingenieurbüro Soutter & Schalcher, das den Bau geplant hatte, in der gleichen Ausgabe vom «besonders schwierigen Baugrund», «dem starken Wasserandrang von der Seeseite her» und der «heiklen Bauaufgabe» berichtete.17 Weil der Untergrund aus dem Bachschutt des eingedohlten Gerbebachs – des Unterlaufs des Töbelibachs – und darunter aus setzungsempfindlicher Seekreide besteht, wurde eine raffinierte bauliche Lösung gewählt: Die Unterführung «schwimmt». Die Ingenieure berechneten sie so, dass sich Gewicht und Auftrieb die Waage halten.

Die neue Unterführung zum Bahnhofsplatz 1962.

EIN NEUER PLATZ IN ETAPPEN

An der Einmündung der Gerbestrasse in die Seestrasse entstand eine platzartige Erweiterung, weil für den Bau der Unterführung drei Gebäude abgebrochen wurden. Neben der Konditorei Ammann zwischen Krone und Dosenbach-Haus fielen das Haus Scharfeck und ein markantes, fensterloses Trafohäuschen. Das Haus Scharfeck – erbaut 1845 – befand sich unmittelbar neben dem Haus zum Zyt. Bis dahin war die Friedbergstrasse hinter dem Haus Scharfeck aus der Gerbestrasse abgezweigt. Nun begann ein Platz zu entstehen, der bis heute namenlos ist und nur inoffiziell Gerbeplatz heisst. Seine heutige Form erhielt er 1975. Damals wurde das Haus Seidenhof abgebrochen, das unmittelbar vor dem heutigen Gebäude der Credit Suisse lag.
Die Bank bezog den Neubau Anfang 1975. Architekt war der Wädenswiler Josef Riklin. Die Gestaltung des Vorplatzes war Thema eines Ideenwettbewerbs, den Landschaftsarchitekt Gerold Fischer gewann. Sein ursprüngliches Gestaltungskonzept mit Buckeln, Sandsteinquadern und einem Aquarium verschwand 2007, als der Vorplatz seine heutige Form erhielt.18 Die in den ersten Plänen vorgesehene vollständige Einbettung des Bankgebäudes in eine Erweiterung des Rosenmattparks mit durchgehenden Wegen bis zur Friedbergstrasse wurde nur ansatzweise realisiert.
Für den Neubau der Bank wurde 1971 das Hermann-Haus, ein Wohnhaus am Gessnerweg, abgebrochen. Der eigentliche Vorgängerbau an der Stelle des Vorplatzes war indes der Seidenhof, dessen vordere Front auf der gleichen Höhe wie das Haus Friedberg lag und mit diesem zusammen eine Strassenflucht bildete. Der Seidenhof wurde 1857 in einem Teil des Gartens des Hauses Friedberg erstellt. Er war ursprünglich ein Fabrikgebäude für die Herstellung von Textilbändern. 1873 übernahm Samuel Zinggeler das Gebäude und nutzte es für die Seidenfabrikation – daher stammt auch sein Name. 1891 verkaufte Zinggeler es an die Bank Wädenswil, nachdem er eine grössere Fabrik in Richterswil erstellt hatte. Die Bank Wädenswil ging 1968 in der Schweizerischen Kreditanstalt, der heutigen Credit Suisse, auf. Als der unmittelbar hinter dem Seidenhof erstellte Neubau bezogen war, wurde der Altbau im Frühjahr 1975 abgebrochen.19 Damit hatte der Gerbeplatz seine heutige Form.
Kurz zuvor war in der Nachbarschaft bereits ein anderes markantes Gebäude abgerissen worden: Das Goldschmied Hess-Haus an der Ecke Zugerstrasse/Seestrasse. Es befand sich unmittelbar vor den heutigen Bauten direkt an der Seestrasse, trug ursprünglich die Nummer Zugerstrasse 1 und musste 1971 der Vergrösserung der Central-Kreuzung weichen. Erbaut wurde es 1841 und gehörte ab 1870 Heinrich Hess. Hier befand sich 1892 bis 1896 die erste Telegraf- und Telefonstation Wädenswils, die danach in den Neubau der Post an der Seestrasse 105 umzog.20 Um 1900 wurde die Fassade mit Malereien versehen, von denen einzelne Elemente bis zum Abbruch vorhanden blieben. Das Haus war auch als «Gourmandia» bekannt, weil sich hier das gleichnamige Delikatessengeschäft befand.
Häuser Scharfeck und Seidhof (Bank Wädenswil). Aufnahme von 1954.
Am heutigen Gessnerweg. Haus Hermann (abgebrochen 1971), Vorgängerbau der Villa Rosenmatt, Schulhaus Eidmatt. Aufnahme vor 1898.

