Aus der dritten Stadt am Zürichsee

Quelle: Jahrbuch der Stadt Wädenswil 2010 von Thomas Hartmann
 
Der «neue» Gemeinderatspräsident ist bereits seit mehr als einem halben Jahr im Amt, wenn der «alte», nicht mehr amtierende Gemeinderatspräsident, die Ehre erhält, auf den ersten Seiten des Wädenswiler Jahrbuches seine Gedanken zum verflossenen Präsidialjahr kundzutun.
Was geschah denn in meinem Präsidialjahr 2009/10 in Wädenswil? Darüber informieren Sie sich am besten in der lückenlosen Chronik von Peter Ziegler im hinteren Teil dieses Jahrbuches. Was aber hat uns wirklich beschäftigt? Sicher die Schweinegrippe! Schon vergessen? In der Schweiz starben an dieser zur Pandemie ausgerufenen Krankheit neun Menschen. Was einem Anteil von bis zu zwei Prozent aller Grippeopfer in den vergangenen Jahren entspricht.
Ebenso stark beschäftigten uns die vier Minarette, die in der Schweiz in die Luft ragen. Wohl Grund genug, gegen solche Auswüchse verschärfte Bauvorschriften in die Bundesverfassung zu schreiben. Am gleichen Tag, als sich das Volk für ein Minarettverbot entschied, beschloss es auch, sich weiterhin am internationalen Kriegsmaterialhandel zu beteiligen. Es lässt sich nicht abstreiten, dass 2009 weniger Menschen im Krieg als an Hunger starben. Jährlich verhungern zehn Millionen Menschen, schätzt die UNO.

Thomas Hartmann, Gemeinderatspräsident 2009/2010.

Wie stark uns die vier Minarette, die neun Schweinegrippetoten und die zehn Millionen Verhungerte beschäftigten, spiegeln die Medien. Und was während meines Präsidialjahres den Weg in die Medien fand, wird von der Schweizer Mediendatenbank registriert: Das Wort «Hunger» tauchte dort in 5500, «Minarett» in 6200 und das Wort «Schweinegrippe» in 7900 Beiträgen auf.
Von den 1,5 Millionen Schweinen in der Schweiz leben die meisten in Mastbetrieben. Dort fressen sie das Getreide, das sich die Hungernden nicht leisten können. Während meines Präsidialjahres verhungerte in der Schweiz kein einziges Schwein.
 

VERANTWORTUNG DER MEDIEN

Ohne die Aufmerksamkeit von Journalistinnen und Journalisten wäre ich nicht zu diesen Informationen gekommen. Ich habe sie der Presse entnommen. Darum ist es mir wichtig, dass die Medien nicht in erster Linie Stories transportieren, sondern Inhalte. Besonders die Berichterstattung aus der Politik darf nicht zum Skandal-Journalismus verkommen. Reisserische Geschichten über einzelne Politiker verführen vielleicht zum Lesen. Es ist bekannt, dass die Presse um ihr Überleben kämpft. Trotzdem ist sie dafür verantwortlich, dass nicht nur über« Glanz und Gloria» oder« Unfälle und Verbrechen» berichtet wird; sondern vor allem über die geführte oder verweigerte politische Debatte!
Ich wurde nicht in Wädenswil geboren. Für mich war Wädenswil vor 15 Jahren nur eine Schiffstation. Ich habe meine ersten 40 Jahre in Wallisellen gelebt. Ich bin auch nicht Bürger von Wädenswil. Darum war es für mich ein ganz spezieller Moment, als ich für ein Jahr ins höchste Amt dieser Stadt gewählt wurde. Das darf wohl als grosse, integrative Leistung bezeichnet werden. Wie kann man sich also am schnellsten und einfachsten in Wädenswil integrieren? Indem man in eine Wädenswiler Partei eintritt, in Wädenswil Politik macht und so seine neue Heimat mitgestaltet. Ebenso wichtig ist aber, dass die schon hier lebenden Wädenswiler einem Politik machen lassen. So kann man sich integrieren und so wird man integriert.
 

