EIN «SCHÄRME» FÜR DROGENSÜCHTIGE

Vor 25 Jahren richtete Wädenswil eine Notschlafstelle ein


Quelle: Jahrbuch der Stadt Wädenswil 2017 von Christian Winkler

Die offene Drogenszene auf dem Platzspitz

Im Sommer 1991 erlangte Zürich mit der grössten offenen Drogenszene Europas traurige Berühmtheit. Bis zu 3000 Personen – Drogenkonsumenten und Dealer – hielten sich täglich im als «Needle Park» bekannt gewordenen Platzspitz auf. Der Kontrast zwischen der Szenerie im Park und einer der reichsten Städte der Welt konnte kaum grösser sein. Das Drogenelend nahm ein Ausmass an, das die Behörden zum Handeln zwang.1
Der rechtsfreie Raum auf dem Platzspitz war 1986 entstanden. Die damals bürgerliche Stadtregierung hatte die Verlagerung der Szene in den Park toleriert und reagierte nur mit gelegentlichen Razzien. Bald jedoch zeigte sich, dass die Situation ausser Kontrolle geraten war. Die oftmals überforderten Behörden der Stadt Zürich erhielten dabei kaum Unterstützung von Gemeinden, Kanton oder Bund – der Platzspitz wurde als städtisches Problem betrachtet.2 Ende 1991 kam jedoch Bewegung in die Politik der umliegenden Gemeinden, als die Stadt die Räumung der offenen Drogenszene am Platzspitz auf Mitte 1992 ankündigte. Man schätzte die Zahl der Drogenabhängigen im Kanton Zürich auf rund 4000 Personen, etwa die Hälfte kam von ausserhalb der Stadt. Deshalb regte der Gemeindepräsidentenverband das Projekt der «dezentralen Drogenhilfe» an. Dadurch sollte die Stadt entlastet und Hilfsangebote in den Gemeinden geschaffen werden.3 Im Bezirk Horgen führt man Gespräche über mögliche Massnahmen, vieles war jedoch ungewiss, beispielsweise wie viele Personen betroffen waren und ob sie «nach Hause kommen», so die damalige Wädenswiler Sozialvorsteherin Trudi Rota. Zudem war die Frage der Finanzierung der Projekte ungeklärt. Man diskutierte über Bereitstellung von Wohnraum, Arbeitsplätzen und Tagesbetreuung.4
Am 7. Oktober 1991 entschied der Statthalter des Bezirks Zürich, dass der Platzspitz geschlossen werden sollte. Auch die städtischen Behörden wurden von der Meldung überrascht. Ab Dezember wurden erste bauliche Massnahmen in Form von Gittertoren umgesetzt und in den örtlichen Notschlafstellen nur noch Stadtzürcher aufgenommen.5 In Wädenswil genehmigte der Gemeinderat am 16. Dezember einen Nachtragskredit von 86‘500 Franken, um eine Notschlafstelle für Obdachlose einzurichten.6 In der Debatte sorgte insbesondere der geplante Standort direkt gegenüber der Migros für Kritik. Eine andere Möglichkeit bot sich jedoch in dieser kurzen Planungszeit nicht.7 Die Sozialbehörde und der Sozialdienst verstanden die Notschlafstelle als viermonatigen Versuch im Rahmen der dezentralen Drogenhilfe.8 Der «Anzeiger» berichtete am 24. Dezember symbolhaft über die kommende Eröffnung des «Schärme Wädenswil»: «Wie im Jahre 0 der christlichen Zeitrechnung soll sich jeder in seine Gemeinde zurückbegeben und dort Obdach suchen.» Rund 50 Drogenabhängige waren dem Sozialdienst zu dieser Zeit bekannt. Das Angebot war für obdachlose Jugendliche und junge Erwachsene von 21 Uhr abends bis 9 Uhr am Morgen vorgesehen, für 5 Franken pro Nacht. Zudem hatte man entschieden, dass der «Schärme» auch genutzt werden konnte, «ohne dem Anspruch auf Drogenfreiheit nachkommen zu müssen».9

