Vom Leben in der Au

Quelle: Jahrbuch der Stadt Wädenswil 1983 von Brigitte Poltera
 
Der Sonntag vor Valtentin war‘s, ein sonniger Wintertag, als wir mit unseren Langlaufskiern die Au neu entdeckten.
Verschwenderisch grosszügig gab sich die Heimat: glitzernde Schneefelder schufen endlose Weite, übermütige Kindergruppen eroberten Schlittelhänge, buntverpackte Menschen wärmten Kopf und Herz auf dem weitläufigen Netz an Spazierwegen − die Au als Sonntagsland! Der Auhügel, besungen und sagenumwoben, hebt sich dem Rücken eines Dinosauriers gleich aus See und Riedland. Mit Rebbergen und Schifflände, Aussichtsrestaurant und Spielplatz, Museum und Kultur im Simongut bildet er einen geschätzten und gepflegten Markstein im Naherholungsgebiet Au.

Siedlungspolitik prägt

Wir aber ziehen unsere Spur quer über schneebedeckte Wiesen der Südgrenze entlang durch einen vielfältig genutzten Lebensraum: hinter Kläranlage, Gaskessel und Industriebetrieb hindurch, vorbei an den Häuschen und Gärten der Siedlungsgenossenschaften Im Gwad. Im Zopf schmiegen sich alte Gehöfte und eine Obstintensivkultur an den Hang, oben überrundet von der Siedlung pastellfarbener Wohnblöcke, die einen Gürtel von Überbauungen bis zum Steinacher-Schulhaus anführen. Wir nehmen den Wanderweg, vorbei an Schrebergärten und Robinsonspielplatz, über ein liebenswertes Holzbrücklein, im Appital zum in diesen Jahren nochmals für breitere Schichten möglich gewordenen Einfamilienhausquartier.
Der 1926 erstellte Gaskessel im Gwad, 1983.
Die 1968 eingeweihte Kläranlage in der Rietliau, 1983.

Hoch darüber thront neben dem Seewasserwerk gewaltig der Wabenpalast eines Grossbetriebes. Dahinter liegen noch unberührt die Landreserven der Pro Wädenswil, über deren Nutzung und Einzonung heute lebhaft diskutiert wird. Zwischen einigen älteren Einfamilienhäusern an schönster Aussichtslage tauchen die Laglerblöcke im Maiacher auf, die ersten Mehrfamilienhäuser der Au. Erst weiter unten, im heute vom Verkehr abgeschiedenen Steinacher, halten Landwirte noch Vieh im Stall.
Unsere Erfahrungen liessen sich wiederholen, vom Meilibachdörfli über das Seegut seeaufwärts, den Wohn- und Industriezonen der Seestrasse entlang: die Siedlungen widerspiegeln ihre Bauzeit und das sich rasch wandelnde Kulturverständnis, sie prägen unsere Landschaft unwiderruflich und schaffen die Lebensbedingungen für den Menschen.

Vorort Au

Die Au ist mehr als ein Quartier. Aus den besonders fruchtbaren Wiesen ist ein weitläufiger Vorort von Wädenswil mit 1870 Haushaltungen (rund 5000 Menschen) gewachsen − vor zehn Jahren wurden noch 1300, vor zwanzig Jahren erst 600 Haushaltungen gezählt.
Durch ihre noch überschaubare Grösse hat die Au die seit 1960 periodisch grossen Schübe von Neuzuzügern immer wieder verdaut und wächst mit ihren weit auseinanderliegenden Quartieren zusammen zu einer Wohn- und Schicksalsgemeinschaft − auch wenn ein eigentliches Zentrum fehlt und die Einkaufsmöglichkeiten in den letzten Jahren trotz Bevölkerungszuwachs abgenommen haben.
Das grosse Privileg der Au sind die eigene Schule, die Aufbauarbeit der Kirchen mit dem Kirchgemeindepavillon, die zwei Ärzte, der Quartierverein und eine Anzahl weiterer eigenständiger Ortsvereine. Post, Bahnhof und drei Lebensmittelläden gehören zur Infrastruktur. Zehn Industriebetriebe offerieren Arbeitsplätze, wobei zwei Grossbetriebe seinerzeit mit einem mehrheitlich auswärts wohnenden Mitarbeiterstab zugezogen sind. Noch halten sieben Landwirte zusammen 117 Stück Rindvieh. Kinderheim Grünau und ein privates Altersheim erweitern das soziale Umfeld. Strandbad Rietliau, Badewiese Naglikon und der Bootshafen Rietliau öffnen den Erholungsbereich zum See.