Stimm- und Wahllokal im Stadthaus an der Florhofstrasse 6.

IN WÄDENSWIL ZUHAUSE

Wädenswil ist kein Vorort von Zürich, sondern entwickelt sich zu einem regionalen Zentrum, zur dritten Stadt am Zürichsee. Zu dieser Entwicklung gehört, dass das soziale Mosaik unserer Gemeinde immer bunter wird. Unsere Stadt setzt sich immer mehr aus Minderheiten zusammen: «Aus unterschiedlichsten Lebenswelten», wie Hugo Loetscher das einmal beschrieben hat. Ich denke, wir als Mitglieder des Gemeinderates können unserer Aufgabe nur gerecht werden, wenn wir diesen «unterschiedlichen Lebenswelten» unseren Respekt entgegenbringen und Freude an der Vielfalt haben. Politik auf Kosten von Minderheiten ist abzulehnen – ich meine das nicht nur als Sozialdemokrat, sondern auch als einer von jenen, die in Wädenswil stimmberechtigt sind, ohne Bürger dieser Stadt zu sein. Ausgrenzung, Diskriminierung oder Diffamierung einzelner Gruppen, die unsere Stadt mitgestalten wollen, sind zu verurteilen, denn sie führen zu Ablehnung und Hass und zur Zerstörung dessen, was eine bunte und farbige Stadt ausmacht.
Für diejenigen, die es nicht gemerkt haben: Ich denke ans Stimm- und Wahlrecht der Wädenswilerinnen und Wädenswiler ohne Schweizer Pass, die mit ihren Steuern einen Beitrag zum Funktionieren unserer Stadt leisten. Die mit ihrem Engagement in Vereinen und Organisationen zum Zusammenhalt unserer Gemeinschaft beitragen und die mit ihrer Arbeitskraft mithelfen, dass es uns gut geht. Öffentliche Einrichtungen wie die Frohmatt, das Spital Zimmerberg, die städtischen Werke und noch viele andere müssten morgen ihren Betrieb einstellen ohne Arbeitskräfte aus dem Ausland.
Ich denke auch an das Stimm- und Wahlrechtsalter 16. Trotz meiner grauen Haare erinnere ich mich noch gut, wie gerne ich bereits mit 16 mitbestimmt hätte. Ich habe damals noch vier weitere Jahre warten müssen, weil zu jenem Zeitpunkt nicht einmal 18-Jährige das Stimm- und Wahlrecht hatten. Natürlich würden nicht alle 16-Jährigen stimmen und wählen gehen, aber das macht ja auch keine Mehrheit der über 20-Jährigen. Trotzdem kommt niemand auf die Idee, ihnen dieses Recht wegzunehmen.
 

DEMOKRATIE BRAUCHT RESPEKT

Etwas lag mir als Parlamentspräsident besonders am Herzen: Der Gemeinderat handelt nicht im luftleeren Raum. Der Rat ist an die Gemeindeordnung und an die Kantons- und Bundesverfassung gebunden. Diesen Verfassungen ist in verschiedenen Volksabstimmungen zugestimmt worden. Respekt vor der Verfassung heisst darum auch Respekt vor dem Volkswillen.
Wir Lokalpolitiker wollen jenen nicht Recht geben, die Menschen in politischen Ämtern ständig schlechtreden. Wer seine Kraft und seine Zeit für ein Trinkgeld der Allgemeinheit zur Verfügung stellt, verdient Anerkennung und Aufmunterung. Ich habe es für meine Pflicht als Gemeinderatspräsident gehalten, diese Wahrheit immer wieder zu betonen.
 

