1917-2017 / 100 Jahre «Simongut» 1977-2017 / 40 Jahre Bildungszentrum «Vordere Au»

Quelle: Historische Fakten 2017 von Christian Müller
 
Die Geschichte des Landsitzes auf der Vorderen Au ist mancherlei Beziehung bemerkenswert. Heute beherbergt es das Bildungszentrum des Kanton Zürich. In früherer Zeit befand sich das Grundstück schon einmal im Besitz des Staates. Die Regierung wusste mit diesem Stück Land jedoch wenig anzufangen und beschloss 1840, sechs Jucharten an den Bauern Caspar Blattman im Steinacher auf der Au abzutreten. Es entstanden in der Folge zwei Wohnhäuser und eine Scheune.
Der nachfolgende Besitzer Rudolf Streuli verkaufte 1893 an den Zürcher Arzt Theodor Egli-Sinclair. In der Wädenswiler Gemeindekarte von 1900 sind die nun nicht mehr landwirtschaftlich genutzten Bauten eingezeichnet. Die Bezeichnung «Villa» weist auf neue Verwendungszwecke hin. Von 1912 bis 1914 gehörte die Vordere Au einer Luisa Zadra-Nabholz. Sie veräusserte den Besitz 1914 dem Juristen Charles Simon. Dieser liess die alten Bauten abbrechen und während des Ersten Weltkrieges nach den Plänen des Basler Architekten Emil Faesch (1865-1915) ein herrschaftliches Haus mit Parkanlagen erstellen, das «Simongut».
 
Dr. Charles Simon (1862-1942) kommt als Sohn eines protestantischen Pfarrers und der Schweizerin Louise Appenzeller in Paris zur Welt, wächst in Mutterhaus/Niederbronn im Elsass auf. Er studiert Recht in Strassburg, Heidelberg und Genf.
Bereits zu Beginn seines dritten Lebensjahrzehnts, ist er Chef der kleinen Strassburger Feuerversicherung «Alsatia». 1895 holt die Schweizerische Rückversicherung den gerade mal 33-jährigen als Vize nach Zürich. Nur fünf Jahre später wird er Direktor und 1919 Verwaltungsratspräsident und ist massgeblich am Aufbau der Firma zu einem internationalen Konzern mit Weltgeltung beteiligt.
1896 heiratet er Marguerite Kablé die Tochter des Patrons eines angesehenen Handelshauses in Le Havre an der Atlantikküste. Mit ihr hat er zwei Kinder. Tochter Jeanne und Sohn Pierre, welcher ebenfalls einmal Direktor der Schweizerischen Rückversicherung werden sollte. 1915 erwirbt er die Schweizer Staatsbürgerschaft.
 
Charles Simon beherrscht vier Sprachen und gilt als Freund und Kenner der Literatur. In seiner Bibliothek stehen unzählige Klassiker. Bevorzugte Lektüre sind Werke von Goethe, Jakob Burckhardt und ganz besonders des französischen Romanciers Marie-Henri Stendhal (1783-1842). Er analysiert dessen Schaffen immer wieder von neuem und als am 5. Mai 1934 das Musée Stendhal in Grenoble eröffnet wird, hält Simon die Festrede. Für seine Forschungsarbeiten auf diesem Gebiet wird er von der Universität Zürich mit dem Doktor honoris causa geehrt.
 
Das Simongut wird dank seiner reichen Bibliothek, den auserlesenen Kunstgegenständen und dem fürsorglichen Walten von Marguerite Simon, zu einem Treffpunkt vieler Gelehrten, Dichtern, Historikern und Diplomaten. Hier verkehrt Carl Jakob Burckhard, der Dichter Richard Dehmel, der Bergschriftsteller Dr. Andreas Fischer, der Philologe Ernst Howald, der Zoologe Paul Strohl. Zu den Gästen der Familie Simon zählt auch der Schriftsteller Thomas Mann. In seinem Tagebuch notierte jener am 31. August 1935: «Mittags per Wagen zum Bellevue, wo wir Beidlers (Enkel von Richard Wagner) aufnahmen und mit ihnen an die andere Seite des Sees, gegenüber Stäfa, zum Besuch des Präsidenten Simon und seiner Tochter fuhren. Prächtige Besitzung, reiches Haus. Déjeuner und Aufenthalt im Garten am See.»
 
Auch der Schweizer Historiker Ernst Gagliardi (1882-1940) ist ein Freund Simon’s. Wie kommen die beiden Männer zusammen? Durch die Bibliophilie, sagt Charles Simon: «Ich hatte mich an ihn gewandt wegen eines seltenen Buches aus der Reformationszeit und er gab mir die gewünschte Auskunft. Wir lernten uns später persönlich kennen, als Teilnehmer einer vom Journal de Genève organisierten Reise nach Griechenland.»
Von da an gehörte Gagliardi zu dem Kreise, der sich, wie Simon einmal niederschreibt: « ….. an Sonntagen zur geselligen Speiserunde einfand, um ernste, heitere Gespräche zu führen.» Die Gäste sind, meint er: «…..freien Geistes, von Liebe zur Literatur, zur bildenden Kunst und zu allem Schönen erfüllt. Gagliardi wie auch ich zur Musik. Man erging sich an den Gestaden des Sees im Anblick einer Landschaft, die zu den köstlichen zählt.»
 
