Wädenswil 1916 – eine Zeitreise

Quelle: Jahrbuch der Stadt Wädenswil 2016 von Mariska Beirne / Christian Winkler

Gisela Lucci-Purtscher

1871 16.11. Geburt in Konstantinopel, heute Istanbul. Ihr Heimatort ist Lienz, Österreich. Die Eltern sind 1871 aus beruflichen Gründen in Konstantinopel, denn der Vater ist Oberinspektor der Südbahngesellschaft
vor 1894 Ausbildung zur Lehrerin
1894 Immatrikulation an der Universität Zürich für das Studium der Medizin
18991900 Abschluss des Studiums an der Medizinischen Klinik der Universität Innsbruck
1910 10.10. Heirat in Basel mit dem Witwer Rinaldo Lucci, italienischer Staatsbürger, der eine Tochter in die Ehe mitbringt
1913 02.02. Vortrag in Wädenswil: «Über den Unterschied zwischen Schulmedizin und Naturheillehre»
1914 Umzug von Basel nach Wädenswil, zuerst im Grundhof wohnhaft
19151916 Bau einer Villa mit Terrasse an der Halden am heutigen Alpenweg 71
1916 Einzug in den Neubau und Eröffnung des Kurbades «Frauenheil» an dieser Adresse
1920 Scheidung von Rinaldo Lucci
1930 Umzug nach Feldmeilen, wo sie in der Stöckenweid ein Kur- und Erholungsheim mit biologischem Landbau betreibt
1939 Umzug auf den Möschberg BE, zusammen mit ihrer Hausdame Frl. Merz. Sie liess sich ein Chalet bauen und praktizierte noch bis ca. 1956
1959 10.07. Gisela Lucci-Purtscher stirbt im Alter von 88 Jahren auf dem Möschberg
 
Die Naturheilärztin
Gisela Malewa Purtscher begann ihr Medizinstudium in Zürich, wo Frauen zum Studium bereits zugelassen waren, und schloss es später in Innsbruck ab. Sie wohnte danach in Basel und heiratete mit 39 Jahren den um sechs Jahre jüngeren Italiener Rinaldo Lucci. Die Eheleute waren sehr unterschiedlich: Sie störte sich bald daran, dass ihrem Mann keine Arbeitsstelle gut genug war und sie ihn finanzieren musste. Er vermisste an ihr die hausfraulichen Tugenden. Und im neuen Frauenkurbad, das seine pragmatische Frau am Wädenswiler Berg erbauen liess, fehlte es ihm an Eleganz und Komfort. Er war nur noch selten anwesend und vergnügte sich offenbar ausserehelich, wie die Ärztin anhand seiner Filzläuse diagnostizierte. Abgesehen von diesen intimen Details aus den Scheidungsakten ist über das Privatleben der Reformärztin wenig bekannt. Sie betreute auch nach der Trennung von ihrem Mann zeitweise dessen schwierige Tochter und liebte ihre Deutschen Schäferhunde. Eine Konstante in ihrem Leben war die Hausdame Frl. Merz, die bereits in Wädenswil für sie arbeitete, ebenso später in Feldmeilen und auf dem Möschberg.

Gisela Lucci-Purtscher
(1871–1959)

Am gesellschaftlichen Leben Wädenswils hat sich Lucci-Purtscher offenbar nur wenig beteiligt. Neben dem Betrieb ihrer ärztlichen Praxis schrieb sie Bücher zu unterschiedlichen Reformthemen und bot Kurse für Tiefenatmen, Gymnastik, Massagen oder Wasseranwendungen an. Zudem arbeitete sie mit der Autosuggestionstechnik von Emil Coué und galt als beste deutschsprachige Lehrerin auf diesem Gebiet.
 
Monte Verità am Wädenswiler Berg
Der Begriff Lebensreform steht für eine ganze Reihe unterschiedlicher Reformbewegungen, die am Ende des 19. Jahrhunderts vor allem in Deutschland und der Schweiz aufkamen. Sie waren eine Reaktion auf die rasche Industrialisierung, verbunden mit der Verstädterung der Landschaft und ungesunden Lebensbedingungen der Fabrikarbeiter. Der menschliche Körper wurde neu entdeckt und die Reformer strebten nach einer naturgemässen Lebensführung Vegetarismus, Naturheilkunde, Reformkleidung, Sonnen- und Lichtbäder, Fastenkuren oder Ausdruckstanz waren nur einige der Themen, die zu dieser Zeit aufkamen. Der wohl bedeutendste Ort der Schweizer Lebensreform war der Monte Verità oberhalb von Ascona. Auf dem Wädenswiler Berg betätigte sich Gisela Lucci-Purtscher gleich in mehreren Reformbereichen: Neben den Kursen und dem Angebot für Sonnen-, Luft- und Schwitzbäder schrieb sie Bücher über Ernährung, über Frauenthemen und Mutterschaft – hier beschäftigte sie sich auch eingehend mit der Reformkleidung, weil das Korsett den weiblichen Körper schädige. Ihre Schriften zum Thema Autosuggestion gelten noch heute als Standardwerke.
«Aus Liebe habe ich den Mann von Anfang an nicht geheiratet, sondern um nicht allein zu sein und weil ich dachte, man könne doch keinen Mann finden, der in jeder Richtung allen Wünschen entspreche.»
 
«Sofern wir überhaupt die Absicht haben, unser Leben zu bejahen, sind wir nicht vor die Wahl gestellt, die Autosuggestion anzuwenden oder nicht. Denn sie ist ein Wesentliches im Lebensvorgang selbst. Wir haben nur die Wahl, ob wir sie, die sowohl Gutes als auch Schlimmes bewirken kann, fernerhin unbewusst anwenden, ober ob wir sie bewusst benützen wollen.»

Gisela Lucci-Purtscher

Frauenkurbad von Gisela Lucci-Purtscher am heutigen Alpenweg.




Mariska Beirne




Christian Winkler