Neues auf Altem

Anfang Februar 1983 schaufelte ein Trax Erde auf die Grasnarbe der Apfelmatte und liess uns erschauern: nochmals Häuser statt Bäume? Umgebrochene Erde, Neues auf Altem − Symbol für die Neuzuzüger?
Voller Ideale und mit den Visionen der 60er Jahre waren wir 1970 zugezogen, und wir sahen im Neuland Au eine grosse Chance, Lebensgemeinschaft neu zu verwirklichen: Hilfsbereitschaft in den Quartieren, mehr Kreativität und Freiheit für unsere Kinder, Mitgestaltung von Lebensräumen und Ordnungen durch die Frauen als die Hauptbetroffenen, unter den Nachbarn gelebtes, überkonfessionelles Christentum.
Der einzelne und die Familien suchten nach ihrer Identität und nach Halt innerhalb der noch namen- und gesichtslosen Gruppe, und die Masse der Neuzuzüger nahm langsam Profil an. Wir freuten uns an jeder privaten Initiative und an noch so bescheidenen eigenen Strukturen. Unermüdlich bewarb sich eine Frau um Land und Schrebergärten, bis der Landwirt nach-gab. Aus einem privaten Blockflötenkurs für Kindergartenkinder wuchs eine Blockflötengruppe von Frauen in der Au. Der Wanderverein wurde gegründet. Im Kinderhütedienst im Kirchgemeindepavillon haben in über zehn Jahren mehr als 140 Frauen mitgehütet. In manchen Häusern und Quartieren wuchsen tragfähige Lebensgemeinschaften − andere wieder resignierten in ihrer Beziehungslosigkeit, an Kinderfeindlichkeit und Zank.
Ausserhalb der Häuser stiess der Wunsch nach Mitgestaltung und Mitverantwortung der Neuzuzüger bald an Grenzen, sie sollten sich bestehenden Plänen und Strukturen unterordnen Der Tatendrang der Kinder beunruhigte. So kam es gelegentlich zu Ausmarchungen mit lebhaften Diskussionen, vor allem im Quartierverein, der sich als Diskussionsforum und als Sprachrohr zur Behörde zur Verfügung stellte. 1974 wurde das Wädenswiler Gemeindeparlament neu konstituiert, in welchem heute neun von 45 Mitgliedern des Grossen Gemeinderates die Au vertreten. Persönliche Gespräche schlugen rasch Brücken zu den Alteingesessenen, etwa zu den warmherzigen Bauernfrauen, die Eier und Gemüse verkauften, und wir spürten rasch, dass wir letztlich im gleichen Boot sitzen.

