Das «Engelchen» auf dem Taufstein der reformierten Kirche

Quelle: Jahrbuch der Stadt Wädenswil 2016 von Peter Weiss
 
In den Siebzigerjahren des vorigen Jahrhunderts besuchte ich hie und da alt Nationalrat Heinrich Brändli im oberen Lehmhof. Er war von 1934 bis 1958 Mitglied des Gemeinderates Wädenswil, der damaligen Exekutive, davon die letzten zwölf Jahre Gemeindepräsident.
Überaus lebendig erzählte er mir von den politischen und gesellschaftlichen Ereignissen, die sich in jenen Jahren in Wädenswil zugetragen und die Menschen in Atem gehalten haben. Ich erhielt eine einzigartige, spannende und anschauliche Einführung in die Geschichte der Gemeinde.
So schilderte er mir auch die Auseinandersetzung wegen des Engelchens auf dem Taufstein in der reformierten Kirche. Im Vorfeld der Innenrenovation 1950/51 sei ein Streit darüber entbrannt, ob das Engelchen zu entfernen sei oder ob es weiterhin den Taufstein zieren dürfe. Nach längerem Hin und Her habe man sich auf folgenden Kompromiss geeinigt: Das Engelchen wird vorläufig vom Taufstein genommen und aufbewahrt, sodass es, falls gewünscht, jederzeit wieder an seinem ursprünglichen Ort aufgestellt werden könne.
Als ich diesen Winter Fotographien der alten Kirche mit dem Marmorengelchen in deren Mitte betrachtete, kam mir die Erzählung Heinrich Brändlis wieder in den Sinn, und ich sagte mir: Wenn das Engelchen damals nur provisorisch entfernt und aufbewahrt worden ist, bestände ja die Möglichkeit, es vielleicht noch irgendwo zu finden.
Ich fragte die Tochter das damaligen Sigristen Alfred Bodmer, Heidi Fischer-Bodmer, ob sie das Engelchen je gesehen oder über dessen Verbleib etwas wisse.
«Es steht in der Stube meines Bruders Max», war ihre Antwort. Nach einem freundlichen Empfang stellten Max Bodmer und seine Frau das Engelchen auf den Tisch. Seine betenden Hände waren einst abgebrochen und mit grauem Zement wieder befestigt worden. Sein Vater hätte ihm erzählt, er habe es seinerzeit aus dem Schutt genommen und gerettet. Danach habe es während Jahren in seinem Bubenzimmer gestanden und sei ihm lieb geworden.

Die Suche nach dem «Engelchen» hat Erfolg.

Max Bodmer erklärte, er sei bereit, das Engelchen der Kirchgemeinde zu schenken unter der Bedingung, dass die Ärmchen fachgerecht restauriert und neu befestigt werden und er von der Statue einige Fotos erhalte. Ich versprach ihm, mich dafür einzusetzen, und wir bekräftigten die Abmachung mit Handschlag. «Sie können das Engelchen gleich mitnehmen.»
Mit dem in eine Wolldecke gewickelten und in einer Kartonschachtel liegenden Engelchen ging ich direkt zu Prof. Dr. h. c. Peter Ziegler und seiner Gattin Elisabeth. Wir stellten das Engelchen auf den Küchentisch und sassen darum herum. Da entdeckte Peter Ziegler auf dem Sockel die eingravierte Inschrift: «L. Keiser sc. Zürich 1867». Peter Ziegler wusste, dass das Engelchen anlässlich der Hundertjahrfeier in die Wädenswiler Kirche kam und Elisabeth gab in ihr Smartphon den Namen «L. Keiser» ein, wobei «Ludwig Keiser, 1816–1890, ein Bildhauer des Historismus», erschien.
Das war der Ausgangspunkt für weitere Recherchen meinerseits.



Diese Plastik zierte von 1867 bis 1950 den Taufstein.

