Chilbi einst und jetzt

Quelle: Jahrbuch der Stadt Wädenswil 1976 von Bruno Rüttimann
 
D’Chilbi isch au nümme, was sie emal gsi isch . . . Der alte Mann, der diese Worte zu sich selbst spricht, blickt mit leiser Wehmut über den Rummelplatz. Er versteht die moderne Neonwelt, die elektronischen Apparate und die hämmernde Musik nicht mehr – die Zeit hat ihn überrannt, und die gute, alte Chilbi hat dabei Schritt gehalten.
Wo einst knarrende Leder-Transmissionen das Karussell in Gang brachten, stehen heute schallgedämpfte Elektromotoren mit immensen Kräften. Wo einst Blasebalg und Lochkarte den Orgelpfeifen einen Marsch oder eine lüpfige Polka entlocken konnten, spielt heute ein Super-Hi-Fi-Stereo-Sound-Track popige Musik aus der Hitparade in Lautstärken, die weit über der Schmerzwelle liegen. Wo einst Menschenkraft mühsame Arbeite verrichtete, heben heute pneumatisch-hydraulische Anlagen unzählige Tonnen mit Leichtigkeit in die Höhe. Wo einem einst das Glasauge des dutzendfach übermalten, hölzernen Rösslis anglotzte, blitzen heute im Wechsellicht von elektrischen Lampen polierter Chrom und flitternde Hochglanzlacke. Was einst gemütlich und gemächlich im Kreise sich drehte, wirbelt heute in horrenden Tempi und stets wechselnden Neigungswinkeln herum. Wo einst das Liebespaar sich küsste und die Kleinen freudig lächelten, klammern sich heute Menschen verzweifelt an Haltegriffen, kämpfen Kinder schreiend gegen das Übelwerden.
 «. . . nüt meh Gmüetlis; nu na Rummel und en chaibe Lärme» fügt der alte Mann mit resigniertem Unterton bei und verlässt kopfschüttelnd die Stätte seiner verloren geglaubten Romantik. Doch, ist sie den wirklich verloren? Vermögen denn nur noch Leierkastenklänge und Kitschbildli, artige Mädchen mit Schleckstengeln und weissen Spitzenröckchen, stämmige Chilbimannen mit schief aufgesetzten Bérets und Schiessbudendamen mit knallroten Kussmündchen und überbetontem Wangen-Rouge des Menschen Sentiment zu rühren? Muss auf allem und jedem die vielgepriesene und jahrealte Patina den einstigen Glanz dämpfen, damit süsse Gefühle unser Blut etwas in Wallung bringen? Braucht es immer einen Schuss zwanziger oder dreissiger Jahre, ein wenig naiv anmutende Rückständigkeit und zu belächelnde Unvollkommenheit, dass unser Herz seinen Rhythmus etwas erhöht und uns mit wohliger Wehmut erfüllt?

Zauber der Zentrifugalkraft: Menschen.

Auch die nervöse, hektische Unordnung der Chilbi in der heutigen Zeit, das verwirrende, bunte Kunterbunt und die schreiende Vielfalt der elektronisch erzeugten Musik, das Wechselspiel von sich kontrastierenden Magenbrotdüften und schnaubender Pneumatik, von grellen Stroboskopblitzen und kreischenden Mädchen, von lässig auf- und abspringenden Chilbimannen und dumpf knallenden Präzisionswaffen, von rülpsenden Bierleichen und lieben Göttis mit lieben Enkeln an der Hand, von aggressiven Schussfahrten ohne Ziel und und und . . ., all dies ist willkommene, ja notwendige Bereicherung unseres meist zu stereotypen Lebensablaufes. Diese schrecklich-faszinierende Mischung von nüchternem Maschinenpark und traumhafter Märchenwelt, von Disney-Land und elektronischem Paradies, dieses unkontrollierte Wirrwarr von asynchron brüllenden Lautsprechern und nicht abgestimmten Farbskalen bietet die unerlässliche Abwechslung, die sinnvolle Ergänzung unserer einseitigen Kost.
Und auch in dieser chaotischen, verrückten Welt ist genügend Platz für ein bisschen Fröhlichkeit, ein wenig Herzlichkeit, eine Prise Übermut und ein kleines, kleines Stückchen Romantik.




Bruno Rüttimann