Das Seeried bei Naglikon

Quelle: Jahrbuch der Stadt Wädenswil 1978 von Walter Höhn-Ochsner
Das Seeried von Naglikon im Herbst. Blick gegen See und Auhügel.

Das Naglikoner Seeried grenzt im Süden an ein Strässchen, welches parallel der SBB-Linie Au − Horgen verläuft, im Norden an den Zürichsee, westwärts an die Gärtnerei von Herrn Hesse und im Osten an die Liegenschaft der Familie von Schulthess im Au-Gut stösst.
Das Ried ohne Schilfgürtel bedeckt ein Areal von rund 96 a, der seewärts gelegene Schilfgürtel nimmt eine Fläche von zirka 18 a ein.
Das genannte Gelände stellt das letzte noch gut erhaltene und von der menschlichen Kultur wenig beeinflusste Seeried des linken zürcherischen Seeufers dar.
Im Raume der alten Herrschaft Wädenswil sind seit den beiden Weltkriegen über 80 Prozent aller Moore durch Melioration, Strassenbauten, Deponien vernichtet worden. Im Gegensatz zu den vom Menschen kultivierten Bodenflächen stellen die noch vorhandenen Reste eine Art Urlandschaft dar, die seit Jahrtausenden noch ihr ursprüngliches vielfältiges Pflanzenkleid und eine ihr eigentümliche Tierwelt bewahrt hat.
Durch den Wechsel seiner Vegetation im Laufe des Jahres bringt dieses Seeried einen angenehmen Farbenwechsel in die gleichgeschaltete grüne Landschaft der Umgebung und ermöglicht vor allem, Einblicke zu gewinnen in eine ganz anders geartete Pflanzen- und Tierwelt und erhält dadurch neben den rein landschaftlichen Vorzügen einen hohen wissenschaftlichen Wert für Forschungszwecke.
Im noch braungefärbten Ried des Frühjahrs erfreut uns hier eine erste Moorflora durch das Hellgelb der Schlüsselblumen, durch die goldfarbigen Sträusse der Dotterblumen, das zarte Lila des Schaumkrautes und die Milchsterne der Frühlingsanemonen.
Die Entwicklung der typischen Riedflora beginnt erst im Frühsommer. Da zeigt sich dann, welch kostbare floristische Schätze das Naglikoner Ried in sich birgt. Zwischen den zahlreichen, für das Auge unscheinbaren Seggensprossen entfalten jetzt die durch ihre Farbenpracht und Grösse auffälligsten Sumpfgewächse ihre herrlichen Blüten. Weit über hundert blaue Schwertlilien leuchten uns entgegen, beinahe über die ganze Riedfläche verstreut. Ihre stolze Verwandte, die gelbe Schwertlilie, bildet an mehreren Stellen kleine und grössere Gruppen mit ihren hohen Säbeiblättern. Auf dünnen, schlanken Stielen hat der Wiesenknopf seine braunen Blütenähren emporgetragen. Der gelbblütige Moorhahnenfuss hat seine Blütensterne geöffnet. Der zweihäusige Baldrian entfaltet seine zarte rosafarbigen Scheindöldchen zwischen den Kleinseggen. Am Grunde der Riedgrasbüschel verborgen, sind die lilafarbigen Blütchen des Kreuzblümchens. Eben haben sich die rosafarbigen Schmetterlingsblüten der seltenen Sumpfblatterbse zu öffnen begonnen. Herrlich leuchten uns die purpurneu Blütenähren von Knabenkräutern entgegen, neben einzelnen grünblütigen Exemplaren des Zweiblattes.
Nähern wir uns seewärts dem Schilfgürtel, dann treten wir zuerst in eine schmale Zone von eigenartigen Riedgräsern. Ganze Bestände werden von der scharfblättrigen Grossegge aufgebaut.