Festgeschenk zur Hundertjahrfeier der Kirche

Die Gemeinde Wädenswil hat am 25., 26. und 27. August 1867 das hundertjährige Bestehen ihrer Grubenmannkirche gefeiert. Gleichzeitig wurde auch die neue Orgel eingeweiht und für 1200 Schüler und Schülerinnen ein Jugendfest organisiert. Für alle drei Tage wurde auf der Wiese des Herrn Eschmann zur alten Kanzlei (heutiges Gessner-Areal) eine Festhütte erstellt, die 700 Personen in sich aufnehmen konnte.
Bereits am 24. August teilte der «Allgemeine Anzeiger vom Zürichsee» mit, dass «morgen die in Zürich und Umgebung wohnenden hiesigen Gemeindsbürger per Extradampfboot das Fest besuchen werden; auch heisst es, Letztere werden ein Festgeschenk mitbringen.»
Am Sonntagmorgen trafen auf einem reich bekränzten und beflaggten Extradampfer die erwarteten Gäste, etwa 120 Personen, unter ihnen viele Damen, begleitet vom Orchesterverein Zürich in Wädenswil ein und wurden von der Bevölkerung herzlich willkommen geheissen.
«Das Festgeschenk der auswärtigen Bürger besteht aus einem Aufsatz auf den Taufstein der Kirche, ein betendes Kind vorstellend; das Modell desselben war während des Gottesdienstes Sonntag Vormittag aufgestellt...»

Zum 100-Jahr-Jubiläum 1867 entstand diese Zeichnung von Adolf Honegger. Auf dem Taufstein steht das betende Kind.

(«Allgemeiner Anzeiger vom Zürichsee», 28. 8. 1867). In seiner Festpredigt kommt Dekan Häfelin mit folgenden Worten auf dieses Geschenk zu sprechen:

«Und wenn schon der Erbauer der Kirche, ein guter Protestant, vor hundert Jahren zwei liebliche Engelköpfe an der Decke der Kirche angebracht hat, die lange unbeachtet geblieben, nun aber hervorgetreten sind über der Orgel, um ihre heiligen Accorde zum Himmel emporzutragen, so wird das betende Kind im Gewande der Unschuld, das seine Geschwister bei der heiligen Taufe willkommen heisst, uns nicht stören in unserem protestantischen Bewusstsein.»
Man spürt in den Worten von Dekan Häfelin einen gewissen Vorbehalt gegenüber Engeln in einer protestantischen Kirche, den er mit dem Verweis auf den Protestanten und Erbauer Grubenmann zu entkräften sucht. Zwei weitere Engelköpfe befinden sich über der Stuck-Bekrönung der Kanzel unmittelbar unter dem

Christusfenster und ein fünfter Engel hält das Evangelienbuch über dem Grubenmannwappen, wobei das Anbringen von Engeln eher der Initiative des katholischen Stuckateurs Peter Anton Moosbrugger als des Baumeisters Hans Ulrich Grubenmann entsprungen sein dürfte.
Dadurch, dass Dekan Häfelin das betende Kind mit den Engeln in der Kirche in Bezug setzte, hat er vermutlich dazu beigetragen, dass die kleine Statue auf dem Taufstein später durchwegs als Engelchen bezeichnet und nicht mehr als betendes Kind wahrgenommen wurde.

Nachmittags um 18 Uhr versammelte sich die ganze Festgemeinde in der Festhütte. Dort trug einer der Zürcher-Wädenswiler, Herr Robert Eschmann, einen ausführlichen Festgruss in Versen vor und erwähnte dabei auch ihr Geschenk, das betende Kind:

«Den Gottestempel würdig auszuschmücken,
Bringt Jeder gern ein kleines Opfer dar;
So legen heut’ auch wir aus freien Stücken
Ein Scherflein auf der Kirche Tauf-Altar.
Ein „betend Kind“ mag unsern Taufstein zieren,
Als Sinnbild frommer Einfalt, zart und rein;
Mög’ solch ein Geist die Jugendwelt regieren:
Das soll die Deutung uns’rer Gabe sein.»

Das betende Kind wird später als Engelchen wahrgenommen.

Wer schuf das Modell des betenden Kindes?

Der Schöpfer dieser kleinen Statue ist gemäss Inschrift am Sockel Ludwig Keiser, geboren am 14. Dezember 1816 in Zug, verstorben am 8. Januar1890 in Zürich. Er entstammte einer Zuger Hafnerfamilie. Nach einer ersten künstlerischen Ausbildungszeit in Zug, Solothurn und Bern übersiedelte Ludwig Keiser nach München und kam 1837 ins Atelier des berühmten Bildhauers Ludwig Michael Schwanthaler (1804–1848), später besuchte er in München auch die Akademie der Bildenden Künste.