Viel genutztes Angebot

Am 13. Januar 1992 wurde der Platzspitz während der Nacht geschlossen. Bereits am 9. Januar hatte der «Schärme» seine Tore geöffnet und war seither fast immer voll besetzt. Das Nacht-Angebot mit den elf Betten stiess auf grosse Nachfrage.10 Die Stadt bezahlte die Miete und die Koordinatorenstelle. Den Betrieb organisierte eine Betriebsgruppe, die aus den reformierten und katholischen Kirchgemeinden sowie aus dem städtischen Sozialdienst zusammengesetzt war. Die Kirchgemeinden waren es auch, die rund 130 Freiwillige für die Nachtdienste mobilisierten.
Das Mobiliar und die Bettwäsche spendete die Wädenswiler Bevölkerung. Ausserdem war Dr. Thomas Saner Ansprechperson in medizinischen Belangen. Er leitete mit seinen Kollegen einen Pikettdienst in die Wege.11
In den ersten Wochen stellte sich heraus, dass die Gäste im «Schärme» zwischen 17 und 27 Jahren waren. Es war wenig erstaunlich, dass keine Wädenswiler hier Unterschlupf suchten, wollten sie doch in ihrer Heimatgemeinde nicht erkannt werden. Auch an anderen Orten des Bezirks, wo ähnliche Notschlafstellen geöffnet hatten, machte man die gleiche Erfahrung.12
Am 29. Januar informierte der Zürcher Stadtrat, dass der Platzspitz am 5. Februar ganz geschlossen werde – auch tagsüber. Die Gemeinden wurden mit der baldigen Ansetzung des Vorhabens überrascht, war bisher doch immer von der Schliessung am Ende des Winters die Rede gewesen.13 Auch die Wädenswiler Sozialvorsteherin Trudi Rota beklagte sich über die Kommunikation mit den Gemeinden, die teilweise kaum vor derjenigen für die Öffentlichkeit geschah: «Alles, was am Platzspitz passiert, müssen wir den Medien entnehmen.»14

Vom 9. Januar bis 30. April 1992 war der «Schärme» an der Oberdorfstrasse 28.

Eine Nacht im «Schärme»

Die Medien blickten gespannt auf die bevorstehende Platzspitz-Schliessung und das Schweizer Fernsehen sendete für die Nachrichtensendung «10vor10» eine Reportage über den «Schärme», als ein Beispiel von Einrichtungen in den Gemeinden. In den fünf Minuten des Beitrags blickte die Kamera ins Innere der Notschlafstelle «im Provinzort Wädenswil», beschrieb den Tagesablauf und die Hausordnung. Daneben kamen Gäste, Helfer und auch die damalige Filialleiterin der benachbarten Migros, Ursula Zulauf, zu Wort.15
Besucherinnen und Besucher trafen meist bis 21 Uhr ein, anschliessend konnte man mit zur Verfügung stehenden Lebensmitteln kochen und gemeinsam Essen. Um 1.30 Uhr war Nachtruhe. In den Schlafzimmern war das Rauchen verboten, «Fixen», das Injizieren von Drogen, war nur auf der Toilette geduldet. Dort standen hygienische Utensilien zur Verfügung. Wer wollte, konnte seine Kleider waschen lassen und gespendete Ersatzkleider beziehen. Bereits um 7 Uhr war Tagwache, da alle bis 9 Uhr das Haus verlassen mussten. Bis dahin halfen die Gäste beim Aufräumen mit. Danach ging es oft direkt zurück nach Zürich, um neuen «Stoff» zu besorgen.16
Über hundert Helferinnen und Helfer hatten sich nach einem Aufruf in den reformierten und katholischen Pfarreien gemeldet. Sie erhielten zuvor Einführungskurse im medizinischen und organisatorischen Bereich. Eine Nacht war in Abend-, Nacht- und Morgenschicht eingeteilt. Noch heute erinnern sich damalige Helfer lebhaft an die Erlebnisse zurück. Auch der katholische Pfarrer Martin Kopp war «alle zehn oder vierzehn Tage in der Nachtschicht tätig. Eine Erfahrung, die mein Leben und meine Seelsorge wie Weniges mitgeprägt hat».17

