«Der Aufbruch der Frauen auf ihren eigenen Weg»

Quelle: Jahrbuch der Stadt Wädenswil 1986 von Renate Knoll

Die dritte Legislaturperiode des Wädenswiler Gemeindeparlamentes gehört der Vergangenheit an. In all diesen Jahren sind viele Sachgeschäfte und persönliche politische Vorstösse behandelt worden. Auch das vergangene Amtsjahr war mit elf Sitzungen, davon sechs Doppelsitzungen, eine aktive Periode.
Carl J. Burckhardt, der bekannte Historiker und Schriftsteller, sagte einmal: «Politik ist die schwierigste aller menschlichen Künste». Lösungen zu finden und Entscheidungen treffen, ist nicht immer einfach. Im Moment des Entscheidens kennt der Politiker die Zukunft nicht. Das Rad der Zeit dreht sich immer schneller, und die Fragenkomplexe verändern sich im Nu. Das Risiko eines gewissen Misserfolges kann somit nie ganz ausgeschlossen werden. Wo jedoch Einsatz geleistet wird und Entscheidungen getroffen werden, liegen Erfolg und Misserfolg nahe beieinander. Durch Misserfolge darf jedoch keinesfalls Misstrauen entstehen. Letzteres vergiftet die Atmosphäre und erschwert das Finden gemeinsamer Lösungen. Es soll hier nicht dem blinden Vertrauen das Wort geredet werden. Aber wir im Rat durften bei den Wahlen vor vier Jahren das Vertrauen der Wädenswiler Bevölkerung erfahren, und es liegt somit an uns, uns dieses Vertrauen würdig zu erweisen.
Seit dem Übergang von der «öffentlichen Gemeindeversammlung» zum Parlament im Jahre 1974 wurde der Rat von Männern präsidiert. Für das Amtsjahr 1985/86 wurde erstmals für diesen Posten eine Frau gewählt. Noch ist das weibliche Geschlecht auch in unserem Parlament in starker Minderheit, und das damalige Ergebnis kann als Dank für die in der Öffentlichkeit tätigen Frauen schlechthin, aber auch als weiteren Schritt in der partnerschaftlichen Zusammenarbeit zwischen Mann und Frau betrachtet werden.
Unser Jahrhundert hat tiefgreifende gesellschaftliche Veränderungen gebracht, und auch die Situation der Frau hat sich gewandelt. Durch die bessere Ausbildung stehen ihr heute vermehrte Türen offen. Die Industrialisierung, die Kleinfamilien und die höhere Lebenserwartung geben neue Kräfte frei, die anderweitig eingesetzt werden können.
Durch die Einführung des Frauenstimmrechtes im Jahre 1971 wurde es auch der Frau möglich gemacht, in die Politik einzusteigen. In unserem Land sind Traditionen jedoch sehr stark verankert, und es ist nicht leicht, alte Gesetze in kurzer Zeit über Bord zu werfen und aus den über Jahrhunderte vorgeschriebenen Rollennormen auszubrechen. Frauen und Männer tun sich schwer damit.
Stadtrat Wädenswil, 1986
Von links nach rechts, vordere Reihe: Hans Schulthess, Trudi Rota, Stadtpräsident Walter Höhn, Isabel Schaltenbrand, Abri Bislin.
Hintere Reihe: Jakob Hauser (Stellvertreter des Stadtschreibers), Paul Huggel, Ernst Hitz, Hans Ruedi Maurer (Stadtschreiber), Dr. Bruno Lang, Dr. Bruno Ern, Jakob Züblin (Stellvertreter des Stadtschreibers).
 
Nach Erich Fromm, dem Sozialpsychologen, ist eines der wichtigsten Ereignisse des 20. Jahrhunderts «Der Aufbruch der Frauen auf ihren eigenen Weg». Diesen Weg zu finden, ist jedoch nicht immer einfach, und die Frauen müssen sich vermehrt fragen: wer bin ich, und was will ich? Dies besonders, wenn es heisst, zwischen Mutterschaft und Berufstätigkeit zu wählen, oder auch, wenn nach der familiären Phase wieder Zeit für Tätigkeiten ausserhalb der Familie frei wird. Ob man nun zurück in den Beruf geht, ob man sich für Aufgaben in der Gemeinde einsetzt, sei dahingestellt. Wichtig ist, dass Frauen an der Gestaltung dieser Welt mitwirken.
Der Einstieg in die Politik ist eine Möglichkeit, sich aktiv am Geschehen in dieser Welt zu beteiligen. Der Gedanke, sich politisch zu betätigen, ist vielen Frauen noch fremd. Es ist jedoch ausserordentlich wichtig, dass Frauen ihre Erfahrungen, Ideen und Überzeugungen in politischen Fragen einbringen. Sie sehen eine Sache oft aus einem anderen Gesichtswinkel, setzen andere Prioritäten und gewichten dadurch ein Problem anders. Auch urteilen sie ganzheitlicher und beziehen den Mitmenschen in die Überlegungen ein. Die mitmenschlichen Beziehungen sind für sie wichtig.
So sollten Sachlichkeit und Realität mit Mitfühlen und Wärme verbunden werden, da beides wichtig und erforderlich ist. Auf der einen Seite brauchen wir Verstand und Durchsetzungsvermögen, um einer Sache zum Durchbruch zu verhelfen. Andererseits ist aber auch Anteilnehmen, sich in die Situation des anderen Einfühlen und Verständnis zeigen können, von grösster Wichtigkeit und Voraussetzung, um menschlich gerechte Lösungen zu treffen. Die mangelnde Fähigkeit der Kommunikation und der Identifikation mit dem Mitmenschen sind häufig ein Grund dafür, dass aneinander vorbeigeredet wird, dass man sich nicht versteht. Dabei spielt sicher die Familie eine bedeutende Rolle. Hier können mitmenschliches und soziales Interesse und Verhalten gelernt und gefördert werden. Die Familie wurde nicht umsonst schon von den Römern als «Staat der Kleinen» bezeichnet. Hier, wie auch in der Politik, ist es wichtig, dass wir wieder lernen, aufeinander zuzugehen, den Partner und Mitmenschen ernst nehmen und den eigenen Egoismus hintanstellen. Wer Familie und Gesellschaft dienen will, stellt die eigene Person hinter die Sache zurück. Das Wohl der Gemeinschaft – das Wohl aller Menschen, die in dieser Gemeinschaft leben -, ist entscheidend.
Sitzen wir nicht alle im gleichen Boot, und sind wir nicht alle aufeinander angewiesen? Wir brauchen unsere ältere Generation, um von ihren Lebensweisheiten und Erfahrungen profitieren zu können. Wir brauchen die Jungen, um von ihrer Ideenvielfalt, Begeisterung und Spontanität angesteckt zu werden. Es gibt keinen Zweifel: jeder braucht jeden.




Renate Knoll
Gemeinderatspräsidentin 1985/86