Information und Verkehr

«Die Glut kommt von unten» lautet ein Sprichwort − und der Topf muss im rechten Verhältnis dazu stehen. Einer Stadt, die durch ihre Grösse unübersichtlich und unpersönlich zu werden droht, können lebendige, mitsprachefreudige Quartiere neue Lebenswerte schaffen. Liegt der Behörde an einer lebendigen Beziehung zum Vorort, so muss sie hellhörig werden für die echten Bedürfnisse und sollte im Grunde genommen einen Teil der Verantwortung für die Gestaltung der unmittelbaren Umgebung an die Quartiere abgeben. Wichtige Schritte aber sind auch die Förderung der Information und eine anwohnergerechte Regelung des Verkehrs. Anfang der 70er Jahre fehlten Telefonanschlüsse, die Post war überlastet, die Drucksachenverteilung zusammengebrochen. Der Quartierverein organisierte Informationsabende zu aktuellen Fragen, druckte ein eigenes Quartierblatt und verteilte es jahrelang durch eigene Verträger, die dafür mit einem traditionellen Spaghetti-Essen im Restaurant Meilibach entschädigt wurden. Der «Anzeiger vom Zürichsee» offerierte damals den Vorstandsmitgliedern des Quartiervereins ein Zeilengeld für Beiträge aus der Au und warb hin und wieder mit Gratisanzeigen. Die Kirchen veranstalteten Quartier- und Neuzuzüger-Abende. Nach und nach wurden die Anschlagkästen der Gemeinde von den Sennhütten verlegt an Bahnhof, Schulhaus und zu grösseren Bushaltestellen. Adressen, die man früher bei benachbarten Landwirten erfragt hatte, standen ab 1973 übersichtlich geordnet im Veranstaltungskalender, der durch seine Informationen die Beziehungen der Au zu Wädenswil stärkte.
Neue Quartiere an der Johannes-Hirt- und an der General-Werdmüller-Strasse in der Au, 1983.
Die Abend- und Sonntagskurse des Ortsautobusses, die seit dem Taktfahrplan neu verkehren, verbinden die Au mehr mit Wädenwil als es der Kostendeckungsgrad ausdrücken kann.
Kaum je versiegen werden die Diskussionen um Parkieren und Privatverkehr. Nach langwierigen Verhandlungen um den neuen Schiessplatz auf Beichlen im Zusammenhang mit Überschiessungsrechten in der Au konnte 1981 endlich die Etappe III der Steinacherstrasse gebaut werden. Einen wichtigen Beitrag zur Verkehrssanierung leistete die neue Bahnhofunterführung und in der Rietliau die Passerelle zum Strandbad. Hängige Postulate befassen sich heute vor allem mit der Verkehrssicherung in den Quartieren.
In aller Stille aber wird von den Behörden geduldig und zielbewusst verhandelt, um den Ausbau von Wanderwegen, die im letzten Jahr ergänzt worden sind um ein weiteres Stück Seeweg, verbunden mit einem einfachen Ausbau der Badewiese Naglikon und mit einem Picknick-Platz auf der Schellerwiese am See.
 

Von Schule und Kindern

Durch die Schule wachsen die Kinder zu einer Gemeinschaft zusammen und verwurzeln im Wohnort, und die Eltern werden miteinbezogen. In der Au bilden die Schulanlagen heute das einzige grosse öffentliche Zentrum, und die eigenen Schulen werden von den Bewohnern der Au sehr geschätzt. Die Schule war seit jeher der Stolz des Ortes, wurde sie doch von 1799 bis 1925, bis zur Schulkreiszusammenlegung von Dorf, Langrüti, Stocken und Ort, aus eigenen Schulsteuern finanziert.
Mit dem neuen, sich im Bau befindlichen Schulhaus im Steinacher, das der Primarschule Anfang 1984 zur Verfügung stehen wird, ist der lange Leidensweg der Raumplanung der Primarschule Au seit Ablehnung des Neubauprojektes 1976 abgeschlossen, und der Singsaal Ort wird nach über zwölf Jahren wieder frei.
Ab Frühjahr 1983 werden in der Au 21 Primar-, sechs Sekundar- und sechs Realschulklassen und eine Oberschule mit zwei Halbklassen geführt. Dazu gehören sechs Kindergärten und zwei Horte.
Bewundernd erinnern wir uns an das lustige Pausenplatzfest 1980 im Ort, das trotz dauernder Raumknappheit und Provisorien, trotz zu engem Lehrerzimmer und den heute sehr unterschiedlichen Erziehungsauffassungen unter Lehrern, in Gemeinschaftsarbeit mit fast allen Klassen zustande kam. Mit Märkten, Spielen, Attraktionen und Beiz wurde Geld verdient für eine phantasievollere Pausenplatzgestaltung, um die zu kleine Fläche zu überspielen und den Kindern zu einem vielfältigen körperlichen Betätigungs- und Erfahrungsfeld zu verhelfen. Aus dem Geld wurden ein Tischtennistisch, ein Holzspielhaus und zwei Goals für die Spielwiese angeschafft und ein kleines Biotop angelegt. Als Abschluss der Aktion im Sommer 1983 wurde ein grosses Klettergerüst aufgebaut. Lehrer und Abwart erlauben den Kindern eine grosszügige Benützung von Schulhausplatz und Spielwiese, und die Anlagen sind zu beliebten Freizeittreffpunkten geworden.
Die vielen Kinder der Au sind nicht nur der Primarschulpflege ein Begriff − sie überfluten Fussballclub, Ferienpassveranstaltungen und «de schnällscht Wädischwiler». Pfadfinder,
CVJM, Jungwacht und Blauring uni die Jugendriege des Turnvereins führen eigene Abteilungen in der Au. Die Pfadfinder hatten das Glück, im Sommer 1982 von der Pro Wädenswil das alte Haus Burkhardt auf der Langwis vorübergehend als Vereinshaus zu er halten.
Abenteuerlust, Entdeckerfreude und der Drang zu Geselligkeit sine normale Bedürfnisse der Kinder, die mit Fussball- und Robinsonspielplätzen etwas gesteuert werden können. Bei schlechtem Wetter und im Winter wünschten wir unseren Jugendlichen einfache überdachte Räume, damit sie sich im Schutze des eigenen Wohnquartiers treffen könnten.