Die Lösung des Drogenproblems – eine kontroverse Angelegenheit

Während sich der Betrieb im stets gut besuchten «Schärme» einpendelte, diskutierte die Öffentlichkeit über Möglichkeiten, die Drogenproblematik in den Griff zu bekommen. Denn einerseits stellte sich die Frage, wie mit den Abhängigen umgegangen werden sollte, andererseits weckte die Vollschliessung des Platzspitzes in der Bevölkerung Befürchtungen, die Drogenszene könne sich auf die stadtnahen Gemeinden verteilen. Anfang Februar zeigten sich jedoch noch keine Auswirkungen in Wädenswil, seit längerer Zeit kannten hier Polizei und Behörden aber einige kleine Szenen.18 «Droht jetzt die Drogenszene am Seeplatz?», fragte die SP in einer Einladung für ein Podiumsgespräch.19 Der Zürcher Polizeivorsteher Robert Neukomm (SP) und sein Wädenswiler Amtskollege Ernst Hitz (SVP) waren für die Erörterung der brennenden Thematik ins «Volkshaus» geladen. Es seien keine parteipolitischen Polaritäten ausgeschlachtet worden, berichtete der «Anzeiger», sondern es habe eine besonnene Diskussion stattgefunden. Neukomm stellte bald klar, dass die Stadt Zürich die Verteilung der Verantwortung auf die Gemeinden verstärkt umsetzen wolle. «Das Drogenproblem ist auch euer Bier. Wir haben es lange genug bezahlt.» Der «Schärme» sei ein gutes Beispiel für ergriffene Massnahmen. Es sei der positivste Effekt der Platzspitzschliessung, dass nun die Last des Drogenproblems auf mehrere Schultern verteilt würde.20
Ende März lud auch die SVP zur offenen Gespräch. Ernst Stocker leitete das Podium, an dem die Kantonsräte Hans Fehr (SVP) und Mario Fehr (SP) sowie der Wädenswiler Arzt Bernhard Rom und Heinz Frei, Leiter der Drogenstation Frankenthal, geladen waren. Die Diskussion entbrannte entlang der Linie, ob das Richtige gegen die Drogenproblematik unternommen werde. Die eine Seite sprach sich für einen humaneren Umgang mit den Süchtigen und die kontrollierte Abgabe der Substanzen aus. Demgegenüber stand der Ruf nach mehr Repression und Zwang zu Drogenfreiheit und Therapien.21 Die Meinungen repräsentierten letztlich die politischen Auseinandersetzungen, die über die kommenden Jahre intensiv geführt wurden. Daraus und aus den konkreten Erfahrungen in der Stadt Zürich resultierte schliesslich das sogenannte Vier-Säulen-Prinzip der Drogenpolitik, bestehend aus Prävention, Überlebenshilfe, Therapie und Repression. Das Modell fand international grosse Beachtung.22
Im Juni löste der Zeitungsartikel «Dezentrale Drogenhilfe aus ärztlicher Sicht» eine Kontroverse aus. Der Chefarzt des Spitals Wädenswil, Dr. Peter Möhr, äusserte sich darin auch zum «Schärme», den er als «komfortablen Fixerraum beurteilte, wo «der weitere Konsum intravenöser Drogen trotz Hausordnung achselzuckend geduldet» werde. Es sei alles gut gemeint, aber «mit Notschlafstellen erreichen wir gar nichts, und unser Methadonprogramm ist eine ähnliche Alibiübung».23 Verschiedene Leserbriefe kritisierten daraufhin Möhr. «Es befremdet mich, wenn ein Arzt, der meines Wissens nie im Schärme tätig war, versucht, mit zynischen Bemerkungen dieses Projekt zu verunglimpfen», meinte ein Leser. Ein Helfer des «Schärme» schrieb: «Betroffen macht mich, wie kalt Dr. Möhr nur den körperlichen Aspekt der Sucht sieht, unabhängig vom Menschen.» Er versprach, für ein gemeinsames Treffen zwischen dem Arzt und den Verantwortlichen des «Schärme» die für das Gespräch förderliche gute Flasche Wein zu stiften. Es gab aber auch Leser, welche die Grundhaltung Möhrs unterstützten. «Auch noch so viele „Schärmen“ bedeuten keinen Schritt in Richtung Suchtfreiheit. [ ... ] Dabei zweifle ich keineswegs am guten Willen vieler Helfer. Doch ich kann mich trotzdem nicht des Eindruckes erwehren, dass die ganze Aktion für manche auch nur eine medienwirksame Gelegenheit zur Beruhigung ihres sozialen Gewissens bietet.24