Inschrift von Ludwig Keiser am Fuss der Plastik.

1855 wurde er Lehrer für Modellieren und ornamentales Zeichnen am eidgenössischen Polytechnikum (ETH) in Zürich und 1857 zum Professor der Modellierschule ernannt.
In seinen «Erinnerungen» schreibt der Kunsthistoriker Prof. Dr. Rudolf Rahn über seinen Kollegen Ludwig Keiser: «In seinen Stunden wurde viel geplaudert und nicht wenig gelernt. Modellieren schärft das Auge, hilft zum Formverständnis und der Fähigkeit zur graphischen Wiedergabe des Körperlichen in seinen mannigfaltigen Erscheinungen viel besser und nachdrücklicher als das blosse Zeichnen.»
Einige Werke von Ludwig Keiser: Zwei Statuen für den Portikus der Knabenschule (heute Museum Oskar Reinhart) in Winterthur: Ulrich Zwingli und Heinrich Pestalozzi. Denkmal für den Basler Reformator Oekolampad in Basel. Statuen von Moses und Johannes dem Täufer in der Pfarrkirche Unterägeri.
Die Statue des betenden Kindes ist in anmutig, romantisch-edlem Stil geschaffen.


Ludwig Keiser (1816-1890) beim Modellieren.

Der Bildhauer der Statue «Betendes Kind»

Am 28. August 1867 berichtete der «Allgemeine Anzeiger vom Zürichsee» über das Modell des betenden Kindes: «... es soll nun in München von Künstlerhand solid ausgeführt werden.»
Drei Tage später erschien eine Korrektur: «Der Aufsatz auf den Taufstein in der Kirche wird nicht in München, wie irrthümlich berichtet, sondern in Zürich gearbeitet, und zwar durch Herrn Bildhauer Wethli, Sohn, am Kreuzplatz.»
Louis Wethli wurde am 16. Oktober 1842 in Hottingen geboren. Nach einer Lehrzeit im Steinmetzgeschäft seines Vaters war er nach dessen frühzeitigem Tod genötigt, kaum zwanzigjährig, die Leitung des Geschäfts zu übernehmen. Rastlos bestrebt, sich in seinem Beruf nach der künstlerischen Richtung weiter auszubilden, besuchte er in den Jahren 1860 bis 1864 die Kunstfächer an der Eidgenössisch Technischen Hochschule in Zürich. Wie oben erwähnt, unterrichtete Ludwig Keiser in jenen Jahren an der ETH als Professor der Modellierschule Modellieren und ornamentales Zeichnen, lernte Louis Wethli als begabten jungen Bildhauer kennen und übertrug ihm 1867 die Aufgabe, das betende Kind gemäss seinem Modell in weissem Marmor anzufertigen.
Louis Wethli war ein überaus erfolgreicher Bildhauer und Geschäftsmann. Viele historische Grabmäler wurden von ihm in romantisch-naturalistischem Stil, der stark symbolistische Züge trägt, geschaffen. 1877 liess er am Zeltweg 62 in Zürich ein Wohnhaus mit Atelier bauen. Die symmetrische Fassade mit ihren Rundbogen-Arkaden wurde als Werbung für das Bildhauergeschäft reich mit bauplastischem Schmuck ausgestattet. (Seit 1974 unter Denkmalschutz). Auch schuf er das Grabmal für Conrad Ferdinand Meyer auf dem Friedhof Kilchberg, einen Obelisken aus schwarzem Granit, und das Polendenkmal auf Schloss Rapperswil. Er starb am 21. Februar 1914 in Zürich.

1877 erbaute Architekt Albert Meyer-Hofer (1845-1903) das Haus Zeltweg 62 in Zürich, als Wohnung und Atelier für Louis Wethli.

Ob Ludwig Keiser bei der Vollendung des betenden Kindes selbst auch noch mitgewirkt und Hand angelegt hat, wissen wir nicht. Möglich wäre es, lautet doch die Sockelinschrift «L. Keiser sc. Zürich 1867». «sc» ist die Abkürzung für lateinisch «sculpsit» und heisst: «Er hat gebildet, gemeisselt, die Skulptur geschaffen».

