Von Wädenswilerinnen und Wädenswilern

Quelle: Gewerbezeitung Dienstag, 29. September 2020 von Peter Ziegler

Wer waren die Wädenswilerinnen? Und die Wädenswiler? Mit solchen Fragen befasse ich mich aus historischer Sicht seit mehr als 60 Jahren. Ja, wer waren sie, die Wädenswiler und Wädenswilerinnen?
 
Im 17. und 18. Jahrhundert einerseits Fischer und Kahnführer, anderseits Ackerbauern, Viehzüchter und Rebleute, Dorfhandwerker, Krämer und Händler sowie solche, die in der aufkommenden Textilindustrie ihr Auskommen oder einen Nebenverdienst fanden. Die Frauen gingen getreu ihrem Tagewerk in Haus und Hof nach, gebaren Kinder, wirkten am Herd, am Spinnrad und am Webstuhl. Sie wandte sich bisweilen auch der Literatur zu. So gehörten zum ersten erlesenen Mitgliederkreis der 1790 gegründeten Lesegesellschaft Wädenswil auch sechs «Frauenzimmer», wovon eines verwitwet und deren fünf ledig, das älteste 46-jährig, das jüngste 17 Jahre alt.

«Baneeter-Buume»

Zu den urchigen Typen zählten die Schiffsleute. Hans Heinrich Baumann aus Wädenswil – er lebte von 1785 bis 1871 – war ein solcher Schiffsmann, seeauf und seeab bekannt unter dem Namen «Baneeter-Buume». Baneeter ist das zürichdeutsche Wort für Barometer. Im Winter, wenn das Ledischiff in der Haabe lag, verfertigte oder flickte Baumann Barometer. Baumann war ein Original. Schon zu seinen Lebzeiten erzählte man zur Unterhaltung seine – ihm oft auch nur zugeschriebenen – Streiche. Diese konnten mitunter derb sein. Mehr als einmal wurde Baumann wegen seiner allzu direkten Äusserungen, oder weil er mit dem Gesetz in Konflikt geraten war, vor den Gemeinderat oder vor das Bezirksgericht Horgen zitiert.

Eine Kostprobe:

In Horgen sitzt man eines Tages über Baumann zu Gericht. Die Verhandlungen gehen dem Ende entgegen. «Baumann», meint einer der Richter, «gibt es noch etwas zu fragen?» «Ja», erwidert Baumann keck, «könnten mir die gelehrten Herren den Unterschied zwischen einem Unglück und einem Unfall erklären?» Die Richter sind einige Sekunden sprachlos. Dann äussert sich einer: «Unglück und Unfall sind dasselbe – oder – vielleicht ist ein Unglück eine Spur gefährlicher als ein Unfall.» Baumann lächelt verschmitzt. «Darf ich es Ihnen erklären? Wir nehmen an, alle Richter stünden in Reih und Glied auf der Horgener Hafenmauer. Plötzlich fegt ein Windstoss die Richter in den Zürichsee. Ertrinken sie, so ist dies ein Unfall. Können sie aber wieder an Land schwimmen – dann ist dies ein Unglück!»

«Fabrikanten» und Tüchler

In Wädenswil, wie überhaupt am Zürichsee, lebten indessen nicht in erster Linie Humoristen, Originale und Sonderlinge, sondern sparsame und fleissige Leute. Namentlich die Textilindustrie brachte der dörflichen Oberschicht im Verlaufe des 18. Jahrhunderts Wohlstand und Ansehen. Wädenswil, Hauptort der gleichnamigen Landvogtei, war um 1790 mit knapp 3000 Einwohnern und Einwohnerinnen eine der grössten Siedlungen im Stadtstaat Zürich. Neben der angestammten, oft wohlhabenden bäuerlichen Bevölkerung hatte sich hier im Verlaufe des 17. und 18. Jahrhunderts eine neue Oberschicht herausgebildet: jene der «Fabrikanten». Das waren Unternehmer der Textilindustrie, welche einen festen Stock von Heimarbeitern – Spinnern und Webern – beschäftigte und mit Zürcher Seiden- und Baumwollunternehmen Handel trieben. Durch ihre Tätigkeit kamen die «Tüchler» zu Wohlstand und Ansehen.
Grundriss reformierte Kirche Wädenswil um 1770 mit Anordnung der Bänke und Stühle.