Der Verein «Schärme» übernimmt

Es stand fest, dass die Notschlafstelle an der Oberdorfstrasse wie geplant Ende April 1992 geschlossen werden sollte. Das von der Stadt stets als Pilotprojekt betrachtete Angebot sollte fortan von einem Verein übernommen und weitergeführt werden.25
Die Gründungsversammlung fand an 9. April im reformierten Kirchgemeindehaus statt. Viele der rund vierzig Anwesenden waren bereits in Schichten in «Schärme» aktiv gewesen. In seinen Statuten verpflichtete sich der Verein der «christlichen Ethik» und richtete sich «politisch neutral» aus (Art. 1.2). «Der Verein unter stützt bestimmte Randgruppen in der Gesellschaft durch tätig Hilfe. Dabei wird einerseits Hilfe an (obdachlose) Drogenkranke, sozial isolierte HIV-Träger resp. Aidskranke angeboten und deren Resozialisierung gefördert: andererseits unternimmt der Verein Aktivitäten, die zur besseren Akzeptanz solcher Randgruppen in unserer Gesellschaft führen» (Art. 2). Der Vorstand setzte sich aus Mitgliedern der reformierten und katholischen Kirchgemeinden sowie der Sozialbehörden und aus der Kantonsrätin Anneliese Schüepp-Fischer (1936–2007) zusammen und war damit breit abgestützt. Martin Ungerer und Walter Kutter als sein Stellvertrete übernahmen das Präsidium. Die ersten zwei grossen Aufgaben des Vereins hatten es in sich: Es mussten sofort finanzielle Mittel beschafft und ein neuer Standort für die Fortführung der Notschlafstelle gesucht werden. Letzteres war angesichts der knappen Zeit von lediglich drei Wochen ein ambitioniertes Unterfangen.26
Auf dem ehemaligen Gelände der Ehrsam AG an der Zugerstrasse 52 befand sich im Haus oben links der «Schärme» vom 30. April 1992 bis 30. Juni 1993.

Buchstäblich im letzten Moment fand sich jedoch eine Lösung. Die Firma Ehrsam AG stellte spontan ein leerstehendes Bürogebäude an der Zugerstrasse 52 zur Verfügung. Am 30. April, also am gleichen Tag, als die Stadt die Notschlafstelle an der Oberdorfstrasse schloss, zügelte der «Schärme» Hals über Kopf. Die Obdachlosen konnten dadurch das Angebot beinahe wie gewohnt weiternutzen. Die erste Monatsmiete von 1000 Franken steuerte ein Spender bei27, zahlreiche Wädenswilerinnen und Wädenswiler brachten weiteres Mobiliar, Wäsche und Geschirr vorbei, sodass die Ausstattung den Verein kaum Geld kostete. Von Anfang an stand fest, dass auch diese Liegenschaft nur vorübergehend zur Verfügung stand, da die Überbauung des Areals bereits bestimmt war. Am Ende blieb der «Schärme» bis Ende Juni 1993 an diesem Standort – länger als erwartet.28
Auch finanziell konnte die Fortsetzung des Betriebs sichergestellt werden. Die Stadt sprach einen Betrag von 35‘000 Franken, die Kirchgemeinden von je 15‘000 Franken.
Darüber hinaus kamen an Spende rund 28‘000 Franken zusammen, und das Theater Ticino veranstaltete Spenden-Anlässe. Ausserdem begann der Verein nun damit, bei den Wohngemeinden der Gäste der Notschlafstelle die Kosten in Rechnung zu stellen. Da der symbolisch Übernachtungspreis von fünf Franken selbstverständlich den tatsächlichen Aufwand nicht deckte – eine Übernachtung kam auf rund 65 Franken zu stehen, bedeutete dies für die Finanzen des Vereins eine grosse Entlastung. Ganz allgemein setzte sich diese Praxis allmählich durch, da, wie erwähnt, nur die Wenigsten aus der Region hier Obdach suchten, sondern die Anonymität an einem anderen Ort vorzogen.29

Handwerkliche Arbeit weist den Weg.