DEMOKRATIE BRAUCHT PARTEIEN

Entgegen einem weit verbreiteten Vorurteil sind politische Parteien wichtiger denn je, auch wenn man meinen könnte, ihre Bedeutung nehme immer weiter ab. Die Aufgabe der Parteien, Instrumente einer zuverlässigen Willensbildung zu sein, ist für eine funktionierende und lebendige Demokratie unverzichtbar. Eine Alternative zu den Parteien, welche die unterschiedlichsten Interessen bündeln und in konkrete Massnahmen umsetzen, ist weit und breit keine in Sicht. Es ist darum unsere Pflicht, klare Entscheide zu fällen und dann zu versuchen, diese mit Mut und Engagement gegen Einzelinteressen durchzusetzen.
Die politische Auseinandersetzung muss spannend, kontrovers, sachbezogen, aber selbstverständlich auch mit Freude und manchmal sogar polemisch geführt werden. Parteien brauchen scharfe Profile, unverwechselbare Identitäten und deutliche inhaltliche Abgrenzungen. Erst eigenständige, klar formulierte Ausgangspositionen schaffen die Voraussetzung für tragfähige Lösungen und ehrliche Kompromisse. Der Kompromiss steht darum am Ende und nicht am Anfang jeder Auseinandersetzung.
 

DEMOKRATIE BRAUCHT DAS GESPRÄCH

Zum Schluss meiner Gedanken zum verflossenen Jahr möchte ich eine kleine Geschichte aufschreiben, die zeigen soll, wie wichtig das Reden von Klartext in der Politik ist:
Vor über 3000 Jahren hat in einem erloschenen Vulkan auf einer Insel im östlichen Mittelmeer das Volk der Ektier gelebt. Ihre Sprache, das Ektische, gehört heute zu den ausgestorbenen Sprachen. Das Ektische hat nur zwei Wörter gekannt: Mmh und Sagskrüpskrobselenbäkirks. «Mmh» ist männlich und kann am besten mit «Was-ist-denn-jetzt-schon-wieder-los» übersetzt werden. «Sagskrüpskrobselenbäkirks» ist weiblich und heisst: «Nichts».
Das Volk der Ektier lebte in seinem Vulkankegel ohne grosse Kontakte mit dem Festland. Es war arbeitsam und friedfertig. Plötzlich schlug aber die Stimmung auf der Insel um. Immer öfters bebte die Erde, und aus einzelnen Erdspalten begann es fürchterlich zu stinken. Als das Rumpeln im Inneren des Vulkans immer grösser und unheimlicher wurde, versammelte sich das verunsicherte Volk vor dem Ratshaus, um dort mit dem lauten Ruf: «Mmh! Mmh! Mmh!» zu demonstrieren. Nach kurzer Zeit trat ihr Präsident auf den Balkon, hob beruhigend seine Arme, und sagte das Einzige, das er wusste: «Sagskrübskrobselenbäkirks!» Seit diesem Zeitpunkt gilt das Ektische als ausgestorbene Sprache.
Diese Geschichte ist eine der vielen Wegwerfgeschichten, wie sie Franz Hohler gerne vorliest. Ich habe diese von Hohler weggeworfene Geschichte im Rahmen meiner Antrittsrede im März 2009 wieder aufgenommen und noch einmal vorgelesen. Seit dem Vulkanausbruch auf Island anfangs 2010 hat sie noch mehr an Aktualität gewonnen.
Unsere Gemeinde ist ein wunderbarer Ort, auch im schweizweiten Vergleich. Nicht nur als Wohn- und Bildungsstadt. Zu verdanken hat dies Wädenswil weitsichtig denkenden und handelnden Frauen und Männern, die sich an den unterschiedlichsten Orten engagiert haben und immer noch engagieren: in den Schulen, Kirchen und Vereinen, in Gewerkschaften, Verbänden und politischen Parteien. Lässt dieses Engagement nach, verliert Wädenswil mehr als nur ein paar Politiker. Die Stadt verspielt ihre Zukunftsfähigkeit. Stellen wir uns also gemeinsam unserer Verantwortung!



Thomas Hartmann, SP, Gemeinderatspräsident 2009/10