Goldschmied-Hess-Haus 1963, abgebrochen 1971.

Postgebäude von 1896 mit Fassadenmalereien.
Übersichtsplan: Bauten im Bereich Bahnhof bis Gerbe. Zeichnung Adrian Scherrer

Die heutige alte – und damals neue – Post wurde 1896 als Wohn- und Geschäftshaus erbaut. Sie war noch vor dem Haus Merkur das erste Gebäude mit urbanem Flair in Bahnhofnähe. Bauherr war Malermeister Jean Streuli, der die Fassade mit üppigen Jugendstilmalereien gestaltete, die heute übermalt sind. Die Post befand sich bis 1982 in diesem Gebäude (heute Swisscom-Shop).

DIE GERBESTRASSE UND DIE FAMILIE HAUSER

Das gesamte Gerbe-Areal ist eng mit der Geschichte der Familie Hauser verknüpft, jener Familie, aus der später Bundesrat Walter Hauser entstammte. Ihr Stammsitz befindet sich im Haus Talgarten (Gerbestrasse 2). Es ist das älteste noch bestehende Haus am Platz. Zum ersten Mal wird es 1694 als Neubau erwähnt. Es war ursprünglich ein Riegelbau, dessen vordere Front entlang des heutigen Abgangs in die Unterführung auf den Gerbebach ausgerichtet war. Er floss bis 1905 offen bis zur Seestrasse. Bei näherer Betrachtung erkennt man an den Dachtraufen des Hauses noch einige barocke Elemente. Sie sind die letzten Überreste des ursprünglichen Riegelbaus, die die Umbauten im 19. Jahrhundert überstanden.21 Im Haus Talgarten gründete Hans Hauser im 17. Jahrhundert eine Gerberei, die der Gerbestrasse später den Namen gab. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts war sie ein blühendes Unternehmen, eines der grössten im Kanton Zürich. In dieser Zeit entstanden das Haus Friedberg und das Haus zur Gerbe.
Das klassizistische Haus Friedberg (Friedbergstrasse 7) erbaute Gerber Johannes Hauser 1810/11 als Wohnhaus. Mit seinem typischen, streng symmetrischen Grundriss, dem auffälligen Eingang mit Säulenvorbau und dem charakteristischen Fries ist es ein frühes Beispiel einer Fabrikantenvilla eines wohlhabenden Unternehmers.22 Das Haus wurde 1976/77 restauriert. Im Innern verfügen einzelne Räume über Stuckdecken im Empire-Stil. Auch die angrenzenden Häuser Friedbergstrasse 3 und 5 stammen aus dieser Zeit.
Das Haus zur Gerbe (Gerbestrasse 6) wurde kurz danach als Firmensitz der Gerberei Hauser erbaut. Der Bau von 1813/14 war für damalige Verhältnisse nicht nur überdurchschnittlich gross, sondern für einen Gewerbebau auch luxuriös ausgestattet – zu sehen zum Beispiel am aufwändig gestalteten Türsturz. Das Haus mit typisch klassizistischem Mansarddach wurde 1911 von der Druckerei Stutz übernommen, damals Verlegerin der «Nachrichten vom Zürichsee». Als die Druckerei 1994 auszog, entstanden im Erdgeschoss weitere Ladengeschäfte.23



Haus Talgarten mit Riegelkonstruktion (Gemälde).
Haus Friedberg von 1810/11.
Haus Gerbe von 1813/14.
 