Mehr Struktur für den Tag

Am neuen Standort im Ehrsam-Areal begann nun der Vereinsvorstand damit, in hohem Tempo das Angebot auszubauen. Zunächst verpasste man dem Haus mit Unterstützung von drei Drogenabhängigen eine wohnliche Einrichtung und einen neuen Anstrich. Die handwerkliche Arbeit gab ihnen etwas Halt und sie konnten sich ein kleines Taschengeld verdienen. Ab dem 1. September 1992 öffnete im «Schärme» zudem ein Mittagstisch, wo Gäste für fünf Franken eine Mahlzeit erhielten. Unter der Leitung von freiwilligen Helfenden gab es auf diese Weise wieder etwas Beschäftigung für einige Drogenabhängige. Durch das Tagesangebot entstand auch für andere Randständige, deren Probleme mit dem nahenden Winter wieder zahlreicher wurden, eine Anlaufstelle. Nicht jede Schwierigkeit konnte vor Ort gelöst werden; manche Personen wurden an professionelle Stellen oder soziale Institutionen weitergeleitet. Währenddessen blieben die zwölf Betten der Notschlafstelle stets voll ausgelastet.30
Anfang 1993 wurde in Thalwil die Notschlafstelle trotz Nachfrage geschlossen. Die Suche nach geeigneten Räumlichkeiten sowie personelle und finanzielle Probleme hatten die Trägerschaft zermürbt. In Wädenswil hingegen setzte man optimistisch auf einen Ausbau der Tagesstrukturen. Im Februar kam zum Mittagstisch eine kleine Werkstatt hinzu, die wiederum einigen Drogenabhängigen etwas Beschäftigung gab. Dort setzten diese Velos instand; davon waren einige gespendet und konnten frisch hergerichtet an der Velobörse verkauft werden. Ein Koordinator, der in einer 50-Prozent-Stelle angestellt war, organisierte den Betrieb.31
Im Juni 1993 stellte der «Schärme» die Tagestruktur auf professionellere Beine, indem der Verein mit der Stiftung für Soziale Integration und Prävention (SIP) einen Zusammenarbeitsvertrag unterzeichnete. Die Stiftung, 1991 für den Aufbau der «dezentralen Drogenhilfe» im Bezirk gegründet, war dabei für die Administration und die Finanzen zuständig, die Betriebsführung oblag weiterhin dem «Schärme» mit seinen freiwilligen Helfern. Damit sollte in Wädenswil das Projekt «Wohnen & Arbeit» umgesetzt werden, das Teil der dezentralen Drogenhilfe des Bezirks war. Der Kooperation waren im Vorstand intensive Diskussionen vorausgegangen, zumal man befürchtete, stark an Handlungsspielraum zu verlieren. Im Programm standen nun sechs Wohnplätze zur Verfügung, um einen Wiedereinstieg ins Arbeitsleben mit Entzug und anschliessender Therapie zu ermöglichen.32

Angebots-Flyer.
Die «Schärme-Ziitg» informierte die Bevölkerung über die Aktivitäten im «Schärme».

Der «Schärme» kauft zwei Häuser

Im ersten Halbjahr 1993 etablierten sich die Projekte rund um den Mittagstisch und die Werkstatt, und auch um die Finanzen stand es im Allgemeinen dank des Inkassos bei den Herkunftsgemeinden der Benützer recht gut. Dagegen stellte sich je länger desto dringender die Frage nach der Nachfolgelösung für das Haus auf dem Ehrsam-Areal. Der Vorstand prüfte zahlreiche Liegenschaften, fand jedoch auch mit der Hilfe der Stadt vorerst keinen Ausweg. «Um auf Feuerwehraktionen verzichten zu können», wie dies beim ersten Umzug der Fall gewesen war, plante man sicherheitshalber das Gesuch um eine Baubewilligung für eine Containerlösung.33
Durch einen Hinweis eines Vereinsmitglieds wurde der Vorstand jedoch auf zwei Häuser an der Seestrasse 61 und 63 – das ehemalige Restaurant «Gotthard» – aufmerksam, die für insgesamt rund eine Million Franken zum Verkauf standen. An einer ausserordentlichen GV Anfang Juni 1993 gab die Versammlung den Auftrag, Gespräche für den Erwerb der Doppelliegenschaft zu führen.34
Der Mittagstisch gehörte ab 1992 zu den beständigsten Angeboten des «Schärme».
Bis zur öffentlichen Versteigerung – für das hintere Haus war das Konkursamt, für das vordere das Betreibungsamt zuständig – sollten in der Zwischenzeit Mietverträge abgeschlossen werden.35
Nach einer kurzen Verschnaufpause nach dem Auszug vom Ehrsam-Areal im Juni konnte der neue Standort im Oktober bezogen werden. Im vorderen Haus wurde die Tagesstruktur – Mittagstisch und Werkstatt – eingerichtet, hinten dienten die Räumlichkeiten der Notschlafstelle. Da die beiden Objekte mit Baujahr 1880 recht heruntergekommen waren, standen zunächst Umbauarbeiten an. Diese sollten mit Hilfe der «Schärme»-Benützer bewältigt werden, was wiederum eine willkommene Beschäftigung darstellte. Inzwischen sammelten die Vereinsmitglieder die für einen Kauf notwendigen 200‘000 Franken Eigenkapital. Ausserdem signalisierte die Stadt die Bereitschaft, später die Liegenschaft vom Verein abzukaufen.36 Am 11. Januar 1994 konnte schliesslich das eine, am 8. Juli desselben Jahres das andere Haus erworben werden.37
Vom 28. Oktober 1993 bis 1. April 1995 war der «Schärme» an der Seestrasse 61/63 im Gotthard-Haus.


