Die Au in der Literatur

Quelle: Die Au gestern - heute, Publikation 1984 von Peter Ziegler

Die Lustfahrt mit dem Dichter Klopstock, 1750

Um die Mitte des 18. Jahrhunderts hatte die Aufklärung in Zürich ihren Höhepunkt erreicht. Gelehrte wie Johann Jakob Bodmer und Johann Jakob Breitinger bestimmten durch ihre kritischen Auffassungen von der Dichtkunst das zürcherische Geistesleben in grossem Masse. Auch in Deutschland setzte man sich mit den Werken des Zürcher Gelehrtenkreises auseinander. Der deutsche Dichter Friedrich Gottlieb Klopstock (1724−1803) weilte im Jahre 1750 mehrere Monate lang in Zürich.
Um Klopstock die Schönheiten des Zürichsees zu zeigen, wurde eine Gesellschaftsfahrt nach der Halbinsel Au veranstaltet, an der bedeutende Persönlichkeiten des literarischen und schöngeistigen Zürich teilnahmen. Auch fünf Frauen und vier Mädchen wohnten der Fahrt bei. Am 30. Juli 1750 morgens um fünf Uhr fuhr die 19 Personen zählende Gesellschaft auf einem grossen Ruderschiff von Zürich ab und erreichte nach dem Mittagessen in Meilen die Halbinsel Au. Einer der Reisenden, der Zürcher Stadtarzt Johann Caspar Hirzel, berichtet: «In diesem Augenblick kamen wir unvermutet bei der kleinen Halbinsel an. Wir fanden an dem Gestade eine anmutende Ebene, über welche kühlende Schatten von Eichbäumen schwärmten. Diesen Platz wählten wir zu unserem Speisesaal, wo wir uns eine Tafel mit Erfrischungen zurüsten liessen, die wir nach einem Spaziergang in den Eichwald geniessen wollten. Jeder teilte mit seinem Gefährten auf einem besonderen Spaziergang sein Vergnügen. Klopstock, von Freude belebt, hüpfte mit seinem Mädchen durch den Wald. Ich folgte ihnen eine Weile nach, aber die brennende Sonnenhitze gab mir ein Gefühl des höheren Alters …
23 Im Sommer 1900 feierte der Lesezirkel Hottingen die 150. Wiederkehr der berühmten Kahnfahrt des Dichters Klopstock auf die Au.
Man sammelte sich bei der frohen Tafel, zerstreute sich dann wieder und genoss Annehmlichkeiten dieses Ortes, bis verlängerte Schatten uns die Rückreise antreten liessen.»
Die Lustfahrt nach der Halbinsel Au blieb allen Teilnehmern in unauslöschlicher Erinnerung. Auch Klopstock war tief beeindruckt. Als Dank für das ihm bereitete Vergnügen schickte er seinen Zürcher Freunden von Winterthur aus seine später berühmt gewordene «Ode an den Zürichsee». Das Gedicht, welches auch den Aufenthalt auf der Au verherrlicht, wurde im August 1750 gedruckt und trug den Ruhm dieses kleinen Erdenfleckens in alle Welt hinaus.

«Der Schuss von der Kanzel»

Im «Zürcher Taschenbuch» auf das Jahr 1878 veröffentlichte der Dichter Conrad Ferdinand Meyer (1825−1898) die Novelle «Der Schuss von der Kanzel». Sie spielt im erfundenen Dorf Mythikon und auf der Halbinsel Au am Zürichsee und hat folgenden Inhalt:
An einem Oktobertag fährt der Pfarramtskandidat Pfannenstiel von Uetikon aus über den See, um den im entfernt verwandten General Johann Rudolf Werdmüller in seinem Haus auf der Halbinsel Au zu besuchen und sich ihm als Feldkaplan seiner venezianischen Kompanie anzubieten.
Wider Erwartens wird er von Werdmüller, der allgemein als Querkopf verschrien ist, freundlich aufgenommen, üppig bewirtet und nach angeregter Unterhaltung über Nacht als Gast festgehalten. Der schlaue Kriegsmann hat auch bald herausgefunden, dass der schüchterne und nicht sehr männliche Kandidat in die feine Rahel verliebt ist, die Tochter seines Vetters Wilpert Werdmüller, des Pfarrers von Mythikon, wo Pfannenstiel als Vikar gedient hat. Zufällig besucht Rahel den General am gleichen Abend und macht ihm Vorwürfe, weil er ihren jagd- und waffenbesessenen Vater wieder einmal verleitet habe, den ganzen Sonntag Nachmittag nach Enten zu schiessen. Schliesslich einigt man sich auf drei Wünsche, die der General seinem Patenkind gewährt. Rahel bittet ihn, den Vater von seiner ungeistlichen Jagdlust zu heilen, den Kandidaten zum Pfarrer von Mythikon zu machen und sie Pfannenstiel zur Frau zu geben.
Dafür hat sich Werdmüller einen Spass ausgedacht. Während Pfannenstiel sich von den Nachwirkungen eines gespenstischen Traums noch kaum erholt hat, wandert der General am frühen Sonntagmorgen nach Mythikon. Er zeigt dem Vetter, der eben zur Kirche eilt, ein kostbares Pistol von feinster venezianischer Arbeit, das er ihm schenken will. Leider spannt sich der Hahn so schwer. Der Pfarrer steckt es deshalb in die Rocktasche, ohne zu ahnen, dass der General es inzwischen mit einem gleichen, aber leicht gehenden vertauscht hat. Die Leidenschaft lässt dem Mann auf der Kanzel keine Ruhe: Während des Gemeindegesangs spielt er mit dem Terzerol, und als er mit seiner Predigt gerade zu den Worten «Lobet Gott mit grossem Schalle» gekommen ist, da kracht der Schuss von der Kanzel. Nur dem leutseligen Eingreifen des Generals hat es der Pfarrer Werdmüller zu danken, dass er seine «Sermon» zu Ende führen kann. Aber die Kirchenältesten unter der Führung Krachhalders sind sehr empört und fordern eine strenge Bestrafung dieser Kirchenschändung. Da ist es wieder der General, der durch Bekanntgabe seines Testaments alles zum Guten wendet: Die Gemeinde Mythikon erhält die in ihre Waldung eingekeilte Spitze seines Besitztums und schweigt dafür den Schuss für alle Zeiten tot. Der schiesslustige Pfarrer tritt zurück und übernimmt im Schloss Elgg die Verwaltung der Jagd- und Waffenkammer. Sein Nachfolger wird der Kandidat Pfannenstiel. Rahel bekommt 3000 Zürcher Gulden und wird Frau Pfarrer.
So wurde der Schuss von Mythikon aus der Welt geschafft. Der General aber zog schon am nächsten Tag ins Feld und kehrte nicht mehr zurück. In einem deutschen Städtchen «hauchte er um Mitternacht seine seltsame Seele aus». (Nach Wilhelm Olbricht, Der Romanführer, Bd. 2, Stuttgart 1960.)
Durch Conrad Ferdinand Meyers Novelle ist die einst dunkelbewaldete, eichenbestandene Halbinsel Au ein weiteres Mal in die deutschsprachige Literatur eingegangen.




Peter Ziegler