Tag für Tag besuchte Elisabeth Rellstab die Spitäler. Sechs volle Wochen lang opferte sie sich auf. Sie tröstete die Leidenden, brachte ihnen Bücher und Kalender und schrieb Dutzende von Karten und Briefen. Die Kranken suchten Fräulein Rellstab und verlangten nach ihr. Wo sie auftauchte, glitt ein müdes Lächeln über die schmerzverzerrten Gesichter, da kehrte Friede ein.
Der Aufenthalt in Château Thierry war für Elisabeth Rellstab eine segensreiche, aber auch äusserst harte Zeit. Hunger, Krankheit und Tod waren um die junge Wädenswilerin her. Und welch schreckliche, erschütternde Bilder boten sich ihr in den Lazaretten: In niedrigen, kalten und düstern Räumen lagen die Kranken auf ihren Matratzen. Überall roch es widerwärtig nach Chlor. Unheimliche Stille herrschte in den Gängen und Zimmern. Nur dann und wann wurde sie durch das unverständliche Rufen eines Fiebernden unterbrochen. Hier lechzte einer nach Wasser, da gellte der Schrei eines Sterbenden. Der Typhus hatte verheerend überhandgenommen. Die Ärzte mit ihren wenigen Medikamenten waren machtlos. Zu Dutzenden starben junge Leute dahin. Matt und ächzend lagen die an Typhus Erkranken da, mit schwarzroten Lippen und schmerzverzerrtem Mund. Die dunkelgelben Gesichter trugen grosse, schwarze Flecken. Lästige Fliegen setzten sich scharenweise darauf fest. Niemand hatte die Kraft, sich ihrer zu erwehren.
Tag für Tag brachten Karrenzüge aus Paris neue Ruhr- und Fieberkranke in die Lazarette. Die Krankenwärter waren entmutigt. Die meisten waren betrunken, fluchten, schrien und misshandelten ihre Patienten. Auch die Klosterschwestern verhielten sich intolerant.
Elisabeth Rellstab aber diente rastlos. Trotz Wind und Regenwetter machte sie jeden Tag den weiten Weg von Monneaux nach Château Thierry. Sie musste Dr. Hallmayer beistehen. Man durfte den Mut nicht sinken lassen; die Kranken bedurften der Hilfe. Und Elisabeth war glücklich, dass sie helfen konnte. Aber eines drückte sie: Die Franzosen wollten sie hindern, in die preussischen Lazarette zu gehen. Überall lauerte man ihr auf, zeigte man mit Fingern auf sie, die Verräterin. Was hatte sie getan?
Anfang Oktober 1870 trat Dr. Hallmayer als Lagerarzt zurück. Er hatte sich mit den französischen Nonnen und Wärtern überworfen. Auch Elisabeth Rellstab wollte das Spital verlassen. Wir lesen im Tagebuch: «Ich teilte Dr. Hallmayer mit, wie unartig die Leute gegen mich seien. Er fand dies im höchsten Grade unangenehm. Doch meinte er, ich sollte noch eine Zeitlang hier bleiben.»
Und Elisabeth blieb. Sie freundete sich mit einer Nonne an, und auch der neue Lagerarzt, Dr. Schmid, war gut zu ihr. Aber nach und nach erschöpften sich Elisabeth Rellstabs Kräfte. Unterm 17. Oktober lesen wir im Tagebuch: «Ich weiß nicht was machen. Heim muss ich, und ist es je bälder, je besser. Ich habe auf allen Seiten Gefahren, hier die Pocken, dort die Lazarettkrankheiten, und dazu die immer zunehmende Feindseligkeit der Franzosen gegen mich. Gestern und heute war es mir recht unwohl, jeden Abend habe ich Fieber und Kopfweh, dem ich sonst nie unterworfen war.»
Am 27. Oktober besuchte Elisabeth Rellstab das Lazarett von Château Thierry zum letzten Mal. Es kam zu ergreifenden Abschiedsszenen. Nur ungern liess man die Schweizerin, die man während sechs Wochen lieb gewonnen hatte, in ihre Heimat ziehen.