Alpinismus ist sein Lebenselexier. Kaum ein Wochenende vergeht, an dem er sich nicht in seinen geliebten Bergen aufhält. Während des 1. Weltkrieg ist sein Radius jedoch auf die Schweizer Alpen begrenzt, wo er so manchen Viertausender besteigt. So gelingt ihm zusammen mit einem Zermatter Führer die Winter-Erstbesteigung des Matterhorns. Uns selbstredend steht er eines Tages auf dem Mont Blanc, dem höchsten Berg Europas.
In seinem Buch ERINNERUNGEN UND GEDANKEN EINES ALTEN BERGSTEIGERS schildert Simon, wie er als 18-jähriger mit 300 Franken im Sack zur ersten mehrwöchigen Bergfahrt auszieht, um die Schweizer Berge zu entdecken. Manche Gipfel sind damals noch unbestiegen und ins Zielgebiet gelangt man mit der Postkutsche. Der Gotthard-Tunnel ist eben erst eröffnet worden.
Bis zu seinem 70. Alterjahr hat er den Alpenbogen durchwandert und durchklettert. Natur, Berge, Arbeit und Familie bilden für ihn eine Einheit. «Wenn ich meinen Grabspruch selber verfassen könnte, würde ich folgende Worte eingravieren lassen», sagt er einmal zu einem Bergsteigerkollegen: «Il était père de famille par amour, réassureur par nécessité et alpiniste par passion.»
Als es ihm altershalber versagt ist weiterhin Berge zu besteigen, lässt er sich von Luftfahrtpionier Walter Mittelholzer mehrmals über die Alpen bis hinunter in den Dauphiné fliegen, um ihnen nahe zu sein und die von ihm erklommen Gipfel von oben zu sehen.
 
Am Tage nach seinem 80. Geburtstag, am 25. März 1942, lässt er seinen Bergfreund König kommen, um mit ihm ganz allein einen Nachmittag in Bergerinnerungen zu schwelgen. Der schönste Lohn des Bergsteigers, meint Simon, sei der Schatz der Erinnerungen. Von diesem Fundus zehrt er, als ihn die Gebresten in den letzten zehn Lebensjahren an Haus und Stuhl und schliesslich sogar ans Bett fesseln. Simon stirbt bald nach seinem 80. Geburtstag. Seine Frau Marguerite ist ihm im Tod vorausgegangen. Die Erben verkauften das Simongut 1950 an Eric von Schulthess, der im Schloss Au aufgewachsen ist und nun ein standesgemässes Domizil für seine Familie sucht.
 
Der neue Besitzer lässt den Gartenbereich auf der Seeseite (Ost) umgestalten. Der englische Garten vor der Freitreppe wird zugunsten der links- und rechtsseitigen Kanzeln zurückgebaut. Neben dem Gärtnerhaus entstehen Pferdestallungen, die nach dem Kauf durch den Kanton Zürich in ein Wohnhaus umgewandelt werden. Die Erstmieterin, Frau Ryffel, wohnt nun seit über 40 Jahren darin.
Die Familie von Schulthess wiederfährt das Unglück den Sohn im 28igsten Lebensjahr zu verlieren. 1972, nach dem Tod von Frau Leny, zieht Eric zurück ins väterliche Schlossgut an der Westseite der Halbinsel und verkauft das Simongut dem Kanton Zürich, mit der Auflage, dass dieses für Bildungszwecke genutzt werden müsse. 1989 geht auch das Schloss an den Kanton Zürich. 1992 wird dort der Betrieb als Lehrer-Fortbildungszentrum provisorisch initiiert. Seite 2002 ist die Pädagogische Hochschule im Schloss Au federführend.
Nach dem Umbau des Simongut werden ab 1977 lediglich Parterre und 1. Stock der Villa als Schulungsräume genutzt. Der oberste Stock (Dachgeschoss) ist an Dr. Sager, Direktor der Kreditanstalt und später an Dr. Grimm mit Familie vermietet. Letzter ist als Zahnarzt in Horgen tätig. Als dann der Kanton Zürich weitere Räumlichkeiten für die Kaderschulung benötigt, muss Grimm eine andere Bleibe suchen. Deren Wohnung wird dem Schulbetrieb sanft angepasst. Ersichtlich und unverändert sind immer noch die Bäder (samt Badewanne) sowie die Küche. Im linken, südlich ausgerichteten Gruppenraum, klebt nach wie vor die originale Reisstrohtapete.
1978 ist das Simongut ein abgeschotteter Park, unzugänglich für das Publikum. Die Eisentore bei den ehemaligen Stallungen und auf Höhe des Hinterausgangs der Villa, verhindern eine Umgehung. Auf Initiative der Stadt Wädenswil hin, wird die heutige Badewiese mit Grillplätzen Mitte der 80iger Jahre der Öffentlichkeit zugänglich gemacht, mit der Vorgabe allerdings, künftig für deren Unterhalt und Reinhaltung zu sorgen.
Villa und Park stehen unter Denkmalschutz. Das mannshohe Marmor-Cheminée, das in der Halle eingebaut ist, wurde erst anlässlich der Renovation eingefügt und stammt aus der ehemaligen Villa «Schönau» an der Zollikerstrasse in Zürich, als Ersatz für das vormalige, gusseiserne.




Christian Müller




Qullennachweis:

«Die Au, Gestern-Heute», Peter Ziegler
«Halbinsel Au – Ein Glücksfall», Albert Hauser
«Charles Simon, humaniste et réassureur», Aymon de Maestral
Zusammengestellt durch Christian Müller, Betriebsleiter Simongut.