Wo die Kultur wächst

Schulhäuser sind in Dörfern seit jeher Kulturzentren gewesen, auch in der Au, soweit es die Platzverhältnisse und die Belastung des Abwartes erlaubten. Im Ort unterrichtet die Musikschule, im Steinacher üben die Ortsvereine. Die Turnhallen sind belegt bis um 22 Uhr, und die Aussensportanlagen im Steinach er werden rege benützt. Im Singsaal Steinacher finden sich verschiedene Anlässe vom Schülertheater über das Jazzkonzert bis zum Vereinschränzli. Zur Diskussion steht eine Galerie in der Eingangshalle Steinacher. Mit der Anstellung eines Abendabwartes im Steinacher und den kleineren Räumen, die im neuen Schulhaus auch für Sitzungen zur Verfügung stehen, soll die Benützung der Schulräume durch die Öffentlichkeit in Zukunft noch erweitert werden.
Dem Kalenderjahr der Au setzen mehrere traditionelle Feste Lichter auf: die Erst-August-Feier auf der Langwies, der Räbeliechtli-Umzug, das Au-Fäscht, verschiedene Unterhaltungsabende der Vereine und der ökumenische Gottesdienst im September.
Über die Gemeindegrenzen hinaus interessieren die ausgezeichneten Konzertabende, welche das Au-Studio der Finanzdirektion des Kantons Zürich im Schulungszentrum Vordere Au veranstaltet, im gediegenen Rahmen des vormaligen Simongutes.
1911 setzte sich das Au-Konsortium für den Schutz der Halbinsel Au ein. Diese bildet heute eine wertvolle, meist öffentlich zugängliche Grünzone in der sonst stark überbauten Au.

Zehn Jahre Kirchgemeindepavillon

Ein strahlender Spätsommertag, Blumen am Schulhauseingang und das Spiel des Posaunenchors schaffen die festliche Stimmung zum ökumenischen Gottesdienst, der im September auf dem Schulhausplatz Steinacher stattfindet. Ist die Tradition dieses Gottesdienstes darum so beliebt, weil jeder dazugehört und jeder Platz findet? Die Begrüssung von Nachbarn und Bekannten will jeweils kein Ende nehmen, derweil die Kinder bereits lautlos zu ihren Schulkollegen geschlüpft sind. Die Pfarrer, Hans Baumann und Peter Weiss, widmen ihre gemeinsame Predigt meist einem Thema zu mitmenschlichen Beziehungen, im 1982 dem Wagnis der Liebe, und es schien an diesem Tag nicht schwer, Herzlichkeit zu pflegen. Sozusagen beiläufig wurde an das Jubiläum «zehn Jahre Kirchgemeindepavillon» erinnert.
Dieser Kirchgemeindepavillon! Seit Esau und Jakobs Zeiten scheinen gute Wege mühsam und mit Enttäuschungen gepflastert zu sein: der Pavillon wurde, nach Ablehnung des ökumenischen Zentrums in der Au mit der Abstimmung von 1970, von den Reformierten gebaut. Die Katholiken hatten ihrer Kirche damals zugestimmt, konnten die Vorlage damit jedoch nicht mehr retten. Der bescheidene Holzpavillon, 1978 mit einem Glockenträger ergänzt, wurde in den zehn Jahren von beiden Konfessionen brüderlich benutzt. In der Au ist durch diesen einfachen Raum, gebaut in einer Zeit grosser Raumknappheit mit überfüllten Schulhäusern, eine wertvolle Gemeinschaft gewachsen. In diesem Gebäude haben ausser den kirchlichen Gruppen der monatliche Frauentreff und die Mütterberatung mit periodischen Diskussionsabenden Platz gefunden, und der Kinderhütedienst, der in diesem Jahr aufgelöst wird.
Die Kirchen bieten den Bewohnern in der Au seit vielen Jahren ein Stück Geborgenheit in einer Gemeinschaft an, durch die sonntäglichen Gottesdienste, in den Jugendgruppen, im Missionsverein und im Hausbibelkreis.
Neben den ersten Quartierabenden und Neuzuzüger-Abenden, in welchen noch Karl Zollinger sen. und Lehrer Albert Schoch von alten Zeiten berichteten, haben uns die Gesprächsabende 1973/74 mit Alfred A. Häsler, Prof. Kummer und Kurt Gloor bis in die heutig Zeit zum Denken angeregt.
Glockenturm, eingeweiht 1978, beim Kirchenpavillon Au.