Das Ende der Notschlafstelle

Anfang 1994 wurde nun auch die Notschlafstelle der Stiftung SIP unterstellt, ebenso wie die anderen Notschlafstellen im Bezirk Horgen. Die Organisation sorgte wiederum für finanzielle Absicherung, was gerade wegen der Lohnzahlungen vorteilhaft war; die Betriebsführung lag nach wie vor in den Händen des Vereins. Im Allgemeinen verzeichneten die Notschlafstellen der Region nicht mehr eine so hohe Auslastung wie noch ein Jahr zuvor. Die nunmehr sechs Plätze und zwei Reserveplätze fanden jedoch regelmässig ihre Abnehmer, nun vermehrt auch durch obdachlose Arbeitslose. Neu wurde festgelegt, dass sich die Bewohner maximal drei Monate in der Notschlafstelle aufhalten durften. Es waren also nicht mehr so viele verschiedene Gäste, sondern öfters «Stammkunden» im «Schärme». Im Projekt «Wohnen und Beschäftigung» galt die Frist von einem halben Jahr.38
Im Vergleich zu den Anfängen der Notschlafstelle machten sich also Veränderungen sowohl im organisatorischen Bereich, als auch bei den Schwerpunkten der Arbeit bemerkbar. Nach mehr als zwei Jahren Betrieb zeigten sich zudem bei den zahlreichen freiwilligen Helfern Ermüdungserscheinungen. Im Juni 1994 waren es nur noch rund 30 Personen, welche die Betreuung unter sich aufteilten. Besonders die Morgenschicht, während der die Bewohner geweckt, für die «Ämtli» animiert und zum Gehen bewegt werden mussten, war aus naheliegenden Gründen nicht sehr beliebt.39 Gegen Ende des Jahres sank zudem die Nachfrage im Projekt «Wohnen und Beschäftigung», was sich auch finanziell negativ auswirkte, da leere Plätze keine Kosten deckten. Vorerst entschied sich der Vorstand jedoch, die Entwicklung abzuwarten, denn in Zürich bahnte sich ein Ereignis an, dessen Folgen kaum abzuschätzen waren: Die Schliessung der Drogenszene auf dem Letten-Areal.40 Nach der Aufhebung des Platzspitzes hatte sich das Geschehe auf den Letten verlagert, wo das Elend ein noch erschreckenderes Ausmass annahm als zuvor auf der anderen Seite der Limmat. Im Gegensatz zur Räumung drei Jahre zuvor, erfolgte die Aufhebung des Letten Mitte Februar 1995 jedoch einerseits besser geplant und weniger plötzlich, andererseits hatten sich unterdessen zahlreiche Angebote etabliert, welche die betroffenen Personen besser auffingen.41
Dazu gehörte eine Politik, die vermehrt auf diese sozialen Netze setzte und zudem mehrheitlich die Abgabe von sauberem Injektionsmaterial befürwortete. Ausserdem trieb man die Methadonprogramme voran. Letzteres wurde im Bezirk Horgen Anfang 1995 diskutiert. Es war geplant, in Thalwil, einen Ort für die sogenannte kontrollierte Drogenabgabe zu schaffen und zugleich Plätze für ein Methadonprogramm einzurichten. Das Ganze sollte unter der Trägerschaft der Stiftung SIP zu stehen kommen.42 In Sachen Abgabe von hygienischen Spritzen und anderen Utensilien stellte sich das «Schärme»-Team stets auf den Standpunk damit keine Drogensucht zu begünstige sondern vielmehr ansteckenden Krankheiten vorzubeugen. Mit sauberem Material konnte die Übertragung von HIV – und als Folge davon Aids – oder Hepatitis verhindert werden. Aus diesem Grund nahm der Kanton am 22. Februar 1995 gegenüber der Wädenswiler Bahnhofapotheke einen «Flash-Automat» in Betrieb, bei dem für drei Franken die notwendigen «Fixerutensilien bezogen werden konnten.»43
Trotz Letten-Schliessung sank Anfang 1995 die Nachfrage nach den Plätzen in der Notschlafstelle gegen Null, und immer öfter blieben die Betten ganz leer. Warum?
Der «Flash-Automat» am Bahnhof stellte hygienische Spritzen zur Verfügung, um HIV-Infektionen vorzubeugen.