Walter Hauser (1837–1902) übernahm die Gerberei 1856. Wie viele andere Unternehmer engagierte er sich auch in der Dorfpolitik. Als er 1879 in den Ständerat und 1881 in den Regierungsrat gewählt wurde, begann er die Gerberei schrittweise zu liquidieren. Denn der Standort hatte sich durch den Bahnbau von 1875 verändert. Noch Anfang des 19. Jahrhunderts lag das Gerbe-Areal am Dorfrand. Nun war es ein zentrales Gebiet in Bahnhofnähe geworden. An einem solchen Ort war ein Betrieb, der starke Geruchsimmissionen erzeugte, nicht mehr sinnvoll. Das Unternehmen war bereits aufgelöst, als Hauser 1888 in den Bundesrat gewählt wurde. Bis zu seinem Tod im Jahr 1902 blieb er im Amt. Ihm zu Ehren wurde in der kleinen Grünanlage im oberen Bereich der Gerbestrasse ein Denkmal aufgestellt mit einer Büste, die sich heute im Rosenmattpark befindet.24
Denkmal für Bundesrat Walter Hauser in der Anlage zwischen Gerbe- und Zugerstrasse.

Nachdem die Gerberei Hauser ihren Betrieb eingestellt hatte, wurde die Lücke zwischen Haus Talgarten und Haus zur Gerbe 1885 überbaut. Das Haus Gerbestrasse 4 (heute Modehaus Schnyder) war ein nüchterner Zweckbau im Stil des späten 19. Jahrhunderts mit einem einzigen Zierelement: einem üppigen Balkon im zweiten Stock. 1894 entstand auf der gegenüberliegenden Strassenseite das Wohn- und Geschäftshaus Talegg (Gerbestrasse 1).25 Auch dieses Gebäude ist ein typischer Bau seiner Zeit, mit der neoklassizistischen Fassade und dem Mansarddach mit Zinne aber aufwändiger gestaltet. Architektonisch hat es Pendants an der Zugerstrasse 3 und 5, die ungefähr zur gleichen Zeit entstanden. Im Erdgeschoss befand sich ursprünglich eine Metzgerei, die bis 1975 bestand.
Blick in die Gerbestrasse mit Voliere, Haus Talegg und Haus Talgarten. Aufnahme um 1920.

Unmittelbar hinter dem Haus Talegg befindet sich das Haus Gerbestrasse 3, das bereits 1787 von Schmiedemeister Georg Theiler erbaut wurde. Es ist ein Handwerker-Haus, dessen Fenster in symmetrischen Achsen angeordnet sind. Bis Mitte des 19. Jahrhunderts befand sich hier eine Schmiedewerkstatt – auch dies ein Gewerbe, das sich wegen der Feuergefahr in der Regel am Dorfrand ansiedelte.


PHASEN DER URBANISIERUNG

Indem seit 2007 der Blick vom Bahnhof bis in die Gerbestrasse hinein frei ist, wachsen der Bahnhofplatz und der Gerbeplatz mehr und mehr zu einer räumlichen und funktionalen Einheit zusammen. Betrachtet man beide Plätze zusammen, lassen sich an den Gebäuden sämtliche Urbanisierungsschritte in Wädenswil ablesen. Die klassizistischen Bauten an der Gerbe- und Friedbergstrasse stehen für den ersten Entwicklungsschritt im frühen 19. Jahrhundert vor der Industrialisierung. Bauten wie das Haus Merkur aus der Zeit um 1900 zeigen den Aufschwung in der Folge der industriellen Revolution. Der Kronen-Block und der Bahnhof sind mit ihren klaren Formen im Stil des Neuen Bauens Vertreter der Aufbruchstimmung vor der Wirtschaftskrise der 1930er-Jahre.
Mit der zunehmenden Bedeutung der Mobilität nach dem Zweiten Weltkrieg entstand der Gerbeplatz in zwei Etappen als eigentlicher Platz. Der erste Schritt war 1962 im Zusammenhang mit dem Bau der Bahnhofunterführung abgeschlossen. Seine heutige Form erhielt der Platz im zweiten Schritt im Frühjahr 1975, als der Neubau der Credit Suisse bezogen wurde. Diese zweite Etappe steht für den Wandel Wädenswils vom Industrie- und Gewerbedorf hin zum Dienstleistungsstandort. Den Ausbau des Bushofs auf dem Bahnhofplatz kann man schliesslich stellvertretend für den Wandel zur Wohn- und Bildungsstadt sehen: Beides benötigt eine gut ausgebaute Verkehrsinfrastruktur für Pendlerinnen und Pendler.
Haus Gerbestrasse 3 mit Eisenhandlung Vonwiller, um 1910.
Blick vom Turm der reformierten Kirche gegen den Bahnhof, 2010