Als grosse botanische Seltenheit entdecken wir hier die Buxbaum-Segge und unweit von diesem Standort die eigenartige Zitter-Segge, die hier ihren einzigen Standort innerhalb der ganzen Herrschaft Wädenswil besitzt. Dringen wir jetzt noch in den dichten, bis 30 m breiten Schilfgürtel ein, dann erleben wir hier das, was man als Kampf ums Licht bezeichnet. Nur zwei Gewächse vermögen hier in diesem dicht geschlossenen Röhricht noch ein Dasein zu fristen: die Winde und das Bittersüss, denn beide Gewächse vermögen sich aus dem fast lichtlosen Untergrund an den Schilfstengeln emporzuwinden.
Es ist Ende August. Das Antlitz unseres Moores hat sich wieder stark verändert, das Regiment des Spätsommers hat begonnen. Von der Frühsommerflora fallen jetzt nur noch die grossen Fruchtkapseln der Schwertlilien auf, die sich teilweise schon geöffnet haben und ihre Samen entlassen. Eindrucksvoll zeigt sich jetzt, wie das Schilf namentlich in den Randzonen die Vorherrschaft übernimmt. An der landseitigen Randzone des Uferschilfgürtels hat sich ein mastiges und dichtstengliges Gewächs emporgearbeitet und entfaltet seine rosafarbigen Blütenrispen. Es handelt sich hier um die Landform des sonst schwimmenden seltenen Wasserknöterichs.
Im Zentrum des Riedes haben sich nun zwei Pflanzengesellschaften zu ihrer vollen Reife entwickelt. Als dunkelgrüne Oasen heben sich die Kleinbinsengestände von der Umgebung ab. Hier begegnen wir drei seltenen Gewächsen, die aber für die unberührte alte Zürichsee-Riedflora ganz charakteristisch sind: der zu den Hahnenfussgewächsen gehörigen gelben Wiesenraute, der Rebendolde und dem kantigen Lauch. An etwas trockeneren Stellen hat das Besenried die Vorherrschaft übernommen mit einer Anzahl ganz charakteristischer Begleiter: dem zierlichen Lungen-Enzian, dem Teufelsabbiss, der zu den Körbchenblütlern gehörenden Scharte und dem Sumpfherzblatt, dessen zierliche weisse Blütensterne uns entgegenleuchten.
An vereinzelten Randgebieten des Moores mit besonders nährstoffreichem Grundwasser begegnen wir der Gesellschaft des Staudenriedes, das aus vorwiegend hochwüchsigen Kräutern zusammengesetzt ist: Sumpfspierstaude, Sumpfdistel, Sumpfpipau, Brustwurz, Sumpfsennwurz sowie Wasserminze, welch letztere stellenweise ganze Beete zu bilden vermag. Die ersten Herbstzeitlosen erinnern uns an den bald nahenden Herbst.
Herbstzeitlose im Ried von Naglikon.
In vereinzelten Torfgräben hat sich der Froschlöffel angesiedelt. Die Bodenschicht der meisten Pflanzengesellschaften wird von nassen Moosteppichen gebildet, die eine reiche mikroskopische Lebewelt beherbergen.
Das Naglikoner Moor beherbergt selbstverständlich auch eine besondere Tierwelt. Die Moospolster und dichten Seggenbestände stellen ganz allgemein schützende Wohnräume für einen Grossteil der hier wohnenden Kleintierwelt dar. Unter diesen gehören viele Arten zu ausgesprochenen Pflanzenfressern. Ganze Insektengruppen sind in ihrer Entwicklung an besondere Wirtspflanzen gebunden, so Schmetterlinge, Fliegen, Käfer, Zikaden. Im Schilfgürtel brüten Teich- und Drosselrohrsänger, Blesshuhn und Haubentaucher. Eine ganz besondere Rolle spielt die Schnecken- und Spinnenfauna dieses Riedes.
Einen besonderen landschaftlichen Reiz erlangt das Ried durch die zahlreichen Gehölzgruppen, gebildet von Ohr- und Bruchweiden, Schneeball, Birken und Pappeln.




Dr. h. c. Walter Höhn-Ochsner