Viele der Gäste hatten Aufnahme in Wohnprogrammen gefunden, einige waren an den Folgen der Abhängigkeit gestorben. Dazu nahm das Projekt von Pfarrer Sieber in Kollbrunn über 50 Drogenkranke auf, was zu einer Abnahme der Besucherzahlen an anderen Orten führte. Der Vorstand entschied deshalb, die Notschlafstelle am 31. März 1995 nach drei Jahren Betrieb zu schliessen.44
Der weitere Vereinsverlauf sei nur in aller Kürze erzählt. Weitere Veränderungen standen nun an. Die Stiftung SIP plante, die Drogenthematik einer neuen Organisation zu übergeben, dem Zweckverband «Soziales Netz», wodurch die bisherige Zusammenarbeit aufgehoben würde. Deswegen, und aufgrund der zunehmenden Professionalisierung des Angebots und der gleichzeitigen Abnahme freiwilliger Mitarbeit, entschied sich der Verein, seine Tätigkeit im Bereich Drogen zu beenden.
Gleichzeitig stand der Vorstand in Verhandlungen mit der Stadt wegen der Übernahme der Liegenschaften, der die Mitglieder im September 1995 zustimmten.45 1996 wurde dieser Schritt vollzogen. Man stellte fest, dass bei den meisten Mitgliedern «die Luft draussen ist». Dennoch suchte man neue Projekte, denen der Verein nachgehen konnte.46 In der Folge entschied man sich, Unterstützung für Stellensuchende zu bieten. Im Projekt «Waedi-Net» standen den Besuchern in einem Büro gratis moderne Computer-Arbeitsplätze zur Verfügung, die bereits Internet-Zugang hatten.47 Nachdem dieses Angebot an Nachfrage verlor, wurden die Aktivitäten ab 2003 eingestellt. An der GV am 10. März 2010 lösten die verbliebenen Mitglieder den Verein auf48, 2011 wurde er schliesslich aus dem Handelsregister gelöscht. Vom übrig gebliebenen Geld profitierten Arche Zürich und die Stiftung von Pfarrer Sieber.

Mit diesem Logo war der Verein «Schärme» von 1992 bis 2003 aktiv.