Im Wintersemester lädt die ökumenische Frauengruppe ein zu Vorträgen über aktuelle Lebensfragen oder zu unkonventionellen Unterhaltungsabenden, wie etwa mit der sagenhaften «Wundertüte», wo Frauen ihre eigenen vorweihnächtlichen Rezepte und Ideen humorvoll weitergeben. Seit 1978 bietet der Frauentreff einmal im Monat tagsüber Gelegenheit zu Erfahrungsaustausch und Diskussion über einen weitgesteckten Themenkreis. In beiden Gruppen werden die Programme mit den sehr unterschiedlichen Anlässen von den Frauen in einem wertvollen Meinungsbildungsprozess ausgehandeIt. Die Gratwanderung zwischen ehrlich, manchmal unerbittlich hart vertretenem Standpunkt und der Achtung vor der Meinungsvielfalt der Gruppe schafft dauerhafte Beziehungen.
 

Vom Glücklichsein

Wer sein Leben gestalten und Beziehungen knüpfen kann und unter friedlichen Nachbarn lebt, findet in der Au einen dankbaren Wohn- und Lebensbereich. Hilfsbereitschaft, Einkaufsgruppen mit gemeinsamen Autofahrten und andere tragfähige Gemeinschaften bereichern das Zusammenleben in den Quartieren.
Schwieriger wird das Leben für Alleinstehende und Einsame, zu welchen tagsüber viele Frauen gehören, die unter räumlicher Enge leiden, sich langweilen oder sich durch Nachbarn bedrängt fühlen − sie brauchen Verständnis, Zuneigung und Hilfe von aussen. Gesprächspartner sind oft schwer zu finden, weil Strassen und Selbstbedienungsläden nicht zum Bleiben einladen und öffentliche Lokale fehlen, die ein unverbindliches Zusammensein im Quartier ermöglichen.
Als Ergänzung zu den kleinen Wohnungen werden wir immer Räume brauchen, wo wir zusammensitzen und gemeinsam etwas tun können, auch unsere Jugendlichen. Wir sind dankbar für alle, die Gemeinschaftsanlässe, Kurse oder Vorträge anbieten, damit wir miteinander über Probleme nachdenken oder auch einfach zusammen schwatzen können.
Wer in der Au wohnt, kann nicht damit rechnen, dass alles beim Alten bleibt − neben der Verunsicherung wächst Faszination und Herausforderung. Mehr als das Wachstum durch Neuzuzüger verunsichert uns unsere Abhängigkeit von nicht wieder korrigierbaren finanzpolitischen Entscheiden, die Lebensraum lieblos verplanen und sterile Ordnungen über schöpferisches Gestalten stellen könnten.
Vielleicht lieben wir gerade darum all jene besonders, die es sich noch leisten können, als Individualisten zu leben: die verschiedenen privaten Tierhalter, die in offenen Gehegen noch Truten, Gänse und Hängebauchschweinchen pflegen; Martin Wunderli, der durch sein Anderssein unser Denken und unsere Verkehrssorgen relativiert, wenn er mit seiner liebevoll mit Rückspiegel und Nummer versehenen Schubkarre durch die Strassen zieht − den Schiffsbauer und seine Frau, die nach vierjähriger Arbeit auf der Langwis im April zur Weltreise ausgelaufen sind − oder Hans Hesse mit seinen Spankörbchen vor der Gärtnerei, die man nie ohne Blumen und nie ohne warmherzige Worte verlässt. Hier wird man zu den Einheimischen gezählt. Wir haben es erfahren; es war am Samstag vor Valentin.



Brigitte Poltera