Adrian Scherrer

ANMERKUNGEN

1 Wädenswiler Nachrichten, 25.9.1996.
2 Ausführlich zur Geschichte des Bahnhofs: Peter Ziegler. Wädenswil, Bd. 2, Wädenswil 1971, S. 133–140.
3 Zur Geschichte der Südostbahn: Gerhard Oswald, Kaspar Michel. Die Südostbahn: Geschichte einer Privatbahn, Zürich 1991.
4 Dokumentationsstelle Oberer Zürichsee. Die Eisenbahnfrage in Wädenswil, Veröffentlichung des Gemeinderats Wädenswil, April 1913, S. 6.
5 Allgemeiner Anzeiger vom Zürichsee, 19.2.1930.
6 Beat Frei. Horgen – Rückblicke, Horgen 1999, S. 90f.
7 Die Zuger Vorstadt: Gedenkschrift zum 100. Jahrestag der Vorstadtkatastrophe, Zug 1987.
8 Allgemeiner Anzeiger vom Zürichsee, 29.10.1932.
9 Nachrichten vom Zürichsee, 13.5.1933.
10 Peter Ziegler. Lesegesellschaft Wädenswil 1790 bis 1990, Wädenswil 1990. Dokumentationsstelle Oberer Zürichsee. Akten Haus Krone, ZF 41.
11 Zürichsee-Zeitung, 8.7.2005.
12 Dazu z.B. Allgemeiner Anzeiger vom Zürichsee, 3.3.1980, 22.4.1989 und 15.7.1989.
13 Wädenswiler Zeitung, 3.11.1998.
14 Zürichsee-Zeitung, 12.12.2011.
15 Neue Zürcher Zeitung, 23.9.2011.
16 Rechnungen Gemeindegut 1959–1962.
17 Allgemeiner Anzeiger vom Zürichsee, 30.6.1962.
18 Zürichsee-Zeitung, 20.7.2007.
19 Allgemeiner Anzeiger vom Zürichsee, 13.8.1975. Zur Bank Wädenswil: Hans Rudolf Schmid. 100 Jahre Bank Wädenswil, Wädenswil 1963.
20 Peter Ziegler. Das einstige Wädenswil im Bild, Wädenswil 1992, S. 20f.
21 Peter Ziegler. Rundgang I durch Wädenswil, Wädenswil 1989, S. 54ff.
22 Albert Hauser. Die wirtschaftliche und soziale Entwicklung eines Bauerndorfs zur Industriegemeinde, Wädenswil 1956 (22. Neujahrsblatt der Lesegesellschaft Wädenswil), S. 193.
23 Dokumentationsstelle Oberer Zürichsee. Akten Haus zur Gerbe, ZF 40:1. Vgl. 100 Jahre Druckerei Stutz: Jubiläumsschrift, Wädenswil 1983 (zum Haus zur Gerbe: S. 22) sowie Peter Ziegler. Wädenswils Wandel im 18. und 19. Jahrhundert, in: Jahrbuch der Stadt Wädenswil 2002, S. 84.
24 Dokumentationsstelle Oberer Zürichsee. Biografisches Dossier Walter Hauser. Zur Büste: Allgemeiner Anzeiger vom Zürichsee, 10.4.1968.
25 Zürichsee-Zeitung, 26.8.2010.