Christian Winkler

Anmerkungen

1 Einen fundierten Überblick über die politischen Prozesse gibt die vierteilige Serie von Michèle Binswanger im Tages-Anzeiger: «Das Platzspitz-Trauma», 16.–20.5.2014; https://files.newsnetz.ch/ extern /storytelling /platzspitz/.
Ausserdem dienen die folgenden Beitrtäge als gute Zusammenfassungen der Zürcher Drogenproblematik: Martin Huber. Der «Needle-Park» als Wendepunkt, in: Tages-Anzeiger, 1. Februar 2012, S. 13. Andre Seidenberg. Als das Heroin Zürich im Griff hatte, in: NZZ, 4. Februar 2012, online: https./www. nzz.ch/als_das_heroin_zuerich_im_griff_hatte- 1.14765790.
Peter Grob. Zürcher «Needle-Park»: Ein Stück Drogengeschichte und -politik, 1968–2008, Zürich 2012.
2 Binswanger, Platzspitz-Trauma.
3 AAZ, 28.11.1991, S. 17.
4 AAZ, 28.11.1991, S. 17.
5 Grob, Zürcher «Needle-Park», S. 84.
6 AAZ, 24.12.1991, S.13.
7 AAZ, 8.12.1991, S. 15.
8 Trudi Rota. Schärme, «ein Dach über dem Kopf», in Jahrbuch der Stadt Wädenswil 1992, S. 75/76.
9 AAZ, 24.12.1991, S. 13.
10 AAZ, 15.1.1992; Rota, Schärme, S. 75.
11 Wochen-Post am Zürichsee, Nr. 3, 23.1.1992, S. 1f.
12 Wochen-Post am Zürichsee. Nr. 3, 23.1.1992, S. 1f.
Auch Horgen, Thalwil und Adliswil hatten Notschlafstellen eingerichtet.
13 AAZ, 30.1.1992, S. 5.
14 AAZ,15.1.1992.
15 Beitrag im «10vor10», ausgestrahlt am 4. Februar 1992. Weitere lmpressionen aus dem Leben im Schärme gibt: Verein Schärme Wädenswil (Hg.), Drogen-Journal: Ein Dokument aus der Notschlafstelle Schärme Wädenswil. Wädenswil 1995.
16 Wochen-Post am Zürichsee. Nr. 3, 23.1.1992, S. 1f.; AAZ, 28.1.1992.
17 Martin Kopp. Herausforderungen diakonischen Handelns. Vortrag anlässlich der Impulstagung des Seelsorgerates des Kantons Zürich im Centrum 66 am 13. April 2013. DOZ, ZA 11:18.
18 AAZ, 8.2.1992, S. 5.
19 AAZ, 5.2.1992.
20 AAZ, 11.2.1992.
21 AAZ, 26.3.1992, S. 17.
22 Grob, Zürcher «Needle-Park», S. 98; «Drogen», in e-HLS, http://www.hls-dhs-dss.ch/textes/d/D16557. php
23 AAZ, 4.6.1992.
24 AAZ, 10.6.1992
25 Rota, Schärme, S. 76; AAZ, 3.4.1992.
26 AAZ, 9.4.1992; Vereinsstatuten Schärme Wädenswil vom 6 April 1992, DOZ ZM 62; Portrait 25 Jahre danach: ZSZ, 21.4.2017.
27 AAZ, 7.5.1992, S. 21.
28 Verein «Schärme Wädenswil»: Jahresbericht 1993, Ausblick 1994, S. 16ff.
29 Verein «Schärme Wädenswil», S. 16; ZAA, 9.7.1992; Protokoll der Vorstandssitzung vom 8. Juli 1992, Archiv Verein Schärme, DOZ, ZM 62.
30 AAZ, 4.9.1992; Verein «Schärme Wädenswil», S. 16f.
31 Tages-Anzeiger, 18.2.1993; Verein «Schärme Wädenswil». S. 17.
32 Verein «Schärme Wädenswil», S. 7. Protokoll der Vorstandssitzung vom 13. April 1992, Archiv Verein Schärme, DOZ, ZM 62.
33 Protokoll der Vorstandssitzung vom 8. Februar 1993, Archiv Verein Schärme, DOZ, ZM 62.
34 Protokoll der ausserordentlichen Generalversammlung vom 9. Juni 1993, Archiv Verein 5chärme, DOZ, ZM 62.
35 Protokoll der Vorstandssitzung vom 24. August 1993, Archiv Verein Schärme, DOZ, ZM 62.
36 AAZ, 11.6.1993; AAZ, 27.10.1993.
37 Drogen Journal, S. 67.
38 AAZ, 9.3.1994; Protokoll der Vorstandssitzung vom 4. Januar 1994, Archiv Verein Schärme, DOZ, ZM 62.
39 AAZ, 21.06.1994.
40 Protokoll der Vorstandssitzung vom 2. November 1994, Archiv Verein Schärme, DOZ, ZM 62.
41 Binswanger, Platzspitz-Trauma.
42 AAZ, 1.2.1995.
43 AAZ, 23.2.1995. Zum Präventionsprogramm mit Spritzenabgabe in Zürich vgl. Grob, Zürcher «Needle-Park».
44 Protokoll der 5. Betriebskommissionssitzung vom 6. Februar 1995, Archiv Verein Schärme, DOZ, ZM 62; Wädenswiler Nachrichten, 5.4.1995.
45 Protokoll der ausserordentlichen Generalversammlung vom 27. September 1995, Archiv Verein Schärme, DOZ, ZM 62.
46 Protokoll der Vorstandssitzung vom 10. April 1996, Archiv Verein Schärme, DOZ, ZM 62.
47 Vorstandsprotokolle 1996–1998, Archiv Verein Schärme, DOZ, ZM 62.
48 Auskunft Walter Kutter am 30.8.2017; Protokoll der GV vom 10. März 2010, Archiv Verein Schärme, DOZ, ZM 62.