Innenrenovation der Kirche 1950/51 und vorläufige Beseitigung des Engelchens

Am Mittwoch, 12. Oktober 1949 lud die Kirchenpflege zu einem öffentlichen Besprechungsabend zur Kircheninnenrenovation in die Kirche ein, die von etwa 200 Gemeindegliedern besucht wurde und fast drei Stunden dauerte. Unter anderem wurde auch über das Engelchen auf dem Taufstein und die farbigen Kirchenfenster diskutiert. Der Kunsthistoriker Professor Linus Birchler setzte sich in seinem Gutachten für die Beseitigung des weissen Engels auf dem Taufstein und der farbigen Fenster auf der Kanzelseite ein, die er als wertlose Glasmalereien bezeichnete. Dr. iur. Hans Fürst hingegen plädierte dafür, man solle vorderhand alles beim Alten belassen, um die Abstimmung nicht zu gefährden.
Der Aktuar der Kirchenpflege, Eduard Kuhn, kämpfte in der Kirchenbehörde entschieden für den Erhalt des Engelchens auf dem Taufstein, unterlag aber der Mehrheit.
Die Gründe, die die Kirchenpflege bewogen, das Engelchen zu entfernen, legte sie in der Weisung an die Stimmberechtigten vom 3. April / 30. Juni 1950 unter dem Kapitel «Taufstein» wie folgt dar:
«Die Frage nach der Gestaltung des Taufsteins beschäftigte die Behörde nicht wenig. Der heutige Taufsteinaufsatz ist nicht ursprünglich. Seine Höhe hat zu verschiedenen Unzukömmlichkeiten geführt.
Es soll deshalb der ursprüngliche Zustand wieder hergestellt werden, indem der Aufsatz durch eine wenig über den Taufstein vorragende Abdeckplatte ersetzt wird.

Reformierte Kirche, Blick von der Kanzel gegen den Turm. Im Vordergrund der Taufstein mit Aufsatz. 

Diese Gestaltung wird insofern vorteilhaft sein, als die Geistlichen sich bei Trauungen und Kinderlehren wieder hinter dem Taufstein aufstellen können. Dieser Standort kann auch bei Vorträgen, für ein im Kirchgemeindehaus nicht mehr Platz findendes Publikum, eingenommen werden. Die Aufstellung hinter dem Taufstein ermöglicht dem Pfarrer, die kinderlehrpflichtige Jugend besser im Auge zu behalten und verbessert die akustischen Verhältnisse bedeutend. Den Freunden des bisherigen Taufsteins sei gesagt, dass die vorgeschlagene Änderung Fr. 200.- ausmacht. Es bestünde somit die Möglichkeit, jederzeit wieder den alten Aufsatz anzubringen, falls sich die Gemeinde nicht an die beschriebene Abdeckplatte gewöhnen könnte. Letztere könnte jederzeit wieder verwendet werden, sodass der Gemeinde praktisch jeder Verlust erspart bliebe.»
Am 3. September 1950 wurden die Kredite für die Innenrenovation und eine neue Orgel durch die Stimmberechtigten genehmigt. In der darauffolgenden Kirchenpflegesitzung am 5. September wurde das Vorgehen betreffend Taufstein und Engel – wie in der Weisung versprochen – nochmals bekräftigt.
Das weitere Schicksal des Engelchens bleibt jedoch vollständig im Dunkeln. Auch weiss niemand, wann seine Ärmchen abgebrochen und mit grauem Zement notdürftig wieder angeheftet worden sind. Dass es in der Familie von Sigrist Bodmer ein Zuhause gefunden hat, darf als Glücksfall bezeichnet werden.

Das Gerüst für die Innenrenovation von 1950 ist gestellt. Noch steht die Plastik auf dem Taufstein.

Wie weiter mit dem betenden Kind?

Die von Bildhauer Ueli Fausch fachmännisch restaurierte kleine Statue geht nun in den Besitz der reformierten Kirchgemeinde über.
Als ich eine über 90-jährige Alt-Wädenswilerin auf das Engelchen auf dem Taufstein ansprach, strahlte sie und sagte: «Tüends doch wider ane – mindischtens a miinere Beärdigung!»
Nächstes Jahr feiert unsere Kirche das 250-Jahr-Jubiläum ihrer Entstehung. Es ist zu hoffen, dass dann auch das betende Kind für seinen 150. Geburtstag die ihm gebührende Aufmerksamkeit findet.



Peter Weiss


Das «Engelchen» ist rundum schön gearbeitet.