Städtische Mode und Lebensweise

Der Kontakt mit der Stadt, mit den Kaufleuten und dem städtischen Markt, weitete den Blick. Man sah dabei aber auch, was die Städter für Häuser bauten, was für Kleider sie trugen, was sie assen, welchen Vergnügen sie nachgingen. Und all das ahmte man nun am See – den von der Obrigkeit erlassenen Sittenmandaten zum Trotz – getreulich nach. Einflussreichere Kreise in Wädenswil nahmen am Ende des 18. Jahrhunderts die Lebenshaltung der Stadt Zürich zum Vorbild und hoben sich bewusst von den bäuerlichen Lebensnormen ab. Wer es sich – vor allem finanziell – leisten konnte, wohnte in schönen, modern möblierten Häusern, kleidete sich nach städtischer Mode mit Rundhüten, ass Fleisch, trank Kaffee, rauchte Meerschaumpfeifen wie die Städter. Man organisierte Tanzpartien und Konzerte, man spielte Theater – 1790 in Wädenswil zum Beispiel «Minna von Barnhelm» von Lessing, und man traf sich in grösseren Gesellschaften im Wirtshaus. Wohlhabende «Fabrikanten » liessen ihre Kinder durch Hauslehrer unterrichten oder schickten sie zur Ausbildung gar ins Welschland. Der Lebensstandard mancher Wädenswiler war jenem der Stadtbevölkerung von Zürich ebenbürtig. Durch eigenen Fleiss war die Oberschicht am See zu diesem Luxus, zu dieser Vorzugsstellung gekommen. Die 1767 eingeweihte Barockkirche zeugt unter anderem noch heute davon, dass man sich vor mehr als 250 Jahren einen berühmten Architekten leisten konnte: Johann Ulrich Grubenmann aus Teufen. Zur Deckung der Baukosten liess die Kirchenbehörde, der Stillstand, die Kirchenörter – die Sitzplätze – versteigern. Dies führte zum Ausspruch: «Es verchauft mänge Puur es Chüeli, um z chaufe es Chilestüeli!» Je nach Vermögen konnte man einen bevorzugten oder einen weniger auffälligen Platz erwerben. Damit spiegelte sich in der Sitzordnung mit Behördensitzen, Männerstühlen, Weiberbänken und Bänken für Hintersässen (nicht eingebürgerte Niedergelassene) die Sozialtopografie, die Zusammensetzung der Bevölkerung von Dorf, Berg und Ort (Au). Auch viele Bürger- und Bauernhäuser, Mühlen und Gasthöfe trugen die Wohlhabenheit ihrer Erbauer und Bewohner zur Schau.

Bildungshunger

Die vom Welschland oder gar von Auslandaufenthalten nach Wädenswil zurückgekehrten jungen Männer hatten sich aus eigener Initiative Kenntnisse und Fertigkeiten angeeignet. Umso mehr empfanden sie nun die politische Zurücksetzung der Landbürger und gewisse wirtschaftliche Einschränkungen seitens der Stadt Zürich. Manche beklagten, dass ihnen der Besuch höherer Schulen versagt geblieben war. Sie begeisterten sich für die neuen Ideen der Aufklärung und sympathisierten mit den Zielen jener Bevölkerungsschichten, die 1789 in Frankreich die Revolution ausgelöst hatten. Kompensation einer mangelnden Schulbildung, Lese- und Bildungshunger, aber auch das Bedürfnis, mit Gleichgesinnten die brennenden Zeitfragen sowie die politische und wirtschaftliche Zurücksetzung zu diskutieren, führten 1790 zur Gründung der Lesegesellschaft Wädenswil, der ältesten am See.
Exlibris Lesegesellschaft Wädenswil, 1792., Kupferstich von Johann Heinrich Brupbacher.
Hans Heinrich Baumann, genannt «Baneeter-Buume».
Blick in die Kirche Wädenswil, Zeichnung von Johann Jakob Hofmann, 1771.




Peter Ziegler